Türchen 24: Positionsspiel gegen Relationsspiel

Obwohl wir im Türchen 18 schon einmal auf Fluminense geschaut haben, möchten wir das große Thema noch mal im finalen Türchen behandeln. Wer die Debatte verpasst hat: In diversen Twitterkreisen und anderswo in der Fußballwelt gibt es eine ausschweifende Diskussion über die „Gegenthese“ zum etablierten Positionsspiel, eine vermeintliche Neu-Erfindung des Angriffsspiels.

Wer eine kleine Einführung in die Debatte lesen möchte, dem sei dieser Artikel von Jamie Hamilton ans Herz gelegt. Zudem habe ich heute was dazu auf Twitter geschrieben:

Draufklicken, um den Thread inklusive Grafiken zu lesen:

Nun gab es am Freitag das Aufeinandertreffen zwischen den beiden populärsten Vertretern des Positionsspiels und des „Relationsspiels“ und das auch noch im Finale der FIFA Klub-WM. Pep Guardiolas Manchester City gewann 4:0 gegen Fernando Diniz‘ Fluminense. Während das Ergebnis erwartungsgemäß war, waren die Spielanteile einigermaßen ausgeglichen. Und die Mannschaften demonstrierten, wie unterschiedlich ihre beiden (sehr spielerischen) Spielweisen sind.

Positionsspiel: Zirkulation, große Räume, kleine Gruppen

Bei diesem guten Angriff von City sieht man sehr gut, was die essentielle Angriffsstrategie von Guardiolas Positionsspiel ist: Wir wollen möglichst weit vorne freie Spieler kreieren bzw. Spieler in offene Räume bekommen. Dafür wird das Feld relativ gleichmäßig besetzt, sodass alle Zonen schnell bespielbar sind.

Was sich typischerweise entwickelt ist ein Zirkulationsspiel von Seite zu Seite mit Gleichzahlbildung (3-gg-3) dort am Flügel, wobei Guardiolas Mannschaft permanent versucht, kleine Fehler und Lücken beim Gegner zu finden, während durch Breite garantiert ist, immer wieder zurückspielen zu können, um weiter nach dem entscheidenden Fehler zu suchen (oder über die Positionsstruktur ein Dilemma zu kreieren, das der Gegner nicht oder nicht schnell genug auflösen kann).

Relationsspiel: Durchbruch, kleine Räume, große Gruppen

Im Vergleich dazu sehen wir, dass Fernando Diniz‘ Ansatz nicht im gleichen Maße darauf setzt, einen freien Spieler zu finden, sondern Spieler ins Zusammenspiel miteinander zu bekommen. So soll der Gegner in kleinräumigen Aktionen überspielt werden, um dann erst offene Räume anzuvisieren.

Hier hat Fluminense acht Feldspieler auf einer Feldseite und ganze sechs Spieler in der Flügelspur, beide Flügelspieler agieren auf der gleichen Seite, beide Sechser sind weit verschoben. Bei City gäbe es normalerweise höchstens drei am gleichen Flügel, oft nur einen bis zwei. Wenn der Gegner drei bis vier Spieler rüberschiebt, dann spielt City nach hinten und wechselt die Seite. Fluminense schiebt einfach noch mehr Spieler nach.

Hier sehen wir, wozu das optimalerweise führt: Über die schnellen kleinräumigen Aktionen – Rotationen, Drehungen, Doppelpässe, Klatschpässe, usw. – macht der Gegner kleine Fehler bzw. reagiert zu langsam. In diesem Fall reagiert Lewis auf den Laufweg von Samuel, dadurch wird Arias frei, Fluminense löst das entstandene 2-gegen-3 mit einem schnellen Kontakt auf und läuft potentiell mit Überzahl in riesige Räume hinein.

Die Aktion des Außenverteidigers Samuel ist hier ein Knackpunkt, der die Unterschiede aufzeigt: In der Spiellogik von Guardiola würde er seinem Mitspieler am Flügel den Raum nehmen und einen gefährlichen Unterzahlmoment riskieren. In der Logik von Diniz kommen zwei Spieler zusammen, die nun schnell kleinräumig interagieren können und den hohen Gegnerdruck dadurch hoffentlich gewinnbringend auflösen.

Vorteile, Nachteile, Mischformen

Wie so oft in gegensätzlichen Interpretationen ist die Debatte um den „Relationismus“ recht konfrontativ und aufgeladen: Welche Interpretation ist richtig, welche ist besser für den Fußball?

Objektiv betrachtet haben beide Recht. Die obige Aktion von Samuel in etwa hat einen Vorteil und einen Nachteil. Die einen fokussieren sich auf den Vorteil, die anderen auf den Nachteil. Beides ist da.

Ob Vor- oder Nachteil überwiegt und ob man solche Aktionen daher machen sollte oder nicht, ob diese Spielweise über- oder unterlegen ist, hängt indes an vielen Faktoren und hat viele weiterführende Implikationen für den Spielstil der Mannschaft. Eine philosophische Ebene des ganzen ist etwa die Perspektive, dass der Relationismus den Spielern mehr Freiheiten und Improvisationsspielraum ermögliche. (Und das dies der brasilianischen Fußballkultur viel mehr entspricht als das rigide und eher vorhersehbare Positionsspiel.)

Zudem kann man natürlich beide Interpretationen bzw. taktischen Mittel miteinander vermischen: Bereits in den beiden Szenen hier sehen wir, dass Fluminense eben auch Spieler ballfern hält und die Szene letzendlich auch durch eine (zweimalige) Seitenverlagerung ausspielt. Indes nutzt auch Guardiola immer wieder kleine Überladungen hier und da und bringt Spieler in die Interaktion, nicht nur in den offenen Raum. Napoli hat eine Spielweise, in der aus einem Positionsspiel heraus immer wieder „relationistisch“ das 2-gegen-1 auf kleinem Raum gesucht wird, um Dynamiken zu erzeugen.

Wir werden demnächst in der SV Academy ein Seminar zum Thema anbieten, wo wir die diversen Dimensionen dieser Debatte beleuchten möchten. (Auch aus einer Perspektive mit praktischer Erfahrung in beiden Spielweisen.)

tobit 27. Dezember 2023 um 08:34

Ich seh’s ehrlich gesagt überhaupt nicht. Die Relationisten haben immer noch eindeutige Positionen, weil sie sie eben doch brauchen. Und eine Seite zu überladen und dann durch offene Räume zu marschieren hat der Oberpositionist Guardiola doch auch oft genug benutzt. Nach der Definition wären seine ersten beiden Jahre bei Bayern eine relationistische Mannschaft. Und es ist ja wohl absurd, das Konzept sich zu bewegen um den Ball zu bekommen, den Relationisten zuzuschreiben.

Ich bin ja sonst gerne dabei, wenn wir philosophisch über Fussball reden, aber das hier ist einfach nur Quatsch. Genauso wie die Legende, dass Peps Barca nicht normal kommunizieren musste, sondern die Kommunikation in den Pässen inkludiert war.

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tobit 27. Dezember 2023 um 09:22

Oder um es nochmal anders zu formulieren: Jamie Hamilton sagt, jedes Basiskonzept des Fussballs ist Relationismus und die einzigen nicht relationistischen Teams sind die offensichtlich inkompetenten.
Vom „apositional“ als Beschreibung will ich gar nicht erst anfangen, weil es blank gelogen ist. Kein einziges seiner Beispiele ist positionslos, es sind immer nur einzelne Spieler die ihre theoretischen Positionen verlassen um eine andere einzunehmen … wie sie es in jedem nicht vollkommen kaputten Fussballsystem schon immer getan haben.

Ich hab Mal in ein paar seiner anderen Artikel reingelesen. Die sind genauso an den Haaren herbeigezogen und ignorant gegenüber der Realität, dass jede Idee guten Fussballs auf denselben Basics beruht. Er schreibt sie aber einer bestimmten Zeit oder Philosophie exklusiv zu.

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WVQ 27. Dezember 2023 um 16:15

> Ich bin ja sonst gerne dabei, wenn wir philosophisch über Fussball reden

Ich als Philosoph ja nicht – das gibt, soweit mir bekannt, einfach immer Quatsch.

Ich will auch zu den Artikeln von Hamilton lieber gar nichts sagen, weil da in meinen Augen noch viel mehr im Argen liegt als „nur“ pseudophilosophischer und realitätsferner Unsinn. Den von MR verlinkten Artikel habe ich allerdings einfach mental so gefiltert, daß nur die Beschreibung von Spielmotiven übrig geblieben ist, die ich grundsätzlich schon aufschlußreich finde, weil sie den Blick auf Elemente des Spiels lenkt, die in der taktischen Betrachtung sonst vielleicht etwas unterrepräsentiert sind und die ohne Frage bei manchen Teams mehr ausgeprägt sind als bei anderen. Und was ich mir – obgleich ich überhaupt keinen persönlichen Praxisbezug zu Fußball und vor allem Trainingsarbeit im Fußball mehr habe – durchaus vorstellen kann, ist daß die Unterscheidung „relational/positional“ zumindest in gewissen Spielphasen für Spieler in Training und Spiel durchaus hilfreich sein kann. Ich weiß es nicht, ist eine empirische Frage, aber leuchtet mir prima facie ein, daß man einen Spieler anleiten kann, unter bestimmten Umständen seine Aktionen mehr am Raum und an Positionen und einer grundsätzlich gewünschten Struktur zu orientieren oder eben mehr an Mitspielern und situativ hergestellten kleinräumigen Strukturen unter Rückgriff auf bestimmte Verhaltens- und Kollektivmuster. (Und MR deutet ja an, daß das in der Praxis tatsächlich vorkommt.)

Aber wie ich in meinem vorherigen Kommentar schon angedeutet hatte, sehe ich auch überhaupt nicht, warum das eine fundamental verschieden vom anderen sein sollte. Wie Du sagst, auch ein (vermeintlich) brutal „relational“ agierendes Team braucht Positionen und eine Grundstruktur, aus der heraus man dann diese ganze Spielmotive wie toco y me voy und tabelas und escadinhas usw. einsetzen kann. (Zumal in der Defensive… Möchte ich mal sehen, wie einer im tiefen Verteidigen apositional agiert und sich nicht primär am „fixierten Raum“ orientiert…) Und mir wäre überhaupt gar nicht klar, warum eine (vermeintlich) brutal „positionale“ Mannschaft diese Elemente situativ nicht ebenso einsetzen sollte bzw. vermutlich sogar einsetzen muß… Gerade WEIL auch Teams mit hohem großräumigem Strukturfokus nicht wie eine hochoptimierte Schuh- oder gar Automatenfabrik spielen, sondern halt wie Menschen.

Daher wie gesagt mein Eindruck, daß man diese Aspekte auf der mannschaftstaktischen Ebene – wie MR es schon formuliert – auf einem Spektrum verorten sollte und daß es am Ende praktisch vor allem darum geht, wer welche leitenden Spielprinzipien wann verwendet und wie fokussiert. Der eine macht dann dieses mehr und der andere jenes, aber wie ich schon sagte und wie Du es auch sagst: Es ist halt Fußball und am Ende spielt jeder unter den gleichen Voraussetzungen. Der Rest ist nicht Theorie (und schon gar nicht Philosophie), sondern Pragmatik.

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tobit 28. Dezember 2023 um 13:40

Ich fand die Konzepte jetzt nicht besonders. Es sind halt die grundlegenden Werkzeuge für jeden guten Fussball, und selten ist mal eins der zentrale Fokus einer Taktik. Wenn, dann wird das hier aber auch viel betrachtet, wie die Tabela (oder auf deutsch Steil-Klatsch) bei Favre.

Oh, absolut kann man da nette Dinge mit machen, indem man (clevere) Spieler:innen sich mal eher an der vorher überlegten Struktur orientieren lässt und mal eher an der gerade entstehenden Situation. Gab es hier so ähnlich meine ich auch schonmal einen Artikel zu. Damals glaube ich unter dem Stichwort „optionsorientiert“.

Ich würde nicht sagen, dass man zwingend Positionen braucht. Also theoretisch halte ich eine rein relationistisch orientierte Mannschaft für möglich, nur gibt es halt bisher keinen Beweis oder Beispiele dafür (so sehr sich Manche:r die auch aus den Fingern zu saugen versucht).
Am ehesten würde ich sogar noch die Positionsspieltrainer als fähig ansehen, tatsächlich positionslos zu spielen, weil bei denen in optimaler Umsetzung alle Spieler:innen überall spielen können, weil sie eben überall nach denselben Grundprinzipien agieren dürfen/können/sollen. Das macht die Struktur dann unabhängiger von einzelnen Positionen. Oder man kommt vom anderen Extrem und ignoriert wie Bielsa („wenn ich 11 Roboter auf dem Platz hätte, würde ich kein Spiel verlieren“) konventionelle Struktur einfach komplett. Da muss man die rigiden Deckungen „nur“ ein bisschen flexibilisieren und man ist apositional.

Das hier ist für mich übrigens dann „philosophisch über Fussball diskutieren“.

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WVQ 28. Dezember 2023 um 19:53

Mit der tabela war aber nicht Steil-Klatsch gemeint, sondern allgemeiner, daß zwei (oder ggf. mehr) Spieler auf dem Platz spontan zusammenzukommen, um im Tandem (oder zu mehreren) durch kleinräumiges Zusammenspiel eine Problemsituation zu lösen (sich bspw. aus Pressingdruck zu befreien, Räume zu öffnen oder Durchbrüche zu kreieren). Wie die das dann machen, ist relativ offen – Hamilton führt als fundamentales Element ja toco y me voy an (also Paß und Loslaufen, um höher auf dem Feld schnell wieder anspielbar zu sein). Kann aber auch ein Doppelpaß sein oder Steil-Klatsch beinhalten oder zwischendrin auch kurzes Ballhalten oder ein Dribbling oder eine Finte (oder bei dreien ein Balldurchlassen – da gehen dem Verteidiger dann ja die Lichter aus ;~))… Die Idee schien mir vor allem zu sein, daß zwei, drei Spieler spontan durch geschicktes Lauf- und Kombinationsspiel schnellen Raumgewinn in kleinräumigen Situationen generieren und sich dabei in Strukturen ergeben, die eben sehr situationsfokussiert sind und sich nicht an positionellen oder sonstigen strukturellen Vorgaben des Trainers orientieren und auch (wenig) an eingespielten Soll-Abläufen.

… was natürlich in gewissem Sinne nicht innovativ ist und von jeder Mannschaft auf dem Planeten in gewissem Maße gemacht werden muß. Aber ich fand es als Konzeptualisierung insofern hilfreich, als es einen etwas anderen Blick auf gewisse Spielsituationen ermöglicht (mir jedenfalls!) als mit einem raum- und positionsorientierten Beobachtungsansatz. Aber kann auch gut sein, daß ich einfach nicht das Talent habe, im Live-Bild genug verschiedene Spielmuster gleichzeitig zu erkennen, und daß es für andere alltäglich oder gar ein alter Hut ist.

Zu „optionsorientiert“ habe ich jetzt spontan mit der Suche nichts gefunden, da ging es eher nur um die Frage der Orientierung in der Defensive bzw. im Pressing (quasi mannorientiert/raumorientiert/optionsorientiert). Falls Du über einen solchen Artikel mal stolpern solltest, sag gerne Bescheid, würde mich interessieren.

Was ich meinte mit meinem Zweifel am apositionalen Verteidigen war einfach, daß ich stark vermute, daß das de facto niemand macht, weil es mit großer Sicherheit noch viel schwieriger wäre, als offensiv extrem apositional zu agieren. Und Hamilton beschreibt als defensives Element auch nur ein einziges, nämlich das Ausnutzen von (ursprünglich offensiv begründeten) Seitenüberladungen für (Gegen-)Pressing zur Seitenlinie hin. Aber daß das allein noch keine Verteidigung macht, ist ja unzweifelhaft.

> Am ehesten würde ich sogar noch die Positionsspieltrainer als fähig ansehen, tatsächlich positionslos zu spielen, weil bei denen in optimaler Umsetzung alle Spieler:innen überall spielen können, weil sie eben überall nach denselben Grundprinzipien agieren

Das ist ein guter Punkt und ich kann mir das in einem praktischen Sinne auch sehr gut vorstellen – das ist ja eine Grundlage des Positionsspiels, daß es zweitrangig ist, WER die entsprechende Position besetzt, solange sie nur besetzt ist. Aber ich nehme an, ein „Relationist“ würde umgehend entgegnen, daß das ja gerade nur erneut die fundamentale Positionsorientierung zeigt und er hingegen aber will, daß dieses Fundament aufgelöst wird. Aber da wird es mir dann wie gesagt schon viel zu ideologisch und spekulativ und ich weiß nicht, ob irgendein Fußballspielender irgendetwas durch diese Ideologien und Spekulationen gewinnen kann. Wie Du sagst, wenn man das an einem Beispiel zeigt, gerne, aber ansonsten beschäftigt man sich dann doch lieber mit dem, was es tatsächlich gibt.

Eine interessante und ungleich realitätsnähere Frage wäre mal (und zwar ganz Sinne Deiner obigen Anmerkung), wie „positionsorientiert“ die „Positionsspiel-Mannschaften“ in diversen Spielphasen überhaupt wirklich sind. Ist ja das eine, sich den tiefen Aufbau anzugucken und festzustellen, daß die wirklich ziemlich genau so stehen, daß Paßnetze von geradezu mathematischer Präzision und Symmetrie entstehen; aber je mehr Bewegung ins Spiel kommt und je näher man vor allem dem einen oder anderen Tor kommt, desto mehr entstehen da unweigerlich wieder chaotische Elemente. Oder das wäre jedenfalls meine These. Und ich meine damit nicht Ausnahmen vom Diktum der Positionsbesetzung wie die Messi-Freirolle oder auch Haalands alligatorhaftes Lauern und Vorschnellen im Sechzehner, das sich um Struktur wenig schert, sondern einfach kompromißlos die Abschlußsituation sucht, sondern eben gerade, daß diese Grundstrukturen für JEDEN Spieler immer nur die Ausgangslage sind, aus der heraus dann erst die tatsächlichen Problemsituationen gelöst werden können. Und nicht SELBST bereits die Lösung für alle Probleme. Und da ist man eben wieder bei der Frage, welche apositionalen oder relationalen Elemente diese Mannschaften tatsächlich längst nutzen und nutzen müssen.

> Das hier ist für mich übrigens dann „philosophisch über Fussball diskutieren“.

Ja, ging mir bei Hamilton spezifisch darum, daß er sich tatsächlich an mehreren Stellen auf die akademische Philosophie (also die Wissenschaft) bezieht und das aber in einer wissenschaftlich reichlich hanebüchenen Weise tut. Im umgangssprachlichen Sinn kann man das Nachdenken über Fußballtheorie meinetwegen gerne als „Philosophieren“ bezeichnen. Geht mir in beiden Fällen letztlich nicht um Termini, sondern nur darum, daß man es sinnvoll und sachlich und nachvollziehbar tut und kein inkohärentes Gelaber von sich gibt und folglich gut inhaltlich (wie es hier der Fall ist) diskutieren kann.

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E.A. 29. Dezember 2023 um 05:08

Diniz ist kein schlechter Trainer und hat Potential, dennoch muss man beim Hype und diesen Hipstern vorsichtig sein. Es fehlt erstaunlich viel bei der Einordnung worum es im Fußball geht.

Der Fußball ist nunmal mittlerweile in einem gewissen Alter, stand schon unter vielen Einflüssen und hat eine Entwicklung durchgemacht, wir sollten es mittlerweile wie einen Erwachsenen behandeln.

Bei Ajax war ten Hag noch ein „Relationist“, einer von ihnen, bei ManUtd ist ein „böser Positionist“.
Klopp ist trotz eines Assistenten wie Lijnders ein „Relationist“, solange er Erfolg hat.
Jesus der schon immer mit Flügelüberladungen gewisse Dynamiken kreiiert hat ist bei Erfolg plötzlich „Brasilianer“.

Auch sind „Relationisten“ zufällig einfach oft Teams die 4-2-3-1, 4-3-1-2, 4-2-2-2, o.ä. spielen.
So hat es sich jahrelang hingezogen, bei Gegenwind wurden immer Argumente hinzugedichtet.

z.B. sei man beim Positionsspiel schon in Position, bei Relationisten würde man erst in der Position ankommen.
Jesus, der einfach wie immer grundlegende port. Methodik der Dynamikerstellung verwendet, sei deshalb eher Relationist.

Bei einer solchen Herangehensweise kann man jedem möglichen Paket an Prinzipien einfach einen eigenen Namen geben.
de Zerbi können wir von nun an als „Zentralisten“ bezeichen, usw.

Dieselben, die jahrelang – basierend auf oberflächlichem, dogmatischem copy&paste-Halbwissen – Guardiola-Gatekeeper/Türsteher waren, haben nun offensichtlich ein neues Spielzeug gefunden.

Es wird eine populistische Grundlage nach dem Motto „Fußball ist zu wissenschaftlich“ aufgebaut, um danach pseudo-philosophisch und „politisch“ motiviert einen vermeintlichen Gegenpart zu repräsentieren.

Aber die Mathematik hat sich von der Philosophie getrennt, weil durch zuverlässige Methoden exakte Kenntnisse erlangt werden konnten, empirisch überprüfbare Antworten der Naturwissenschaften.

So auch im Fußball, man hat von der Vergangenheit und anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelernt und seit den 80’ern ein „vererbbares Wissen“ geschaffen, all dies soll man für das nostalgische Verlangen nach der bras. Mannschaft der 70’er ignorieren oder verwerfen, anstatt selbst davon zu lernen und darauf aufzubauen.

Nicht umsonst reden etliche Top-Trainer etwa seit Jahren davon, dass Prinzipien wichtiger sind als Formationen, es geht eben mehr um Verhaltensweisen, Dynamiken, Entscheidungsfindung, Mentalität, etc.

Hamilton war mal sowas wie ein Pep-Dogmatiker, nun ist es ein anderes Extrem.
Lustig bloß, dass er bis zuletzt keine Ahnung von den Arbeiten Paco Seirul-lo und seiner Sozio-affektive Überlegenheit hatte, also völlig ohne Grundlagenwissen.

Noch lustiger wird es wenn man weiß wie sehr Spanier und Portugiesen von Tele Santana beeinflusst wurden und ihn lieben.
Aber ja die Holländer und Ungaren haben Spanien, Portugal, Brasilien, Deutschland, etc. beeinflusst, sie selbst wurden von den Engländern und Schotten beeinflusst.

Auch in der Trainerausbildung beruft man sich auf diese wissenschaftliche Literatur, gerade die Spanier und Portugiesen haben diese Entwicklung zuletzt angetrieben und dienen als Inspirationsquelle, Jesus & Lijnders verfolgen die port. Methodologie.

Und es ist mir ein Rätsel wie man ohne Wissen über die spanische (Paco Seirul-lo) & portugiesische (Vitor Frade) Taktische Periodisierung so eine starke Position vertreten kann, ganz vereinfacht trennt diese beiden der Fokus auf Struktur/Netzwerke und Dynamiken.

Beide haben aber denselben Ausgangspunkt wie ihn auch ein Lobanovsky hatte, ein Framework das vieles bietet.
Ihnen liegt die Komplexitätswissenschaft zugrunde, schon Lobanovsky stand im Einfluss des System-Theoretikers Ludwig von Bertalanffy und des Kybernetikers Norbert Wiener, schon ihnen ging es um organische „selbstregulierte Systeme“.

Und gerade die port. Methodologie wurde stark vom Soziologen Edgar Morin und seiner „Tetralogy of Complexity“ beeinflusst.

Die Entwicklung geht also dahin, dass das Team als solches sich immer an jede Situation anpassen können soll.
Eine solche Diskurs beschäftigt sich allerdings garnicht erst damit wo wir aktuell überhaupt sind, das „Status Quo“ ist für sie eine fiktive Vorgabe von Guardiola, damit ist es eine Scheindiskussion mit einem vorgefertigten Narrativ.

Ironischerweise sehen „Relationisten“ also gerade selbst eine Fußballmanschaft nicht wie einen Organismus an, sondern versteifen sich im Grunde auf schwache Begriffe aus dem Schach, die sich mit den Jahren auf den Fußball übertragen haben.

Da ich den bras. Twitter-Account Josef Boszik schon min. 6 Jahre, ist es mE eigentlich ein Armutszeugnis, dass es solch ein unfundiertes Geschwafel langsam ins Mainstream schafft.

Eigentlich könnte ich man noch mehr ins Detail gehen, aber Jon Mackenzie fasst die Situation grob zusammen. Martin zitiert in seinen Tweets auch einen Twitter-Thread von ihm, ebenfalls auf den Punkt gebracht.
https://www.youtube.com/watch?v=ezLyKz7R1es

E.A. 3. Januar 2024 um 20:07

Was ich noch hinzufügen möchte ist: Tele Santana = Futsal

Spanien, Portugal und Russland sind wohl die besten europ. Futsal-Länder.
Auch Guardiola nimmt sich etwa Prinzipien aus dem Futsal:
https://www.youtube.com/watch?v=BfqLp97xfCc

Im span. und port. Fußball ist das völlig normal.
In diesem Sinne ist die Individualtaktik ist ein wichtiger Bestandteil, man versucht die Qualitäten der Straßenfußballer zu begreifen und zu implementieren.

Selbst ein van Gaal hat schon in den 90’ern ähnliche Prinzipien genutzt.
Fenerbahce unter Zico war ein Team welches gefühlt nur Futsal-Prinzipien nutzte und sonst eher unorganisiert erschien.

Dass Diniz ein ehemaliger Futsal-Spieler ist und Futsal-Prinzipien nutzt wird z.B. auch viel zu oft übergangen, genauso wie sein Psychologie-Studium, was ihm im Man-Management bestimmt sehr hilft.

Aber nun zu folgern, dass das eine von den Spielern ausginge, das andere aber „von oben herab“ den Spielern diktiert wird, ist nicht bloß ein Fehlschluss, sondern mMn ein offensichtlicher Bestätigungsfehler.

Um mit solchen Unwahrheiten aufzuräumen hilft z.B. folgende Zusammenfassung:
https://www.slideserve.com/gen/methodological-and-conceptual-obstacles-in-the-realization-of-tactical-periodization

Während man eigentlich versuchen sollte Dogmatiker der bestehenden Methodologien aufzuklären, kommen nun neue (unterkomplexe) Dogmen hinzu, was einfach sehr schade und ermüdend ist.

In Sachen Soviets kann man zusätzlich den Einfluss des Ice Hockeys erwähnen:
https://thesefootballtimes.co/2016/11/09/vsevolod-bobrov-stalins-red-army-school-and-the-soviet-unions-fusion-of-football-and-ice-hockey/


WVQ 26. Dezember 2023 um 18:40

Cool, fast schon mehr ein teasernder Einführungsartikel als eine Spielanalyse. Der verlinkte Artikel ist tatsächlich auch sehr aufschlußreich (wenngleich ausladend romantisch – aber gut, es ist Fußball!).

Ich bin in entsprechenden Zwitscherkreisen nicht unterwegs, kann mir anhand Deiner Kommentare die Debatte aber schon ausmalen: System gegen System, These und Antithese, wechselseitige Widerlegung, Schwarz und Weiß… wo es am Ende viel interessanter ist, sich mit den konkreten Spielmotiven zu beschäftigen, die letztlich alle in irgendeiner Weise bei jedem Ansatz vorkommen (können) und ganz sicherlich jeden bereichern könn(t)en, weil Fußball einfach Fußball ist und keine Mathematik oder Philosophie. Der eine Ansatz fokussiert (und fördert) die Struktur mehr und der andere Ansatz das opportunistische Zusammenspiel, aber weder ist das letztere deswegen strukturlos noch das erstere nicht auf Opportunismus angewiesen. Usw. usf. Freilich ergeben sich je nach Fokussierung durchaus Extreme und „Gegensätze“ (wie etwa bei den oben besprochenen Mannschaften), aber wie Du es selbst schon sagst (und wie es letztlich sowieso immer auf der Welt ist), reden wir am Ende von einem Spektrum… und auch nicht nur von einem, weil es ja nie nur ein Aspekt ist, der wenig oder stark ausgeprägt ist, sondern unzählige. Und am Ende spielen den Fußball ohnehin die Spieler und nicht die Trainer und schon gar nicht die Lehnstuhl- (oder Twitter-)Theoretiker.

Übrigens fände ich es sehr hilfreich, wenn Ihr bei Spielverlagerung (wenn es schon aus verständlichen Gründen kaum noch neue Artikel gibt) gelegentlich mal einfach Hinweise auf externe Artikel wie den oben verlinkten posten würdet. Womöglich auch nur gesammelt einmal im Monat oder alle paar Monate. Vielleicht mit einem kleinen Zweizeiler dazu, worum es da grundsätzlich geht und warum das fußballtheoretisch interessant ist. Für Laien wie mich, die in keinen Taktik-Zirkeln unterwegs sind (und auch nich auf Twitter o.ä.), wäre das eine gute Möglichkeit, mitzubekommen, was in Eurer Welt eigentlich so vorgeht. Und vielleicht ja auch ein einigermaßen aufwandarmes Mittel, Spielverlagerung als Webseite weiter ein bißchen am Atmen zu halten.

… nur mal so eine Idee!

Ansonsten nochmals danke für den Adventskalender und allen Spielverlagerern und auch den verbliebenen fellow Kommentaren einen guten Jahresausklang und ein angenehmes neues Jahr.

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MR 26. Dezember 2023 um 21:10

Sehr gute Idee, dank dir.

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