Offence wins Games, Defence wins Europameisterschaften oder so – ND

Ein Achtelfinale der Euro, in dem zwei Topmannschaften der vergangenen Jahre aufeinandertreffen, klingt durchaus spannend. Auch die Protagonisten auf dem Feld lassen ein hochinteressantes Spiel vermuten: Von Mbappé über Griezmann bis hin zu Theo Hernandez auf der einen Seite und Lukaku, Doku, De Bruyne und Co. auf der anderen. Doch ein Blick auf die Trainerbank lässt Fußball-Fans schnell erahnen, dass man sich auf keinen proaktiven Offensivfußball einstellen sollte. Weder Didier Deschamps noch Domenico Tedesco stehen für diesen Spielstil, wie sie auch schon in den vorherigen Spielen gezeigt haben. Dennoch bot das Spiel einige spannende Aspekte

Kevin de Bruyne im Toni Kroos Kostüm

Ein überragender Spielmacher, der in die linke Halbspur der ersten Aufbaulinie abkippt, ist vor allem Fans von Real Madrid und der DFB-Elf ein Begriff. Dieses Muster zeigte sich auch einige Male im Spiel der belgischen Nationalmannschaft (bis zur Einwechslung von Mangala). Doch dies allein macht noch kein erfolgreiches Ballbesitzspiel aus. Zudem zeigt sie uns, was man bei diesem taktischen Stilmittel tunlichst vermeiden sollte.

Doch zunächst zum grundsätzlichen Spielaufbau der Belgier:

Im tiefen Spielaufbau setzten sie auf die mittlerweile weitverbreitete „De Zerbi-Struktur“. Hierbei wird in einer 3-4-4-Struktur mit einer tiefen Torwartkette aufgebaut. Durch die Einbindung des Torwarts entsteht immer irgendwo auf dem Feld eine Überzahl, zumeist aber bei den Aufbau-7 (3-4). Häufig wird versucht, das Pressing zu locken, um dann mit dem Spiel über den Dritten dynamisch in Aktionen zu kommen. Doch durch das meist sehr sporadische Pressing der Franzosen konnten die Belgier ohne Probleme ins zweite Drittel vorstoßen.

Im mittleren Spielaufbau setzten die „Diables Rouges“ auf eine 1-3-4-2-1-Struktur. Sie versuchten immer wieder, mit langen Bällen hinter die Kette zu kommen, Lukaku als Wandspieler zu nutzen oder Doku in Dribblingsituationen zu bringen. Allgemein schafften sie es jedoch kaum, gefährliche Momente zu erzeugen

Sinnbildlich für diese Nichtleistung lässt sich die Kevin-De-Bruyne-Systematik sehen. In Spielen, in denen Mannschaften Probleme haben, Chancen zu kreieren, gefährlich ins letzte Drittel zu kommen oder den Ball aus der ersten Aufbaulinie ins Mittelfeld zu bekommen, findet sich häufig ein bestimmtes Muster wieder: Ein Sechser kippt in die erste Aufbaulinie ab

In dieser Situation ist das Abkippen weder gut vorbereitet noch sinnvoll. Dies liegt daran, dass Onana ebenfalls tiefer steht und Theate den Lauf erst einige Sekunden nachdem De Bruyne herauskippt startet. Dadurch steht man zeitweise in einem 5-0-5 mit verwaistem Mittelfeld. Dies schränkt De Bruyne in den möglichen Anschlussaktionen ein. Ein langer Ball auf den Prellbock Lukaku? Ein nahezu garantierter Ballverlust, weil keine Spieler im Mittelfeld als Abnehmer der Ablage stehen und niemand nachrücken kann. Zudem steht man in einer katastrophalen Staffelung, um gegenzupressen. Ein Pass in die Schnittstelle zwischen Kante und Griezmann? Hier könnte er davon Gebrauch machen, dass Theate erst spät den Lauf startet, um ihn so mit Dynamik in die Situation zu bringen. Jedoch birgt dieser Pass auch einige Risiken. Sollte der Pass nicht perfekt gespielt werden (Präzision und Gewichtung), besteht die Gefahr, im Worst Case, in einen 4-gegen-4-Konter zu laufen. Sprich, eine „High Risk-High Reward“-Aktion, und jeder, der Tedesco-Fußball kennt, weiß, dass es dort oft um Risikominimierung geht. Der typische Toni-Kroos-Pass (Verlagerung auf den ballfernen Außenverteidiger) wäre auch möglich gewesen, letztendlich wird jedoch der Pass mit dem wenigsten Risiko (Querpass ausgenommen) gespielt: ein langer Ball in die Tiefe hinter die Kette.

Durch die Qualität in der Französischen 4er Ketten können sie diesen Pass ohne Probleme abfangen

Eine ähnliche Szene ereignet sich in Minute 31. Hier holt sich De Bruyne den Ball am eigenen Strafraum in der linken Halbspur ab und fordert Theate via Handzeichen dazu auf, nach vorne zu schieben, was dieser trotzdem nur sehr bedacht tut. Auch hier steht Belgien quasi ohne Mittelfeld da, da Onana durch Thurams Deckungsschatten nicht direkt anspielbar ist, wodurch der Ball wieder lang hinter die Kette geschlagen wird und einen Ballverlust zur Folge hat.

Hier zeigt sich, dass das Heraus- oder Abkippen aus dem Mittelfeld oftmals nicht sinnvoll ist, wenn diese Situationen nicht gut geplant und strukturiert sind. Häufig enden sie wie diese Szenen mit einer Unterzahl im Mittelfeld oder Spielern im Mittelfeld, die am Ball und unter Gegnerdruck häufig deutlich schwächer sind als der zuvor abge- oder herausgekippte Spieler.

Rabiot als Balancespieler im Französischen Pressing

Nahezu jede Mannschaft, in der ein Superstar spielt, benötigt mindestens einen Balancespieler, der die durch den Superstar entstehende Dysbalance, meist gegen den Ball, ausgleicht. Bei Argentinien ist es beispielsweise De Paul und in diesem Fall eben Rabiot..

Zu Beginn des Spiels stellte sich das Pressing in dieser Art dar: Die beiden französischen Sechser waren sehr mannorientiert auf die belgischen Sechser. Sie stellten zwar häufig hoch zu, agierten jedoch vorwiegend aus einem Mittelfeldpressing mit den typischen Pressingbasics, sowohl in der Pressingauslösung (Ball auf den Flügel, schlechter Ballkontakt/Pass etc.) als auch im Pressingverhalten (Mitte möglichst kompakt, auf die Flügel lenken). In dieser Pressingstruktur offenbarte sich jedoch schnell ein Problem

Weil Carrasco Theo fixierte, war Castagne oft komplett frei, jedoch gelang es ihnen nicht, von diesem Vorteil Gebrauch zu machen. Diese Szene ist auch ein Sinnbild für die schlechte Leistung der Belgier, sowohl taktisch als auch in der technischen Ausführung.Trotz keinem Gegnerdruck gelang es Vertonghen nicht, den Ball auf Castagne zu spielen.

Prompt nach sieben Minuten folgt auch die Umstellung der Franzosen. Mbappé orientiert sich fortan an sich zwischen Onana und Faes, so konnte er Onana über den Deckungsschatten rausnehmen oder nur Onana. Vor der Umstellung orientierte er sich an Faes. Rabiot stand fortan tiefer, um nun Castagne sofort unter Druck setzen zu können, sollte dieser den Ball bekommen.

Eine weitere Auffälligkeit war die extreme Mannorientierung Kantés auf De Bruyne. In der zweiten Halbzeit tauschte Tedesco Onana und De Bruyne, um ihn aus der Mannorientierung von Kanté zu lösen, jedoch brachte diese Umstellung auch nicht den erwünschten Erfolg.

Im tiefen Verteidigen nutzten die Franzosen meist ein 1-4-1-4-1 bzw. 1-4-4-2, je nach Mbappés Defensivarbeit

1-4-4-2
1-4-1-4-1




Der Prellbock prallt ab

Im heutigen Weltfußball gibt es kaum bessere Wandspieler als Romelu Lukaku. Er besitzt sowohl die physischen als auch technischen Anlagen, um diese Rolle auf allerhöchstem Niveau zu spielen. Auch im Spiel gegen die Équipe Tricolore zeigt er, wie gefährlich solche Aktionen sein können.

In dieser Szene erhält Lukaku einen hohen Ball von Castagne mit Saliba im Rücken. Während der Annahme drängt er diesen auch noch einige Meter nach hinten. Sowohl Theo als auch Tchouameni üben sofort Druck auf ihn aus, doch trotz der drei Druckpunkte kann er eine Ablage auf Carrasco spielen, der dann einen Pass zum in die Tiefe laufenden Castagne spielt.

Neben der katastrophalen Strafraumbesetzung, dem fehlenden nachrückenden Lauf von De Bruyne oder Onana, den fehlenden dynamischen Läufen von Lukaku und Carrasco in den Strafraum sowie dem zu späten Erreichen der Box des ballfernen Flügels zeigt diese Szene das sehr gute Verteidigungsverhalten der Franzosen: Jeder wichtige Bereich der goldenen Zone (1. Pfosten, Elfmeterpunkt, 2. Pfosten) wird gedeckt. Zudem decken Kanté und Tchouameni den Rückraum (wird bei dieser EM oft überbewertet), haben aber gleichzeitig Zugriff auf Lukaku und Carrasco, um sie bei einem etwaigen Cutback zu pressen.

Szenen, in denen Lukaku als Prellbock fungiert, waren jedoch rar gesät. Meist prallte er an William Saliba ab, der Lukaku körperlich Paroli bieten konnte und immer wieder den Fuß dazwischen bekam. Der Grund dafür war Lukakus schlechtes Ablageverhalten. Über 90 Minuten setzte er in nahezu jeder Aktion mit Verteidiger im Rücken auf seine körperliche Wucht, die auch gegen die meisten Innenverteidiger ausreicht, jedoch nicht gegen Saliba. Es gab keinerlei Szenen, in denen sich Lukaku auch nur ein wenig mit Dynamik fallen ließ, um aus dieser Dynamik eine saubere Ablage zu spielen. Wie effektiv Ablagen aus einer dynamisch abkippenden Bewegung sind, haben uns die Stürmer des VfB Stuttgart in der vergangenen Saison häufig gezeigt. Übrigens entstand der Ballverlust vor dem 1:0 aus einer solchen Szene, in der Lukaku ohne jegliche Dynamik eine Ablage spielen wollte und den Ball gegen Saliba verlor.

Frankreichs Lösungen gegen den belgischen Abwehrblock

Auch die Belgier agierten zumeist passiv gegen den Ball, noch passiver als die Franzosen selbst. Meist stellte sich ihre offensive Struktur wie folgt dar: Griezmann und Mbappe bewegten sich in die Halbräume, die Außenverteidiger rückten auf. Das Mittelfeld mit Rabiot und Kanté war viel unterwegs und variabel; sie kippten teilweise ab, überluden ballnah und rückten nach vorne. Der wichtigste Spieler war jedoch Tchouameni, der Kevin De Bruyne zeigte, wie die Toni Kroos Rolle richtig gespielt wird, und entscheidend zum Bespielen des belgischen Low Blocks beitrug.

Das Ziel der Belgier war es, die Mitte möglichst kompakt zu halten. Dies bewirkten sie durch ihr 1-4-4-2-Abwehrpressing. Doch ein bekanntes Problem dieser Herangehensweise ist der Raum auf den Flügeln, insbesondere wenn die Winger der angreifenden Mannschaft die Außenverteidiger binden.

Zum Bespielen dieser Freiräume lautet das Zauberwort: Spielverlagerung(en).

Die Roten Teufel stehen in ihrem 1-4-4-2 kompakt und sind jedoch ballorientiert nach rechts verschoben. Durch ihre Passivität können die Franzosen durch einige Pässe zwischen Theo, Rabiot und Tchouameni die Belgier noch weiter auf deren rechte Seite ziehen, wodurch sie nun wie folgt stehen:

Der ballferne AV (Kounde) steht durch das Verschieben der Kette komplett frei auf dem Flügel. Diesen Raum spielt Tchouameni nun, durch eine perfekte Verlagerung auf Kounde, an.

Da Theate dauerhaft durch Griezmann gebunden ist, muss Doku Druck auf Kounde ausüben. Doch durch die große Distanz zwischen Doku und Kounde, die aufgrund des ballorientierten Verschiebens der Belgier entstanden ist, kann Doku kaum Druck ausüben, sodass Kounde eine butterweiche Flanke auf Thuram schlagen kann.

Auch das Siegtor der Franzosen entsteht aus diesem Muster:

Zunächst wird der Ball auf den rechten Flügel gespielt, um die Belgier ins Verschieben zu bekommen. Von dort aus dribbelt Theo dynamisch in die Mitte, um dann über Griezmann eine Verlagerung auf den freien ballfernen Außenverteidiger zu spielen.

Dort nimmt Kounde den Ball in Empfang und wartet, bis Theate ihn presst, um so Kolo Muani durch das Spiel über den Dritten in eine Abschlusssituation zu bringen.

Fazit

Das Spiel lässt sich perfekt durch das Nomen „Risikoaversion“ beschreiben. Beide Mannschaften versuchten, so sicher wie möglich zu spielen, um auf keinen Fall ein Gegentor zu bekommen. Doch letztendlich setzten sich die „Les Bleus“ durch die besseren Lösungen im letzten Drittel und die besseren Spieler verdient durch.

Um MR zu zitieren: „Frankreich ist scary“. Wie auch in den letzten Turnieren setzten sie vor allem auf eine stabile Defensive. In den bisherigen Spielen ließen sie nur 1,83 xG (aus dem Spiel heraus) gegen sich zu und auch offensiv haben sie einiges zu bieten, vor allem in den Umschaltmomenten. Doch auch gegen tiefe Blöcke können sie gute Lösungen finden. Aufgrund ihrer überragenden Defensive können sie auch Killer für die bisher überzeugendsten Mannschaften (Spanien, Deutschland) sein.

Zum Autor

ND ist Liebhaber von (hohen) Torwartketten, Titz´ Mannschaften, spanischen Mittelfeldspielern Anfang der 2010er sowie Nick Woltemade. 

Taktik-Ignorant 5. Juli 2024 um 00:10

Wer ein Mittelfeld aus Tchouameni, Kanté und Rabiot aufbieten kann (und Camavinga noch in der Hinterhand weiß), und das vor einer Abwehr aus Saliba, Upamécano, Théo Hernandez und Koundé, dem kann halt nicht viel passieren, egal was der Gegner anstellt. Das wissen die Franzosen, und entsprechend sparen sie sich ihre Körner für Gegner, bei denen sie tatsächlich mal etwas mehr laufen müssen. Und den Trick mit dem Steilpass auf Wirtz vom Anstoß weg kennen sie jetzt auch.

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tobit 4. Juli 2024 um 08:58

Das Fazit fasst einfach perfekt zusammen warum das Spiel verdient so lief wie es lief und warum ich noch nicht von meinem Europameistertipp abgewichen bin. Frankreich sieht vllt oft kacke aus (weil Kontrolle halt oft so aussieht), sind aber in den entscheidenden (späten) Momenten spielerisch genauso brilliant wie Spanien und Deutschland (die lieber erst brilliant sind und dann langweiliger runterkontrollierten).

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WVQ 4. Juli 2024 um 16:18

Ich weiß nicht… Kontrolle heißt für mich schon mehr, als nur einen freiwillig kaum am Spiel teilnehmenden und taktisch komplett verirrten Gegner (wie jetzt Belgien) weitgehend von gefährlichem Ballbesitz abzuhalten. In der Vorrunde gegen sich teils erheblich besser wehrende Mannschaften sah das (selbst in diesem reduzierten Sinne von „Kontrolle“) auch deutlich weniger kontrolliert aus. Und in meinen Augen gehört zu Kontrolle eben auch mehr, als den Gegner nur durch recht sporadisch aufkommende Kollektivbrillianz zu bedrohen und weitgehend auf den Ansatz zu bauen, daß man hinten die Null hält und vorne schon irgendwann irgendwie einer reingeht. Ich finde auch, daß man das nur sehr bedingt mit der Kontrolle vergleichen kann, die eine Mannschaft (im Sinne einer Risikoreduktion im Ballbesitz) ausübt, wenn sie bereits in Führung liegt, nachdem sie sich diese Führung mit höherem Risiko erspielt hat. Ob der eine oder andere Ansatz letztlich erfolgversprechender ist, lasse ich mal dahingestellt, aber mit der Spielkontrolle starker Ballbesitzmannschaften hat das bei Frankreich (insbesondere derzeit) sicherlich wenig zu tun. Erinnert mich eher an Favres Dortmund, bei dem es auch sehr darauf ankam, ob der Gegner das Risikominimierungs-Spiel mitgespielt hat. Zumal gerade die beiden deutschen Testspiele gegen Frankreich gut illustriert haben, daß man sich mit Rückständen schwer tut, weil man dann plötzlich gezwungen ist, im Ballbesitz produktiver und ergo risikofreudiger zu werden, was aber nicht Teil des Plans ist.

Davon ab steht Frankreich im Turnier aktuell bei 1,70 – 0,65 = 1,05 xGD/90. Bei Deutschland sind es 1,90 – 0,75 = 1,15 xGD/90, bei Spanien 2,20 – 0,75 = 1,45 xGD/90. Klar kann da jeder jeden schlagen, aber für den Moment läuft es für mich erst mal darauf hinaus, daß Frankreich mit dem individuell (gerade offensiv) besten Kader einfach etwas weniger Tore kassiert und dafür aber auch weniger Tore schießt. Mache mir aus deutscher Sicht ehrlich gesagt für ein eventuelles Halbfinale gegen Frankreich deutlich weniger Sorgen als für das Viertelfinale gegen Spanien.

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Koom 4. Juli 2024 um 17:12

Frankreich ist geradezu zynisch unterwegs. Sie haben IMO die mit Abstand größte Qualität des Kaders. Zudem eine gewisse Grundeingespieltheit, weil sich viele Spieler auch schon recht lange kennen. Sie gehen absolut nach der Maßgabe vor, einfach kein Tor zu kassieren – vorne macht man irgendwie eines. Mies, aber am Ende zählt der Erfolg. Fehlt der, gibts halt Donnerwetter.

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