Underdogs digitieren: Rumänien und Georgien

Der Fußball in Osteuropa entwickelt sich. Rasant. So ziemlich keines der Teams (außer vielleicht Albanien… und England) tritt so mutlos und einigelnd auf, wie wir es in so vielen Wettbewerben aus der Vergangenheit von den Außenseitern kannten. Besonders Georgien und Rumänien warten mit recycleten taktischen Ideen und bemerkenswerten Fokus auf den Grundlagen des Fußballspielens auf. Zwei verschiedene Stile zur Inspiration, wie man als unterlegener Gegner gewinnen kann.

Verteidigungsansatz gegen das, was jetzt alle machen

Heutzutage gilt man als Team wahrscheinlich schon als mäßig bis stark uncool, wenn man ohne hereinkippende Außenverteidiger spielt, den Flügel im Ballbesitz nicht nur einfach besetzt, nichts von 2-3/3-2 Aufbaustellungen erzählen kann und auch nicht permanent einen Spieler in beiden offensiven Halbräumen zu stehen hat. Aufgrund der verhältnismäßig kurzen Trainingsphasen bei Nationalteams, sind Mannorientierungen grundsätzlich ein sehr beliebtes Mittel um zu verteidigen, respektive Druck auf den Gegner auszuüben. Beide Teams bedienen sich diesem Mittel sehr geschickt um damit den gängigen Trend in Ballbesitz zu kontern. Dabei haben sie jedoch zu berücksichtigen, dass ihre jeweiligen Abwehrketten nicht mit den schnellsten Spielern gesegnet sind.

Georgien verließ sich, nach einer viertelstündigen Versuchsphase mit zwei Spitzen mehr Druck zu erzeugen, auf das Verteidigen im tiefen Block. Mannorientierungen kamen eher in der Abwehrreihe zum Einsatz, die in ihrer Fünferkonstellation darauf ausgelegt war, sich nicht allzu viele Sorgen um die Tiefe und Breite zu machen. Halbverteidiger rückten in die Halbräume raus, Schienenspieler standen Flügelstürmern direkt auf den Füßen – nichts, was wir nicht schon woanders gesehen hätten. Vor der Fünferkette positionierte sich eine eher raumorientierte Viererkette im Mittelfeld, die eng stand und nur zum Doppeln auf dem Flügel größere Abstände in Kauf nahm. Mikautadze positionierte sich in der Nähe der gegnerischen Sechser oder ruhte sich in klassischer Kreisliga-Manier vorne aus. 

Im Grunde bezogen die Georgier also dieselben Stilmittel ein, wie es in Europa häufig von kleineren Teams gegen dominante, nominell stärkere Kontrahenten erprobt wurde. Der Ansatz kompensierte die Limitationen der Verteidiger, allen voran Tempo und möglicherweise auch Orientierungsprobleme im Verteidigen der Tiefe (worin Rumänien deutlich hervorzuheben ist), aber auch das Eins-gegen-Eins-Verhalten von Tsitaishvili und Kakabadze in der Defensive. Gegen die Türkei funktionierte diese Herangehensweise ordentlich, zumal sie mit vielen Spielmacher-Typen aufwarteten und relativ selten Diagonal von außen in die Tiefe starteten, oder die Verteidiger mit mehreren Spielern versucht haben zu binden. Von den Türken wurde oft präferiert, den Ball in den Fuß gespielt zu bekommen und sich in gefährliche Räume zu kombinieren, was es über größere Teile des Spiels zu einem eher stehenden Verteidigen werden ließ. 

Von den Tschechen wurde schon deutlich mehr Schwungmasse in der letzten Linie installiert, mit der die Georgier zunehmend größere Probleme bekamen, da ein Durchschieben zum Flügel für einen Halbverteidiger oft nicht möglich war, genauso wenig wie hinter den Sechsern offensiv durchzuschieben. Es war über längere Zeit das gleiche Spiel wie das klassische Bundesligaspiel von Guardiolas Bayern oder von Deutschland in der Schlussphase gegen die Schweiz, mit vielen physisch präsenten Spielern in der Mitte und schnellen Eins-gegen-Eins Spielern auf Außen (zumindest nach Jurasek’s Einwechslung). Erschwerend kam gegen beide Gegner hinzu, dass ihr offensiver Ansatz dermaßen viel Energie verbraucht und somit im letzten Drittel der Spielzeit die Körner fehlen, um sich aus einer Art Belagerungszustand zu entlasten. Hierzu gleich mehr. 

Rumänien hingegen variierte zwischen dem tiefen Block, einem Mittelfeldpressing rund um den Mittelkreis und vereinzelten Phasen des hohen Anlaufens bzw. Durchschiebens. Die Mannorientierungen setzen sie deutlich konsequenter um, als die Georgier und halten gerne den direkten Zugriff auf gegnerische Sechser, aber auch auf die Offensivspieler von Belgien und der Ukraine aufrecht. Besonderes Augenmerk liegt auf Dragusin und Burca in der Innenverteidigung, die beinahe über die gesamte Spielzeit ihre Körperhaltung je nach Position von drohenden Tiefenläufen anpassten, oft laut kommunizierend die Kettenhöhe variierten und bei Anspielen der Halbräume vor ihnen mit gutem Timing aggresiv herausrückten. Diese Spielweise beeinflusst maßgeblich, dass Stanciu und Razvan Marin sehr offensiv verteidigen können.

Das Herausstechen von Verteidigern gegen die Ukrainer im eigenen defensiven Halbraum führte sowohl zu einigen Ballgewinnen (rot), als auch zu seltenem gegnerischen Aufdrehen zwischen den Linien. 

Da die rumänische Verteidigungsstrategie mit vielen Übergaben arbeitet, ist sie natürlicherweise anfällig für schnelle Positionswechsel und auch Spielern mit hoher Qualität im Eins-gegen-Eins, was über die tiefen Anspiele Belgiens auf die hohen Flügelspieler (allen voran Doku) zu vielen Problemen führte beim risikofreudigen, sehr kompakt verschiebenden Rumänien. Gegen die Ukraine fiel dies wenig ins Gewicht, da Zinchenko, Konoplya, Mudryk und Tsygankov relativ langsam in ihrem Angriffsvortrag waren und auch häufiger in ihren Positionen stehen blieben. Intensives mannorientiertes Verteidigen funktioniert dabei natürlich hervorragend.

Wie für dich kompetenten Leser zu erwarten, ist bei diesem Stil die Geschichte des Anlaufens schnell erzählt. Dragus hielt Passwege auf die gegnerischen Sechser zu, kurze Anspiele auf die zweite Aufbaureihe wurde mannorientiert zugestellt und im Deckungsschatten gehalten rausgeschoben. In der letzten Linie wurde sich meistens die Ein-Mann-Überzahl behalten sowie der Sechser zwischen den eigenen Linien ballnah positioniert um möglichst zügig direkte Unterstützung zu liefern. Viel Vertrauen wurde darin gelegt, dass die Spieler ihre direkten Duelle auch gewinnen, trotz nomineller Qualitätsunterschiede. Was heißt eigentlich „Go hard or go home.“ auf rumänisch? 

Würde Bancu das direkte Duell gegen Tsygankov nicht gewinnen, könnte der ukrainische Flügelspieler einfach auf Stepanenko klatschen lassen und die Rumänen zu sehr weiten Wegen nach hinten zwingen, wenn sie ihre direkten Gegenspieler gedeckt halten wollen. Dragusin und Ratiu zeigten sich zwar sehr körperlich und schnell in ihrem Spiel, jedoch wäre auch ein langer Ball Richtung Dovbyk/Mudryk nicht die angenehmste Aufgabe. Trotzdem zahlte sich das Risiko aus und der Ball befindet sich nun weit in der gegnerischen Hälfte. Stanciu fackelte hier in der ersten Halbzeit kurz vor dem Strafraum bereits nicht lange.

„Alle lenken nach Außen.“ – Dann macht doch!

Nagelsmann spoilerte auf einer früheren Pressekonferenz bereits, dass er kein Team im Turnier sehe, welches den Gegner nicht nach Außen lenken möchte, um es fürs eigene Tor sicher zu halten. In die Mitte zu leiten und potenziell für den Gegner gefährlichere Ballgewinne zu erzielen wird so gut wie gar nicht praktiziert. Nun. Wirklich tragisch war das für beide der Mannschaften nicht. Sie versuchten das Longline kontern wieder salonfähig zu bekommen und haben ihr Heil in ihren Dribbelstarken Flügelspielern gesucht. Mit Florinel Coman und Dennis Man auf rumänischer und natürlich Superstar Kvicha Kvaratskhelia auf georgischer Seite ist das passende Personal vorhanden. Unterstützt wurden sie von ihren sehr laufstarken und spielerisch konkurrenzfähigen Kollegen mit teilweise absurden Aktionsradien.

Georgien hatte hierbei zwei Varianten, wohlwissend dass sie keine Abnehmer für Flanken haben. Einmal der direkte Longline Konter auf der Seite des Ballgewinns, wohin Mikautadze häufig früh auswich, die äußeren Mittelfeldspieler intensiv tief gingen und die Schienenspieler nicht scheu waren, sich mit Anschlussbewegungen weiter einzuschalten. Damit kamen sie erstaunlich weit in die gegnerische Hälfte da die Konterabsicherung der Türken und Tschechen nicht immer die beste Figur machte. Dazu kam, dass Tschechien den Flügel einfach besetzte und so der Halbverteidiger nicht selten erst die Instanz war, an der Georgien tatsächlich gestellt werden konnte. So konnten sie den Gegner jedoch oft relativ schnell wieder weit zurückdrängen, wenn auch mit weiten intensiven Läufen für die eigene Mannschaft verbunden.

Ich weiß, ich weiß… Georgien wirkt immer noch nicht sonderlich spannend und besonders zugeschnitten auf Kvaradonna scheint es auch nicht zu sein. Kommt jetzt!
Diese sehr kraftraubenden Konterwege, zusätzlich der eigene geordnete Ballbesitz, wenn auch nicht auffällig häufig vorhanden, hatten eher den Sinn des Zusammenschiebens der Gegner. Beim Abdrehen nach hinten und dem Verlagern über die Dreierabwehr schoben die meisten Spieler, die auf der Seite gerade angegriffen haben, nämlich nicht sonderlich weit mit auf die neu anvisierte Seite. So bekam Georgien bspw. zu Beginn der zweiten Halbzeit gegen die Türkei einen Einwurf beinahe auf Sechszehnerhöhe, den sie mit vielen Spielern ballnah ausspielten und die Türkei zu weitem zusammenziehen zwangen. 

Es ging ihnen gar nicht um einen sonderlich schnellen Angriffsvortrag, sondern darum, den Gegner weiter zu verleiten kompakt mit hinüberzuschieben, da ein Zurückfallen in den tiefen Block bei der ständigen Ballnähe unwahrscheinlicher bleibt. In der Szene schiebt die Türkei durch bis Richtung Kvirkvelia, stellt Kakabadze und den vorstoßenden Mekvabishvili zu und steht so bereits relativ kompakt auf der rechten georgischen Seite. Kvirkvelia schlägt den Ball rüber auf die linke Seite, wo Tsitaishvili, Kvaratskhelia und Mikautadze stehen geblieben sind und versuchen den Angriff zu vollenden. In der folgenden Szene vor dem Treffer von Mikautadze wird das gleiche Prinzip angewandt, nur diesmal aus einer Ballbesitzphase heraus.

Links: Kochorashvili oder Dvali wären bereits offen und mit genügend Zeit am Ball, um den Diagonalschlag auf Kakabadze zu bringen für ein Eins-gegen-Eins mit Ferdi Kadioglu. Stattdessen wird der „langsame“ Weg auf Kvirkvelia gewählt mit dem sich nun offensiv einschaltenden Mekvabishvili. 

Rechts: bleiben Kvaratskhelia, Chakvetadze und Tsitaishvili auf der Seite stehen und bekommen den Diagonalball nachdem Müldür köpft im zweiten Versuch. Napoli’s Offensivstar dribbelt den Halbraum an und die Georgier kombinieren sich im Anschluss flach durch die Mitte bis hinüber zu Kakabadze. Kochorashvili ist diesmal aus dem Sechserraum mit vorgestoßen und möglicherweise erwarten die Türken gar nicht, dass der Angriff hier zu Ende gespielt werden soll. An der rechten Strafraumkante nahe der Grundlinie bedient der Spieler aus Levante flach Mikautadze am ersten Pfosten. Chakvetadze, Kvaratskhelia, Tsitaishvili sind ebenfalls im Strafraum. Im Rückraum steht nur Mekvabishvili.

Ähnlich probiert es Rumänien nach Ballgewinnen oder aus dem laufenden Spiel viel auf Außen durchzubrechen. Gerade rechts mit Ratiu als Außenverteidiger haben sie einiges an Physis und Geschwindigkeit um innen Tiefe Wege anzubieten, wenn der Ball am Flügel und unter Gegnerdruck ist. Ansonsten weicht Denis Dragus ebenfalls viel nach Außen aus, um Spieler zu binden, damit Man, Coman oder Mihaila von außen Wege haben in die Mitte zu ziehen und für Gefahr zu sorgen. Alternativ sind es Stanciu und Marin im Zehnerraum, die entweder den Ball auf einer der Seiten in die Tiefe kriegen sollen, oder im Rückraum abschließen. Generell scheint Rumänien stärkeren Fokus auf den Raum vor der gegnerischen Abwehr bei ihren Abschlüssen zu legen, als es bei den meisten anderen Nationen der Fall ist.

Links: Ein weiter wuchtiger Versuch Longline auf Rechts nach vorne zu kommen endet in einem Einwurf. Ratiu wirft zurück auf R. Marin, der direkt auf Man klatschen lässt und einen Weg in die Tiefe anbietet. Onana zieht mit und Man dribbelt aus dem Druck heraus nach außen. Über M. Marin wird die starke Kompaktheit aufgelöst, die für die bisherigen rumänischen Angriffe ziemlich charakteristisch ist. Bancu startet in die Breite und bekommt den Ball.

Rechts: Dragus und Mihaila starten mit auf links und ziehen sowohl Faes als auch Vertonghen mit. Bancu wählt diesmal nicht den Longline Pass auf Dragus, sondern den diagonal flachen auf Mihaila, der sich gegen Vertonghen und den heranstürmenden Tielemans durchsetzt und hinter Theate georgisch auf Man spielen möchte. Die Chance verläuft leider im Sande.

Zusammenfassung:

Georgien geht an der Linie bei tiefem Ballgewinn weite Wege, um sich zu entlasten. Befreiungsschläge gibt es verhältnismäßig selten. Aus dem Spiel entsteht die meiste Gefahr durch Diagonalbälle auf ballferne überlagerte Seiten. Marmadashvili und Kvaratskhelia sind wie erwartet die Unterschiedsspieler, Kochorashvili überrascht als sehr konstruktiver und solider Sechser mit großem Arbeitspensum. Gegen Minute 75 geht den Georgiern jedoch die Puste aus, da die Verteidigung zwar spielerisch solide ist, jedoch das Tempo nicht hat, um höher zu verteidigen. Weite Wege zollen ihren Tribut und auch, dass man zusätzlich auf intensive Dribbelaktionen von Kvaradonna und Mikautadze angewiesen ist.

Rumänien forciert Ballgewinne überwiegend kurz hinter dem Mittelkreis, arbeitet mit vielen Mannorientierungen und kann sich auf die defensiv sehr aufmerksamen Innenverteidiger verlassen. Konter laufen ebenfalls zumeist entlang der Linie mit teilweise weiträumigen intensiven Rotationen auf dem Flügel zwischen Dragus, der ballnahen Acht, dem Flügel und dem Außenverteidiger. Pressing ist auf anderer Art und Weise ähnlich risikoreich wie das von Österreich (Link). Ihr Mut und ihre Intensität wird abgerundet durch geradlinige Abschlüsse in Strafraumnähe, da ihr aufwendiger Stil eine wirklich sichere Konterabsicherung abgesehen vom Sechser und dem ballfernen Außenverteidiger nur schwer umsetzen lässt.

Ausblick

Willy Sagnol’s Mannschaft steht vor einer sehr schweren Aufgabe gegen Portugal, die sich zwar gegen tiefstehende Tschechen schwer taten, dafür jedoch die deutlich höhere Qualität besitzen. Kriegt Portugal es hin nicht nur mit Cristiano Ronaldo die Dreierkette zu binden, werden Kakabadze und Tsitaishvili größere Probleme mit den portugiesischen Flügelspielern bekommen. Zusätzlich ist zu erwarten, dass Cancelo’s Positionierung mit Ruben Dias‘ Absicherung dahinter dafür sorgen könnte, dass Kvaratskhelia als ballschleppender Hoffnungsträger relativ zentral gebunden ist und gemeinsam mit Mikautadze einen Sahnetag erwischen muss, um sich dort freizudribbeln. Trotzdem haben sie sich sehr beachtlich geschlagen und die Entwicklung des Landes macht Lust auf die Zukunft. Die Offensivspieler sind noch relativ jung und ihr Torwart hat noch viele Jahre auf hohem Niveau vor sich. Man kann gespannt sein, welche Spieler sich in den kommenden Jahren in Europa zeigen können.

Da gegen die Slowakei ein Weiterkommen nicht unwahrscheinlich ist, ist eine Achtelfinalteilnahme der Rumänen gar nicht mal unrealistisch. Im ersten Gruppenspiel gegen Belgien zeigten die Slowaken doch einige Fehler im Aufbauspiel, welche durch Intensität und ihre Mannorientierungen noch weiter provoziert werden könnten. Gegen Lobotka als zentralen Spieler im Aufbauspiel könnte dies ein vielversprechender Ansatz sein, ihn weitestgehend aus dem Spiel zu halten. Wenn die Slowakei Burca’s Aufbauschwäche nutzen kann (weshalb M.Marin oft zurück fällt) könnte uns ein munteres Pingpong erwarten.

TS: Muss in seiner Psychotherapeutenausbildung immer noch über die Werder-Zeit unter Skripnik reden. Zählte Frank Baumann’s „Ähms“ in Interviews.

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