Die Torwartkette 2.0 – ND
Vor fast 11 Jahren wurde der erste Artikel über die Torwartkette von RM hier veröffentlicht. Seitdem hat sich einiges getan: Von einer neuen Abstoßregelung bis hin zur Rückkehr des Liberos, den ersten hohen Torwartketten im Profifußball und dem Einfluss eines heutigen Trainers der 2. Bundesliga. Dies und einiges mehr, wie andribbelnde Torhüter und die Trainingsformen, mit denen man die Torwartkette üben kann, werden in diesem Artikel thematisiert.
Der eben erwähnte Artikel legt auch die Grundlagen für diese Artikel, die meisten Punkte bleiben weiterhin relevant. Die Vorteile der Torwartkette sind klar erkennbar: Solange der gegnerische Torwart sich nicht aktiv am Pressing beteiligt, spielt die Mannschaft in einem 11-gegen-10, wodurch immer irgendwo auf dem Feld eine Überzahlsituation bzw. ein freier Mann entsteht. Grundsätzlich lässt sich die Torwartkette noch genauer unterteilen, und zwar anhand der Höhe des Torhüters:
Die neue Abstoßregelung als Katalysator
Seit der Saison 19/20 dürfen sich Spieler beim eigenen Abschlag im Strafraum befinden. Diese Änderung sorgt für deutlich mehr Torwarteinbindung im Spielaufbau und dafür, dass heutzutage kaum eine Mannschaft in dieser Situation auf eine Torwartkette verzichtet – im Gegensatz zu früher. Seit dieser Regeländerung werden die meisten Abschläge kurz ausgeführt. Heutzutage folgt der Großteil der Abstöße einem ähnlichen Muster: Der Torwart steht in der Mitte der Fünfmeterlinie, und zwei Innenverteidiger positionieren sich an den jeweiligen Strafraumkanten. Zu Beginn der Regeländerung wurden die Abstöße häufig vom Torwart direkt auf einen der beiden Innenverteidiger ausgeführt.
Doch diese Dynamik hat sich inzwischen dahin verschoben, dass einer der Innenverteidiger den Pass auf den Torwart spielt. Dies bringt Vorteile gegen das gegnerische Pressing, da bei der ersten Variante die angespielte Seite sofort erkennbar ist und somit leicht zugestellt werden kann. Sollten die Pässe zugestellt sein und ein Spieler sofort Druck auf den Torwart ausüben, muss der Ball meist lang geschlagen werden.
Spielt jedoch ein Innenverteidiger den Ball in die Mitte zum Torwart, hat dieser mehr Optionen bei einem sofortigen gegnerischen Pressing. Die Richtung der Folgeaktion ist nicht vorgegeben, und wenn die Gegner in Unterzahl pressen, hat der ballführende Torwart mehr Möglichkeiten, das Spiel fortzusetzen. Ter Stegen sagte darüber, als Barcelona unter Setién die Abschläge über die Innenverteidiger ausführte: „Manchmal führen unsere Innenverteidiger die Abstöße aus, um den Gegnerdruck nach dem ersten Pass zu vermeiden. Wir suchen immer nach neuen Ideen, die uns stärker machen und die es dem Gegner komplizierter machen.“ (Quelle: [DFB Akademie](https://www.dfb-akademie.de/die-neue-abstossregel-was-hat-sie-gebracht/-/id-11009171/)).
Bei einigen Mannschaften sind genau solche Aktionen gewollt, z. B. bei St. Pauli (unter Hürzeler), Brighton (unter De Zerbi) und Stuttgart. Wird beispielsweise von der rechten Seite gepresst, so kann der Torwart versuchen, über den Dritten auf den offenen rechten Innenverteidiger zu spielen, der dann aufdrehen kann. Dieser Trick kann jedoch ausgehebelt werden, indem die Spieler, die mannorientiert auf dem Sechser stehen und gut auf das Ablagespiel vorbereitet sind. Dies ist jedoch nicht so einfach, da die Ablagen bei den erwähnten Mannschaften immer gut initiiert sind (dynamisches Abkippen, richtige Passgeschwindigkeit und -gewichtung) und in den richtigen Fuß gespielt werden. Eine einfachere Methode zur Neutralisierung dieses Stilmittels ist es jedoch, nicht zu pressen und die Sechser durch den Deckungsschatten zuzustellen. Sollte dies geschehen, bietet die Torwartkette die Möglichkeit, zu dritt nach vorne zu schieben, wodurch es immer irgendwo auf dem Feld eine Überzahlsituation gibt – entweder in der letzten Linie oder, meistens, in der ersten Aufbaulinie.
Die tiefe Torwartkette
Die wohl gängigste Form der Torwartkette im (heutigen) Profifußball ist die tiefe Torwartkette. Während zur Zeit des ursprünglichen Artikels (tiefe) Torwartketten eine Seltenheit waren, hat sich dies mittlerweile umgekehrt – nahezu jede Mannschaft nutzt die Torwartkette im eigenen Strafraum. Der Grund dafür ist, dass die Vorteile die Risiken deutlich überwiegen: Der zusätzliche Aufbauspieler hat enorme Vorteile im eigenen Kombinationsspiel, und es wird schwieriger, die Mannschaft zu pressen.
In dieser Szene recycelt Barcelona den Ballbesitz und spielt von der Mittellinie über mehrere Stationen zurück, wodurch diese Anordnung der beiden Mannschaften entsteht. Durch die Mannorientierung von Atlético entsteht ein großer Freiraum für den Zehner, und aufgrund ihres Prinzips, das Zentrum, wenn möglich nicht allein zu verteidigen, steht auch der rechte Flügelspieler frei. Ter Stegen spielt Fermin scharf vertikal an, der jedoch durch schlechte Ballkontakte vier Berührungen benötigt, um dynamisch aufzudrehen. Dies, sowie das schnelle Nachsetzen von Atlético, führt dazu, dass diese sehr gute Situation im Sande verläuft. Selbst auf der Taktiktafel hätte man sich kaum eine bessere Situation vorstellen können: Ein komplett freier Spieler, den der Torwart mit einem direkten Pass anspielen kann, wodurch er selbst zum Nutznießer des Raums wird, den er durch seine Einbindung geöffnet hat.
Die mittlere Torwartkette
Auch die mittlere Torwartkette wird immer populärer. Unter anderem konnte man sie in der Vorbereitung des FC Bayern sehen, aber auch andere Topmannschaften wie Arsenal, Manchester City und einige mehr nutzen sie, um gegen Mannschaften, die nicht sofort hoch pressen, die Vorteile des elften Feldspielers besser ausspielen zu können.
In dieser Situation verteidigt Schalke in den ersten beiden Linien mannorientiert, während in den letzten beiden Linien (Viererkette + 6er) raumorientiert verteidigt wird. Durch die Einbindung des Torwarts in das Spielgeschehen wird es möglich, einen Raum anzuspielen, der ohne die Nutzung des elften Feldspielers aufgrund der starken Mannorientierung in der ersten und zweiten Aufbaulinie und des damit verbundenen gegnerischen Drucks nur schwer zu bespielen wäre. Diese Szene zeigt, dass häufig neben den direkt anspielbaren freien Spielern, wie im Fall von Fermin bei Ter Stegen, auch Überzahlsituationen in Bereichen entstehen, die oft nur durch einen langen Ball in die Zielregion angespielt werden können. Durch die Überzahl hat man jedoch gute Chancen, sowohl den ersten als auch den zweiten Ball zu gewinnen. Die meisten Torhüter würden in dieser Situation ebenfalls einen solchen langen Ball in diesen Bereich spielen, doch nicht Dominik Reimann. Er spielt stattdessen einen herausragenden flachen Pass durch die Schnittstelle auf den freien Spieler.
Christian Titz‘ Heritage
Nach einer desolaten 0:6-Niederlage des HSV gegen den FC Bayern war für Trainer Bernd Hollerbach nach nur sieben Spielen und drei Punkten Schluss. Der Hamburger SV stand nach 26 Spieltagen mit lediglich 18 Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz und hatte bereits sieben Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz. Der U21-Trainer des HSV, Christian Titz, übernahm das Amt – ein weitgehend unbekannter Name und für viele ein Himmelfahrtskommando im Abstiegskampf, da er zuvor maximal in der Regionalliga tätig war. (Fun Fact: Bei meinem ersten Stadionbesuch stand der eben genannte Christian Titz für den FC 08 Homburg an der Seitenlinie und begeisterte mein kindliches Ich mit offensivem Kurzpassfußball.)
Doch was in den folgenden Wochen zu sehen war, schürte nicht nur die Hoffnung der HSV-Fans auf den Klassenerhalt, sondern stellte auch ein Novum im Profifußball dar: die erste hohe Torwartkette. Titz setzte auf einen radikalen Umbruch in der Spielphilosophie und im Kader. Er ließ proaktiven Fußball spielen und setzte einige Stammspieler auf die Bank, darunter auch Christian Mathenia, der durch den jungen Julian Pollersbeck ersetzt wurde. Was folgte, waren Wochen des sportlichen Erfolgs und der Hoffnung. Der HSV besiegte den späteren Vizemeister und sammelte 13 Punkte in den letzten acht Spielen. Letztendlich reichte dieser Schlussspurt zwar nicht für den Klassenerhalt, doch das Team zeigte der Welt, wie effektiv eine hohe Torwartkette sein kann.
In dieser Szene verteidigt der SCF im 4-1-4-1, Pollersbeck agiert als zentraler Part, der hohen 3er Torwartkette nur wenige Meter hinter dem Mittelkreis. Er erhält den Ball vom LIV spielt auf den 6er, der den Ball mit einem Kontakt zur Seite legt und direkt im nächsten Moment Hunt anspielt. So benötigte der HSV lediglich drei Ballkontakte und zwei Pässe, um die ersten beiden Pressinglinien der Freiburger sowie fünf Spieler zu überwinden.
Letztendlich spielt Hunt einen Pass in die Tiefe zu Holtby, der zum 1:0 trifft. Diese Situation verdeutlicht die Effektivität der Torwartkette: Es ist nicht allein der Torhüter, der mehrere Linien überspielen muss, um den freien Mann zu finden, wie im Beispiel von Ter Stegen. Vielmehr können die durch den Torhüter entstehenden freien Räume über mehrere Stationen hinweg bespielt werden
Jedoch haben einige Mannschaften gezeigt, wie man die hohe Positionierung der Torwartkette beim HSV kontern kann. Ausgangssituation: Keeper Pollersbeck kann ungestört von der Strafraumgrenze ins zweite Drittel vordringen, während Gladbach mannorientiert verteidigt und den Sechser durch den Deckungsschatten des Zehners zustellt.
Nach einem kurzen Stopp von Pollersbeck läuft der Zehner mit Deckungsschatten auf Steinmann an, der zwar völlig offen steht, aber nicht direkt anspielbar ist.
Während dieser Anlaufbewegung weicht Steinmann zwar nach links aus, bleibt jedoch im Deckungsschatten, sodass Pollersbeck den Ball lang auf den rechten Flügel schlägt. Dort gewinnen die Gladbacher jedoch das Duell um den zweiten Ball.
Diese Szene verdeutlicht, wie man die Torwartkette durch ein passives Verteidigungsverhalten und das Zustellen der zentralen Progressionsspieler, in diesem Fall des 6ers, kontern kann. Gleichzeitig zeigt sie, dass ein Anlaufen des Torhüters Räume öffnet, die von einem Spieler genutzt werden können, der zwar nicht immer direkt, aber beispielsweise über den dritten Mann oder durch einen langen Ball in eine Zone, in der man in Überzahl ist, anspielbar wird. In der gezeigten Situation wäre ein dynamisches Abkippen des 8ers (Holtby) mit anschließender Ablage in den freien Raum eine Möglichkeit gewesen.
Allerdings erfordert dieses Ablagenspiel präzise Pässe, das richtige Verhalten der beteiligten Spieler und viel Trainingsarbeit, um effektiv genutzt werden zu können
Die maximale Torwartkette
Bei dieser Form agiert der Torwart wie ein vollwertiger 11er Feldspieler im eigenen Ballbesitz:
Die Nutzung dieser Form als „Dauerzustand“ der Torwartkette ist auch in naher Zukunft nahezu auszuschließen, da hier ohne die perfekte Ausführung die Risken die Vorteile, die eine Mannschaft durch die Verwendung erlangt deutlich überwiegt, doch trotzdem wird diese Form in meinen Augen zu selten verwendet. Dies klingt zunächst nach einem Paradoxon, doch vorallem in den letzten Minuten in einem KO-Spiel, bei einem Rückstand von einem Tor, wäre eine maximale Torwartkette ein interessantes Stilmittel. Den häufig wird in solchen Situationen kaum noch aktiv gepresst, und selbst wenn von maximal einem bis zwei Spielern. Durch den Keeper als vollwertigen 11ten Feldspieler, könnte sich die angreifende Mannschaft Vorteil schaffen, sei es als weitere IV, wenn man den letzten strukturierten Angriff spielen möchte oder wenn nur noch lange Bälle in den Strafraum bzw dessen Richtung geschlagen werden hätte man Überzahlvorteile. Klar birgt diese Verwendung auch eine hohe Gefahr für Gegentore nach Ballverlusten, jedoch ist diese Gefahr nicht merklich größer, als wenn der Torwart bei ein Standart mit nach vorne geht.
Andribbelnde Torhüter
In den letzten Jahren haben sich Finten im eigenen Strafraum zum Repertoire vieler Torhüter entwickelt, um pressende Gegenspieler ins Leere laufen zu lassen. Bei einer guten Einbindung des Torwarts wird häufig nur sehr bedacht gepresst, um zu verhindern, dass der freiwerdende Spieler anspielbar ist oder das Anspiel ein hohes Risiko birgt. Ein häufig gewähltes Mittel gegen passiv pressende Mannschaften ist das Andribbeln (meist von IVs), um nicht durch lange, horizontale Ballzirkulationen, die keinen Raumgewinn bringen, in offensichtliche Pressingfallen zu spielen.
Folglich ist die Entwicklung hin zu andribbelnden Torhütern nicht auszuschließen. In der Vergangenheit gab es bereits einige Ausnahmen, bei denen Torhüter ins Dribbling gingen, wie zum Beispiel Fabien Barthez oder René Higuita. Auch heute gibt es einige Torhüter, die häufig andribbeln und damit die Effektivität unter Beweis stellen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl André Onana.
In dieser Situation erkennt Onana die Passivität von City im Pressing und den freien Raum zwischen dem Stürmer und den Flügelspielern und dribbelt in den freien Raum hinein.
Durch sein dynamisches Andribbeln überwindet er die erste Pressinglinie und hat nun den Winkel, um den Ball in den Zwischenlinienraum zu Martínez zu spielen. Die Szene endet damit, dass Martínez auf Lukaku spielt, der aus etwa 14 Metern zum Abschluss kommt, den Ederson jedoch parieren kann.
Etwa vierzig Minuten zuvor ereignete sich diese Szene:
City baut im 1-3-Raute-3 auf, während Inter recht mannorientiert verteidigt. Die äußeren Innenverteidiger stehen zwar in letzter Linie ohne Gegenspieler, rücken bei Bedarf jedoch sofort auf die Halbraum-Achter von City heraus, doch Inter presst Ederson nicht.
Prinzipiell hat Ederson aufgrund seiner Körperposition und des daraus resultierenden Passwinkels diese Passmöglichkeiten, doch keine davon ist vielversprechend: Pässe auf Dias (ZIV) und Aké (LIV) lösen das Pressing von Inter aus, und der lange Ball in Richtung des linken zentralen Mittelfeldspielers (LZM) und des linken Flügelspielers (LW) ist ebenfalls eine schlechte Option, da die Staffelung für das Gegenpressing auf den zweiten Ball nicht optimal ist.
In einer solchen Situation wäre ein Andribbeln vom Torwart sinnvoll. Ein optimales Andribbeln ist in Richtung einer Schnittstelle bzw. in sie hinein. Ederson könnte in dieser Szene leicht diagonal zwischen Dias und Ake eindribbeln.
Dabei gibt es jedoch einige Punkte zu beachten:
Vor dem Andribbeln sollte er tief diagonal blicken und dann einen sauberen Kontakt diagonal nach vorne setzen. Gleichzeitig muss er das Verhalten der beiden Spieler, die die Schnittstelle bilden, genau beobachten: Wie reagieren sie? Besonders wichtig ist es, das Verhalten des nächsten Gegenspielers im Auge zu behalten: Läuft er an? Wenn ja, wie? Auch das Anbieten einer sicheren Rückpassoption ist essenziell. Das Andribbeln des Torwarts hat zwei Effekte: Entweder löst der Gegner das Pressing aus, oder der Torwart schafft durch kluges Andribbeln bessere Passoptionen. Häufig wird das Pressing in solchen ungewöhlichen Situationen nicht perfekt initiiert, wodurch sich Räume und Lücken auftun können.
Je nachdem, ob und wer das Pressing auslöst, ergeben sich unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten. Sollte beispielsweise Barella anlaufen, wird er versuchen, Aké oder Gündogan mit seinem Deckungsschatten herauszunehmen.
Läuft er mit Deckungsschatten auf Gündogan an, wäre Aké frei, könnte aufdrehen und je nach Verhalten von Darmian, der sehr mannorientiert auf Gündogan verteidigt, agieren. Wenn Darmian herausrückt, könnte Grealish diagonal tief einlaufen und von Aké angespielt werden. Bleibt Darmian jedoch passiv, wäre Gündogan völlig frei im Raum und könnte das Spiel nach Belieben gestalten.
Selbst wenn Inter weiter passiv bleibt, hätte Ederson nach dem Andribbeln bessere und mehr Passoptionen als zuvor, und City hätte eine bessere Ausgangslage für einen kontrollierten tiefen Spielaufbau. Diese Rolle ist jedoch technisch äußerst anspruchsvoll, sodass nicht jeder Spieler sie sinnvoll ausfüllen kann. Zudem erfordert sie viel Trainingsarbeit, damit sich die Spieler in der Umgebung richtig verhalten. Wenn diese Voraussetzungen jedoch gegeben sind, kann dieser Aspekt sehr interessant und effektiv sein.
The Return of the Libero
Fußballtaktiken sind oft zyklisch. Ein Beispiel ist die WM-Formation, die bereits vor 99 Jahren aufkam, lange in Vergessenheit geriet und von Guardiola wiederentdeckt wurde, sodass sie nun von vielen Teams praktiziert wird. Dasselbe gilt für den inversen Außenverteidiger, den Paul Breitner schon vor 50 Jahren spielte und der heute in vielen Systemen eine Schlüsselrolle einnimmt. Meist kehren diese Trends nicht in ihrer ursprünglichen Form zurück, doch die grundlegende Idee bleibt ähnlich. So gestaltet sich auch die Rückkehr des Liberos: Der moderne Libero agiert zwar nicht mehr hinter den Manndeckern, sondern bildet gegen den Ball eine Kette mit den anderen Verteidigern, doch die grundlegenden Charakteristika im Offensivspiel bleiben gleich. Wie schon früher „ (…) schaltet sich der Libero oft ins Angriffsspiel seiner Mannschaft ein und überbrückt eine große Menge an Raum, um sich im Mittelfeld als Anspielstation anzubieten oder gar selbst an vorderster Front zum Abschluss zu kommen“ (Libero). Dieses Konzept findet sich auch beim modernen Libero wieder, dessen Wiederaufkommen teilweise der Torwartkette zu verdanken ist.
Diese Entwicklung ist durchaus logisch: Sollte eine Mannschaft gegen den Ball mit drei Innenverteidigern agieren, muss Platz für den aufrückenden Torwart geschaffen werden. Bei einem Dreieraufbau in der ersten Linie rückt meist der zentrale Innenverteidiger in Libero-Manier ins Mittelfeld, um dem Torwart die zentrale Position zu überlassen.
Auch zur Herstellung eines Viereraufbaus kann der Libero verwendet werden:
Ein Trainer, der diese Spielerrolle nutzt, ist Fabian Hürzeler. In der letzten Saison wurde diese Rolle von Eric Smith beim FC St. Pauli gespielt, und er war in dieser Position einer der Schlüsselspieler für den Erfolg der Kiezkicker. Durch seine sehr guten Fähigkeiten am Ball konnte er das Spiel der Paulianer entscheidend prägen und dominieren.
Torwartkette trainieren
Tiefer Spielaufbau vom Abstoß an
In dieser Trainingsform wird der tiefe Spielaufbau ausgehend vom Abstoß trainiert. Man startet mit der gewünschten tiefen Aufbaustruktur. In diesem Beispiel wird ein Aufbau mit 5 Aufbauspieler plus Torwart gegen 5 Pressingspieler verwendet. Es empfiehlt sich jedoch, vor allem zu Beginn der Übung, mit einer Überzahl an Aufbauspielern zu arbeiten. Mit fortschreitendem Übungsfortschritt kann man dann zur Gleichzahl übergehen und zusätzlich einen Spieler an der Seite postieren, der je nach Übungsverlauf vom Trainer ins Spiel gerufen werden kann.
Ziel der blauen Spieler: Den Ball durch die aufgestellten Tore zu dribbeln oder per Kurzpass durchzuspielen. Nach einem Ballverlust sollen sie den Ball schnellstmöglich zurückgewinnen oder das Tor verteidigen.
Ziel der roten Spieler: Den Ball durch Pressing oder die 1-gegen-1-Verteidigung zu erobern und danach so schnell wie möglich zum Torabschluss zu kommen.
Coachingaspekte:
Blaue Mannschaft:
- sauberes Passspiel
- variable Aufbauvarianten
- hohe Aktivität des Torwarts (z.B. häufiges Anbieten)
- tiefe durch Läufe anbieten
- situationsgerechte Passvariabilität
- den ballführenden Spieler durch Freilaufen, Dummy Runs oder Anbieten unterstützen
- sofortiges Nachsetzen nach Ballverlust.
Rote Mannschaft:
- mutiges Anlaufen
- korrektes Anlaufverhalten
- arbeiten mit dem Deckungsschatten
- nach dem Überspielen nicht abschalten
- schnelles Umschalten nach Ballgewinn.
Das Spiel mit der Torwartkette
In dieser Trainingsform wird den Spielern das Spiel mit der Torwartkette nähergebracht. Gespielt wird auf einem kleineren Feld, bespielsweise im 6-gegen-6. Auf beiden Spielfeldhälften wird neben der Mittellinie die Torwartlinie markiert, deren Höhe variabel ist.
In dieser Spielform gibt es keine Anstöße; stattdessen wird das Spiel vom Torwart auf der genannten Linie begonnen oder fortgesetzt, wenn der Ball ins Aus geht. Die Spieler des Teams, das den Anstoß ausführt, dürfen bis zur gegnerischen Torwartlinie aufrücken.
Das Kleinfeld ist besonders zu Beginn der Einführung der Torwartkette sinnvoll, da der Torwart sich so ein gutes kurz- und mittellanges Passspiel auch unter hohem Druck aneignen kann. Das kleinere Feld sorgt für hohen Druck, überwiegend kurze Passdistanzen und mehr Ballaktionen, als es direkt auf einem Großfeld der Fall wäre. Diese Übung lässt sich jedoch auch als Spielform auf das Großfeld übertragen.
Coachingaspekte:
- scharfes, aber sauberes Passspiel
- hohe Aktivität des Torwarts (z.B. häufiges Anbieten)
- Torwartpositionierung je nach Ballposition
- sofortiges Freilaufen nach Passabgabe
- offene Körperstellung für den optimalen Fortsatz
- sofortiges Nachsetzen nach Ballverlust
Fazit
Im Ursprungsartikel blickte RM voraus, dass die häufige Anwendung der Torwartkette im gesamten ersten Drittel sinnvoll erscheint und vermutlich auch früher oder später zur Normalität wird. Nun, knappe 11 Jahre später, lässt sich bilanzieren, dass dieser Punkt erreicht wurde. Die Torwartkette gehört nun zum Repertoire der meisten Ballbesitzmannschaften; bei einigen wenigen Teams wird sie auch im hinteren Teil des zweiten Drittels genutzt. Zudem zeigt sich, dass sie sowohl gegen Teams, die aktiv pressen, als auch gegen passiv verteidigende Mannschaften ein Gamechanger sein kann.
Der deutsche Fußball gehört zu den führenden Nationen im Bezug auf die Einbindung des Torwarts im Spielaufbau, wie unter anderem der Goalkeeper Buildup Index von Twitter-Nutzer Ben Griffis zeigt. In seiner eigens erstellten Metrik landen alle drei deutschen Profiligen in den Top 10 der Ligen, je nach Torwartbindung im Aufbau. Die 2. Bundesliga findet sich auf dem 3. Platz wieder, dicht gefolgt von der Bundesliga auf Rang 4, und die 3. Liga steht auf Platz 10. Auch im Ranking der einzelnen Mannschaften landen drei deutsche Teams in den Top 5: Magdeburg belegt den ersten Platz, Düsseldorf und Schalke II folgen auf den Plätzen 4 und 5. (Disclaimer: Diese Statistiken gelten für die Hinrunde der Saison 23/24.)
Doch trotz dieser gewaltigen Fortschritte ist die Entwicklung der Torwartkette bzw. die Einbindung des Torwarts ins eigene Ballbesitzspiel noch lange nicht abgeschlossen: Sei es durch andribbelnde Torhüter, die weitere Verbreitung von hohen Torwartketten oder möglicherweise auch die Verwendung der maximalen Torwartkette in kurzen Phasen. Mal sehen, ob und wann dies passiert
Zum Autor
ND ist Liebhaber von (hohen) Torwartketten, Titz´ Mannschaften, spanischen Mittelfeldspielern Anfang der 2010er sowie Nick Woltemade.
1 Kommentar Alle anzeigen
ME 26. August 2024 um 15:12
Sehr schöner Artikel!
Insbesondere auch die Trainingsformen am Ende geben direkt einen Einblick in die praktische Anwendung der Theorie. Weiter so Next Generation! 😉