Türchen 18: Dynamische Aktivität und frühzeitige Überladung

Fluminense gelangt durch gute Folgebewegung des abgekippten Sechsers und die Effekte der massiven Rechtsüberladung gegen einen in Führung passiv gewordenen Gegner in den Zwischenlinienraum.

Wer hat nicht schon erlebt, wie stark der Faktor Spielstand aus strategischer Perspektive einen Spielverlauf prägen kann. Mannschaften, die führen, ziehen sich manchmal zu weit zurück, und nach einem Gegentor werden Teams „plötzlich“ besser, weil sie danach die Initiative ergreifen müssen und mehr Ballbesitz haben.

Als Kontext nahm der Faktor Spielstand auch für diese Szene aus der zweiten Halbzeit des Fla-Flu-Klassikers zwischen Flamengo und Fluminense eine wichtige Rolle ein: Flamengo lag nach starkem ersten Durchgang verdient vorne und konzentrierte sich anschließend vorwiegend auf das Verteidigen. Bei Fluminense verließ ein Innenverteidiger den Platz und einer der beiden Sechser übernahm dessen Part, wodurch die drei hintersten Akteure sehr flexibel aufbauten. Sie waren nicht so klar in der Höhe eingeschränkt und an ihre Grundpositionen gekoppelt wie die meisten „konventionellen“ Innenverteidiger (wobei auch die bei Fluminense ohnehin nicht konventionell sind). Man sieht in der Ausgangslage auch die bei Fluminense typische starke Überladung der ((halb)rechten) Seite. In dem Zusammenhang sieht die Szene etwas ungewöhnlich aus, weil Flamengo dagegen seinerseits frühzeitig weit(er als sonst) herüberschob.

Strukturell hatte Fluminense ein 3gegen2 gegen Flamengos Defensivformation in der ersten Linie und konnte dies auch tatsächlich praktisch ausspielen. Wichtig war Martinellis Verhalten als abkippender Sechser: Er hatte sich zunächst zentral zwischen seine beiden Kollegen zurückfallen lassen, Nino so eine breitere Position und ein besseres Andribbeln ermöglicht. Häufig kommt in vergleichbaren Situationen aber irgendwann der Knackpunkt, dass der von der Halbposition andribbelnde Innenverteidiger außen doch zugeschoben wird, weil der eine Sechser fehlt und der andere vom Gegner gut genug kontrolliert werden kann.

Diesem Schicksal konnte die aufbauende Mannschaft hier entrinnen, obwohl sie zunächst einmal überhaupt gar keinen Spieler in der Nähe des Sechserraums hatte: Dafür startete Martinelli aus seiner abgekippten Position dynamisch wieder nach vorne und löste sich so hinter dem ballnahen Stürmer in den freien Raum weg. Potentiell hätte Flamengo auch dieser dynamischen Freilaufbewegung durch die eigenen Zentrumsspieler etwas entgegen setzen können, aber das wiederum funktionierte nicht – mit bedingt durch die Folgewirkungen der Überladungssituation.

Neben der Aktivität nach dem Abkippen kann die Szene also auch Aufschlüsse zum Thema Überladung bereithalten. Es bietet sich an, von den beiden Außenverteidigern Fluminenses auszugehen, zumal der Rechtsverteidiger im Fortgang der Situation auch den Ball von Nino erhielt. Samuel Xavier hatte eine passende Höhe zwischen erster und zweiter Defensivlinie, so dass er nicht so leicht unter Druck zu setzen war und der gegnerische Flügelspieler Éverton zu spät kam. Dieser hätte einfach höher starten können, traute sich aber wahrscheinlich nicht, weil direkt in seiner Nähe mit Lima ein dritter breiter Spieler zwischen Rechtsverteidiger und hohem Rechtsaußen stand. Samuel Xavier hatte es daher auch einfacher, flacher entgegenzukommen.

Demgegenüber rückte sein ballfernes Pendant Diogo Barbosa auf links weit auf und drückte den dortigen Flügelspieler zurück. Flamengo verlor einen Mann in der Viererlinie des Mittelfelds. Damit wiederum hatte die Doppelsechs weniger Unterstützung und neigte ihrerseits dazu, vorsichtiger und passiver zu agieren. Theoretisch hätte auf jener Seite der Flügelspieler ebenso höher bleiben können statt mannorientiert nach hinten zu verfolgen – aber auch Luiz Araújo fühlte sich dazu veranlasst wegen der Unsicherheit, ob sein Außenverteidiger hinter ihm den Gegenspieler würde aufnehmen können. Die Schwierigkeit entstand dadurch, dass Flamengos Rechtsverteidiger vergleichsweise weit durchschieben musste, da dies die gesamte Kette tat – als Reaktion auf die massive Besetzung des Gegners auf dessen rechten Seite.

Am Ende wurden die Abstände zwischen den vier mittleren Spielern des nominellen 4-4-2 (und auch zu den Stürmern, wobei diese sich noch am einfachsten auf eine andere Höhe hätten begeben und nach hinten anschließen können) zu groß. Die Folge war eine Kettenreaktion, als Samuel Xavier den Ball auf Martinelli nach innen spielte: Die Sechser kamen auf diesen nicht schnell genug heraus, auch weil sie so viele Gegenspieler im Rücken hatten – Fluminense konzentrierte quasi seine gesamte Zwischenraumbesetzung auf eine bestimmte Zone statt sie auf mehrere Feldbereiche und die dortigen jeweils möglichen Zwischenräume aufzuteilen. So konnte Martinelli erst andribbeln und dann gegen das Herausrücken der Sechser einfach hinter die beiden spielen.

Kleine Randbemerkung: So wie Fluminense sich hier in der Szene (frühzeitig) positioniert har (und die Wortwahl passt eben), läuft am Ende der Ball zu den Positionen und nicht nur (wie eher bei Martinelli) umgekehrt. Auch der Trademark-Move der diesjährigen Saison mit beiden Flügelspielern des 4-2-3-1 auf einer Seite, der im Libertadores-Finale gegen Boca das 1:0 brachte, spielte das Team oftmals als temporäre Umformung. „Jogo aposicional“ (die Selbstbeschreibung von Trainer Fernando Diniz) ist also nicht ganz „positionslos“ und vor allem nicht genaue Antipode zu „Ordnung“.

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