Türchen 9: Defensive Aktivität auf Sprung

Chelseas starke Leistung gegen den Ball beim Titelgewinn im CL-Finale 2021 als Timing-Erfolg.

Hinter dem heutigen Türchen verbirgt sich die große Bühne: Ein Champions-League-Finale, das von 2021 zwischen Chelsea und Manchester City. Der Titelgewinn für das Team von Thomas Tuchel war damals etwas überraschend, fußte aber auf einer enorm flexiblen Defensivvorstellung aus dem 5-2-3 heraus.

Besondere Eckpfeiler der Herangehensweise Tuchels im Duell mit Pep Guardiola waren die extrem weiträumigen Herausrückbewegungen der Halbverteidiger auf offene Räume ins Mittelfeld und die ausgeprägte Aktivität der einzelnen Spieler, die eigene Position jeweils immer wieder neu anzupassen und fein zu justieren.

Gerade Timing und gewissermaßen auch defensive Geduld spielten eine Schlüsselrolle: Chelsea verstand es geschickt, sich nicht frühzeitig locken zu lassen und bei gegnerischen Andribbel-Möglichkeiten nach Raumgewinn nicht hektisch zu werden, beispielsweise aus der Position unnötig herauszugehen oder sich vorschnell für eine Bewegung nach innen oder außen zu entscheiden. Die Spieler waren stets auf Sprung und lauerten durchweg, aber warteten so lange wie möglich, bis sie tatsächlich sprangen – und da trafen sie die Moment sehr oft gut.

Illustrieren kann man das an den „äußeren“ Offensivspielern in den Halbpositionen des 5-2-3, Havertz und Mount. Sie orientierten sich grundsätzlich vor dem Passweg zum Außenverteidiger, Mount gegen den im Dreieraufbau enger und flacher stehenden Walker, Havertz gegen den einrückenden Zinchenko (oder alternativ den breiten linken Innenverteidiger, je nach Umständen).

Dafür nahmen sie es in Kauf, den Halbraum leicht zu öffnen und kleine Passfenster zuzulassen, aber blieben wachsam, dass diese nicht zu groß wurden und dass sie noch einigermaßen schnell wieder würden einschieben können – zudem im Wissen, dass im Zweifelsfall die Halbverteidiger über sehr weite Strecken nach vorne attackieren durften. Dafür blieben die beiden Halbspieler auch ballfern oftmals hoch und teilweise für eine ballferne Position überdurchschnittlich breit, eher im äußeren Halbraum.

Dies wird im Falle Mounts auch in der Szene deutlich, der eine schnelle einfache Verlagerung über Walker erschwert. Eine Besonderheit der Situation ist die starke Verschiebung nach links von Citys Dreieraufbau – im Anschluss an einen beinahe erfolgten größeren Raumgewinn breit über den dortigen Flügel. Nachdem der Ballvortrag nochmals abgebrochen werden musste, konnte Stones als – situativ halblinks stehender – zentraler Verteidiger kurz andribbeln.

Durch die flache Position von Werner unmittelbar vor den beiden Sechsern, die drei zentralen Verteidiger und das Nachschieben von Havertz hat Chelsea viel Präsenz mit kurzen Abständen im Zentrum und in den Halbräumen. Wegen der nicht klar besetzten Sechserposition musste City stark auf das Andribbeln setzen.

Während Stones dies macht, bleibt Mount nah an Walker und öffnet damit grundsätzlich den Passweg diagonal auf den in den äußeren Halbraum ausweichenden Bernardo Silva – aber nicht zu weit und noch aufmerksam mit dem Blick dorthin. Man sieht, wie Rüdiger als Halbverteidiger bereits in die Richtung des nominellen gegnerischen Achters lauert und sich dafür auch aus dem Verbund der Fünferabwehr abkoppeln kann. Werner schiebt langsam vor, so dass Dias nicht weiter frontal dribbeln kann und sich nach halbrechts orientieren muss: Seine Optionen laufen also endgültig auf die Frage zwischen Bernardo Silva gegenüber Walker hinaus.

Mount wartet in dieser Situation sehr lange, schiebt wieder etwas nach hinten und bleibt quasi genau zwischen beiden Passwegen, ohne einen von beiden zu schließen. Er lässt sich auch nicht von Stones provozieren – eine Passivität, die den ballführenden Verteidiger irritiert und schließlich gerade ihn unruhig werden lässt. Mount findet intuitiv einen guten Mittelweg, weiter den Kontakt zu Walker zu halten und zumindest so nah am Passweg zu Bernardo Silva zu sein, dass Stones sich am Ende nicht ganz sicher ist, den Ball spielen zu können.

Stones kappt ab und orientiert sich zu Walker. Wiederum passt bei Mount die Aufmerksamkeit: Er erkennt, dass die Entscheidung Stones’ getroffen ist, er sich nicht mehr um den Passweg zu Bernardo Silva kümmern muss und wieder hochschieben kann. Die gewonnene Zeit nutzt er, um diesen Weg im Bogen zu machen und dadurch auch Walker wieder von Bernardo wegzudrängen und zur Verzögerung zu zwingen.

Was Mount in der Szene vorführte, kommt grundsätzlich jetzt nicht so enorm selten in Fußballspielen vor, aber oftmals mit schlechterem Timing, so dass man irgendwann dem Gegner hinterherläuft, weil die eine oder andere eigene Reaktion nicht ganz so sauber direkt auf die gegnerische Aktion folgt und man in einen „time-lag“ gerät: Man macht eine Option zu, der Gegner wählt die andere, man geht auf die andere – aber wenn man etwas zu spät ist, funktioniert das ganze in der Folgesituation oder im übernächsten Moment nicht mehr.

Im weiteren Verlauf der Szene fand City nach einem neuerlichen Pass auf Dias übrigens einmal einen Passweg in den Chelsea-Block hinein, von Stones auf den eingerückten Zinchenko, zwischen Havertz und Werner hindurch. Daraufhin kam zudem das weiträumige Vorverteidigen der Halbverteidiger besonders exemplarisch zum Zuge, indem Azpilicueta quasi an Jorginho vorbei (der zudem gerade de Bruyne aufgenommen hatte) auf Zinchenko herausrückte.

Da Kanté ballfern noch breiter stand, war eigentlich der gesamte Sechserraum geöffnet, aber City gelang es mit den vielen breiten Rautenstaffelungen über die ausweichenden Mittelfeldbewegungen nicht zuverlässig, diesen dynamisch zu besetzen. In der Szene hatte Zinchenko durch seine Körperstellung sogar eine Fortsetzungsmöglichkeit nach innen und Azpilicueta kam knapp zu spät.

Gündogan reagierte gut, indem er sich von der Sechs nach vorne freilief – eigentlich unangenehm für Chelsea, aber erneut klärte die enorme Aktivität in der defensiven Orientierung die Angelegenheit: Kanté startete von Foden aus dem ballfernen Halbraum nach innen und presste diagonal auf Gündogan (und konnte gleichzeitig Foden im Deckungsschatten behalten).

Auch Chelsea arbeitete also seinerseits – in dem Fall gegen den Ball – mit vielen Bewegungen der Mittelfeldakteure in die Breite, um zum Flügel durchzuschieben, und nutzte dies sehr aktiv, um das zwischenzeitlich geöffnete Zentrum dynamisch wieder zuzuschieben, was dann oft automatisch unangenehm von außerhalb des gegnerischen Sichtfelds passiert. (Klärende Randbemerkung natürlich: Damit das letztlich funktioniert und die temporär geöffneten Räume nicht dynamisch bespielt (was eben sehr anspruchsvoll ist und selbst City in dem Fall schwerfiel) werden können, muss die Umsetzung sehr gut sein, wie es Chelsea im Porto gelang. Zudem profitierte Chelsea natürlich von den seltenen Ausweichbewegungen beim Gegner in der Besetzung hinter und um die herausrückenden Halbverteidiger.)

Auch im letzten Teil der Szene vor allem mit dem Nachschieben Kantés war der Schlüssel wieder eine Frage des Timings. Wie man geduldig auf Sprung sein kann, illustrierten wenige Fußballspiele so anschaulich wie dieses.

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