Türchen 6: Herauskippen neben den Zentralverteidiger und Aufrücken der Halbverteidiger

Facetten des Leverkusener Ballbesitzspiels unter Xabi Alonso.

Bayer Leverkusen hat in dieser Saison unter Xabi Alonso für großes Aufsehen gesorgt, durch die eigenen Ergebnisse wie durch die Spielweise, und konnte immer wieder durch hervorragende Elemente im eigenen Ballbesitzspiel begeistern.

Im Topspiel gegen Borussia Dortmund am vergangenen Wochenende war die Einbindung der Halbverteidiger interessant, die sich eher breit (außer bei flachen, kompakten Positionen beider Sechser davor) und vor allem aufrückend bewegten.

Da Bayer stets zwei Breitengeber vorne hatte und die Dortmunder Sechser den gegnerischen Zehnern mannorientiert folgten, wenn diese sich in hohen Zonen bewegten, aber nicht so sehr, sobald einer von ihnen sich zurückfallen ließ, war für die „Werkself“ in den ersten Linien immer wieder ein effektives Ausnutzen der theoretischen Überzahlen dort möglich. Gegen die vier vorderen, eng stehenden Dortmunder – zumal sehr passiv ausgerichtet, als hätten sie keinen klaren Auslöser zur Orientierung – spielte Leverkusen in der Folge wie in einem kleinen Rondo und erzwang häufiges Hinterherlaufen. Irgendwann kam Bayer aus der stark auf Zentrum und Halbraum orientierten Aufbaustruktur an den ersten Gegnern vorbei. Nur machten sie aus den vielversprechenden Übergangssituationen, in welche sie dadurch hineinkamen, in jener Partie unterdurchschnittlich wenig im Ausspielen, gerade in der ersten Halbzeit nicht zuletzt aufgrund geringer Präsenz in den vorderen Linien (Nachrückbewegungen, Tiefenläufe).

Die aufrückenden Aktionen der Halbverteidiger traten vor allem im Verbund mit Abkippbewegungen eines Sechsers in die erste Linie auf. Vor allem Xhaka ließ sich oft neben den Zentralverteidiger in einem Halbraum zurückfallen, wie auch in der Szene dieses Türchens, während Palacios die Grundposition vor der Abwehr hielt.

Theoretisch könnte Dortmund versuchen, in 1gegen1-Zuteilungen einfach ballnah anzulaufen. Durch die kurzen Passwege und die Asymmetrie der ganzen Anlage bei Leverkusen ist Palacios aber nicht leicht über Deckungsschatten zu schließen. Bynoe-Gittens versucht hier, dagegen weit einzurücken. Später kommt für Leverkusen Wirtz dazu und befindet sich zusätzlich im Umkreis von Bynoe-Gittens, worauf Can veranlasst wird, sogar mal auf Palacios rauszuschieben.

Das passiert allerdings erst, nachdem Xhaka zuvor langsam angedribbelt bzw. genauer mit dem Ball nach vorne gegangen ist – und Dortmund dagegen zurückweicht. Dafür war die nahe Position von Tapsoba wichtig, der nur minimal vor Xhaka hochschob und so eine direkte seitliche Ausweichoption blieb, die den BVB zögern ließ, zumal davor wiederum der eigentliche Breitengeber Grimaldo in der nächsten Linie stand. Tapsoba rückte schließlich weiter auf und Grimaldo dafür ein.

Nach Xhakas gehendem Aufrücken wurden Can und vor allem Bynoe-Gittens durch die Bewegungen der Leverkusener Zentrumsspieler weit zum Ball gezogen. Palacios drehte ab und Wirtz kam aus dem Rücken der Gegenspieler als kurze Anspielstation zum Ball. Über einen Klatschball Xhakas mit Wirtz wurde Bynoe-Gittens angelockt und endgültig hinübergezogen, die ballferne Seite also noch mehr geöffnet – wo schließlich der Kossounou ins Spiel kommen sollte.Wichtig war, dass sich Palacios genau auf den Klatschball sauber zwischen Brandt und Reus positionierte, um sie zu binden und mögliches Nachjagen zu vermeiden.

Der offene Spieler im geöffneten ballfernen Halbraum war also Kossounou: Indem dieser noch ein Stück höher schob, löste er sich nach vorne aus dem Deckungsschatten von Füllkrug und konnte so auch als jener nominell offene Spieler praktisch genutzt werden.

Xhaka verlagerte auf Kossounou, der andribbeln konnte. Gutes Nacharbeiten von Bynoe-Gittens führte dazu, dass der Raumgewinn nicht so massiv ausfiel, wie er hätte sein können. Kossounou musste daraufhin abbrechen und auf Frimpong nach außen spielen. Der hauptsächliche Effekt der Szene war zunächst also ein Zurückdrängen des Gegners.

Über Xhakas flache Position und die verschobenen Sechser insgesamt hatte Leverkusen den Gegner passiv halten, zusammenziehen und so den ballfernen Halbraum für das Andribbeln öffnen können, von wo aus der anschließende Pass nach außen die Dortmunder endgültig zwang, zurückzuweichen. Anschließend verlagerte Leverkusen auf die andere Seite und hatte gute Aussichten, den Gegner einzuschnüren – wie es über einige Phasen gelang in jenem Spiel.

Die konkrete Szene bot in ihrer Fortsetzung noch ein weiteres Detail: Nach dem Rückpass ging der Ball auf Tah, der auf Tapsoba weiterspielte. In jenem Moment hatte Leverkusen zunächst gar keinen ballfernen Breitengeber, da auch Grimaldo noch in eingerückter Position stand.

Auf den Pass nach halblinks hin fächerten sowohl er als auch Wirtz wieder etwas weiter auf und veranlassten durch diese Aktivität mit Brandt und vor allem Wolf gleich zwei Gegner vergleichsweise leicht dazu, auf den Pass nach außen zu spekulieren. Dadurch öffnete Dortmund aber gerade den Halbraum: Xhaka konnte gegen die Verschiebebewegung innen von Brandt angespielt werden und sofort auf Wirtz weiterleiten. Dortmund hatte den Sechserraum nicht wirklich besetzt, da die defensiven Mittelfeldakteure sich auch auf die Zwischenräume zwischen breiten Außen- und engen Innenverteidigern orientierten bzw. ballfern einfach mannorientiert (wie Sabitzer gegen Hofmann), und dadurch auch Wirtz in der nächsten Ebene Freiheiten.

Zurück zu den Positionen der Leverkusener Halbverteidiger und ihren aufrückenden Aktionen im Verbund mit dem gleichzeitigen Abkippen eines Sechsers: Vom Prinzip könnte man argumentieren, dass man damit nur wiederum eine Viererkette auf andere Weise herstellt, aber die genaue Verteilung ist anders – und in diesen feinen Details entscheidend. Schon allein die Formulierung Viererkette ist dafür insofern unpräzise und irreführend, dass das Konzept der Viererkette im Aufbau nicht immer als solche auftritt und in ganz unterschiedliche Strukturen münden kann.

Im Unterschied zu einer „konventionellen“ Viererkette bekommt man die beiden äußeren Akteure aus den Vier in der Variante, wie sie Leverkusen hier nutzte, viel einfacher in Halbraumpositionen, in die sich einige gelernte Außenverteidiger entweder kaum hinein wagen oder in denen sie sich suboptimal orientieren. Gegenüber dem Außenverteidiger hat der Halbverteidiger konkret den Vorteil, dass er sich schneller und praktischer dynamisch von hinten in jene Bereiche hineinbewegen kann anstatt sie frühzeitiger besetzen oder von außen anvisieren zu müssen.

Indem man immer wieder Aufrückbewegungen von den Halbverteidigern hat, gewinnt man zwischen den ersten Aufbauspielern untereinander wertvolle Tiefe. Wogegen eine normale Viererkette oft dazu führen kann, dass die horizontalen Optionen in der ersten Linie dominieren, ergeben sich ganz andere Möglichkeiten, zuverlässiger diagonale und vertikale Optionen herzustellen.

WVQ 8. Dezember 2023 um 15:48

Ah, sehr schön, endlich mal eine (kleine) Analyse zum wunderbaren Alonso-Leverkusen, die zudem auch in vielerlei Hinsicht repräsentativ für weite Teile des Spiels ist bzw. das Grundmuster auf beiden Seiten gut beschreibt.

Das ungewöhnlich unproduktive Übergangsspiel nach (wie illustriert weitgehend problemlosem) Überwinden der ersten Dortmunder Linie (bzw. Ballung) schien mir in diesem Spiel auch ein entscheidendes Problem zu sein, das die auf tiefe zentrale Dichte ausgerichtete Dortmunder Defensive hat weniger schlecht aussehen lassen, als sie es war. Neben der Raumbesetzung (zwischen den Ketten und dann für Tiefe hinter die letzte Linie) schienen mir auch die Entscheidungsfindung (Ballhalten vs. Weiterspielen, ggf. wohin bzw. welche Körperorientierung etc.) und teils sogar die technische Ausführung für aktuelle Leverkusener Verhältnisse ungewöhnlich mangelhaft, wobei sich beides aber natürlich auch bedingt, da oft ein bis zwei Leverkusener in den Zwischenzonen recht isoliert waren und angesichts (oder auch schon inmitten) der Dortmunder Dichte (bzw. Mannorientierungen im Falle der Zehner) hätten verzögern müssen, was eigentlich dort gerade nicht ihr Spiel ist. Insofern passend, daß Leverkusen Dynamik und tatsächlich auch einige Durchbrüche im rechten Halbraum dann über den aus der Tiefe kommenden Kossounou erzielte. (Und die folgenden Hereingaben scheiterten leider oft daran, daß man es verpaßte, den Strafraum positionell und teilweise auch numerisch richtig zu besetzen, wo Dortmund dort dann im Rückwärtsgang doch endlich nicht mehr alles zustellen konnte – nicht selten gingen die Hereingaben dann aber sogar in einen guten Raum, doch es fehlte dort schlicht ein Verwerter. Das kann Leverkusen eigentlich besser und wurde ja inzwischen auch schon oft genug von tiefstehenden Mannschaften gefordert und gut bespielt.)

Zur Qualität des Dortmunder Ansatzes und dem konkreten Verteidigungsverhalten darin will ich den Text und vor allem die Grafiken mal für sich sprechen lassen…

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tobit 8. Dezember 2023 um 18:07

Hast du zufällig auch das Pokalspiel gegen Paderborn gesehen? Die haben in der Grundsystematik vieles recht ähnlich gespielt. Gerade die bis in die Abwehrkette rein manndeckenden Sechser gegen Wirtz und den einrückenden Grimaldo. Die Ausführung war aber wahrscheinlich einfach deutlich aggressiver und weniger auf die reine Strafraumverbarrikadierung bedacht.

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WVQ 8. Dezember 2023 um 21:38

Nein, leider nicht gesehen. Und ja, der Verbarrikadierungsreflex beim kleinsten Anzeichen von gegnerischem Raumgewinn (Alonso nach dem Spiel: „Sie haben sehr defensiv gespielt, 6-3-1“) ist am Ende das, was den Ansatz offensiv komplett zahnlos macht. Dabei hat man bei dem frühen Tor sogar selbst gezeigt, wo Leverkusen tendenziell anfällig ist: in der tiefen Verteidigung, wenn es selbst mit einem temporeich kombinierendem Gegner konfrontiert ist. Aber das gab es im Grunde nur dieses eine Mal, danach hat sich Dortmund nicht mehr getraut bzw. nicht mal mehr gewollt und Leverkusen hatte alles sowieso fest im Griff.

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tobit 9. Dezember 2023 um 14:42

Paderborn hat genau das in der zweiten Halbzeit ein paar Mal geschafft. Wenn sie da etwas eher den Anschluss machen (und nicht im direkten Gegenzug das 3:1 kassieren), wäre das nochmal richtig heiß geworden. So war es das übliche Spiel eines guten Erstligisten gegen einen willigen aber teilweise mit dem Druck und der Geschwindigkeit überforderten „Fußballzwerg“.

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WVQ 10. Dezember 2023 um 01:56

Wie war denn bei Leverkusen im Paderborn-Spiel die Genauigkeit und Schärfe im Aufbau, insbesondere vonseiten der Innenverteidiger? Alonso spielt ja in der Liga quasi immer mit der gleichen Elf und wechselt in den Pokalwettbewerben dann ordentlich durch, was – soweit ich es verfolgen konnte – teilweise doch (noch) mit einem deutlichen Qualitätsverlust einhergeht. Selber Ansatz, aber deutlich unkonstantere Ausführung… auch wenn der Ansatz immer noch gut genug ausgeführt wird, um die Spiele samt und sonders zu gewinnen, aber wie Du sagst, ist man da teilweise deutlich knapper dran, den Gegner mit ins Spiel kommen zu lassen und dadurch in der tieferen Verteidigung verwundbar zu werden, was man in den Bundesliga-Spielen fast durchgängig verhindern kann. Und ein Schlüssel für die extreme Stabilität in der Liga ist ja, die tiefe Zirkulation sehr eng und aufgrund der hohen Paßfrequenz, hohen Genauigkeit und ausgezeichneten Positionierungen dennoch quasi unpressbar zu halten, um dann immer wieder in unerwarteten Winkeln und oft auch komplett gegen die Verschieberichtung des Gegners scharfe Pässe in die Tiefe zu spielen (und die Flügel dann meist erst aus den Zwischenzonen im Halbraum heraus einzubinden). Wie sah das mit Andrich/Stanisic/Hincapié aus?

Frage auch deshalb, weil das zweifellos noch für die Liga sehr interessant wird, wenn Kossounou und Tapsoba, die das bisher ziemlich brillant machen, dann beim Afrika-Cup sind…

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tobit 10. Dezember 2023 um 10:49

Das Passspiel war grundsätzlich ordentlich, aber auch nicht so wirklich relevant, weil Paderborn das Feld so kurz gemacht hat. Sie haben ordentlich die kleinen Lücken hinter den Offensiven angespielt, egal ob per Querpass oder Ablage von einem Zehner. Meistens suchte Leverkusen aber eh das Flügelspiel um früh hinter die hohe Kette zu kommen. Dabei haben die Halbverteidiger sehr oft fast schon Außenverteidiger gespielt. Also sind ab dem zweiten Drittel ballnah gerne mal am Flügel nachgeschoben. Dadurch konnten Adli und Frimpong die ziemlich mannorientierten Paderborner AV bewegen und entweder den Flügel öffnen oder selbst ein bisschen Freiraum zum reinstarten bekommen.

WVQ 11. Dezember 2023 um 21:02

Der deutlich größere Flügelfokus war mir auch schon in der Europa-Liga mehrmals aufgefallen, bspw. zuletzt mit der 1b-Elf gegen Häcken. Da lag es zum Teil daran, daß man die vertikalen Pässe in Zentrum und Halbraum gar nicht erst spielen konnte, weil man in der Aufbauzirkulation (mangels Tempo und Laufwegen) die Schnittstellen zu selten aufbekommen hat… zum anderen aber auch einfach daran, daß es – wie nun auch in der ersten Halbzeit gegen Stuttgart – ein klares 4-2-3-1 war, entsprechend weniger Aufbaupräsenz im Zentrum und dafür mehr am Flügel. Muß sagen, daß mich das bisher als Ansatz nicht sehr überzeugt. Die AV starten dann zwar im Halbraum, aber wenn man aufrückt, treibt es sie unweigerlich Richtung Flügel, weil man ja ballnah immer noch die zwei Sechser hat und ein enger AV denen einfach auf den Füßen stehen würde. Damit gehen aber dann hinten die im 3-2-Aufbau immer wieder leicht zu bildenden Dreiecke verloren (ergo auch Stabilität und Tempo in der Zirkulation), zugleich die Möglichkeit, bei (dann auch deutlich häufigeren) zentralen Ballverlusten direkt Zugriff im Gegenpressing zu haben, und man hat auch nur noch einen Zehner, der alleine kaum alle möglichen Räume für Schnittstellenpässe besetzen kann, während die Flügelstürmer extrem breit stehen und vom Spielaufbau ziemlich abgeschnitten sind. Das ist Leverkusen gegen Stuttgart jetzt eine Halbzeit lang ordentlich um die Ohren geflogen. (Und in meinen Augen auch wieder ein gutes Beispiel dafür, daß es meist der klügere Ansatz gegen einen stark erwarteten Gegner ist, die eigenen Stärken möglichst zu maximieren, statt sich plötzlich auf etwas zu verlegen, was man sonst gar nicht spielt, nämlich vor allem die Stärken des Gegners zu behindern zu versuchen. – Und Alonso hat ja dann in der Halbzeit auch wieder aufs 3-2-4-1 zurückgestellt und es war umgehend wieder weitgehend stabil und dominant.)

Stuttgart übrigens erneut mit einer Weiterentwicklung seines Zwei-Stürmer-Systems: In der ersten Halbzeit Mittelstädt bei tiefem Ballbesitz und Verteidigen als linker, etwas höherer Halbverteidiger, der immer wieder aggressiv bis in den Zehnerraum durchzog (entsprechend Restverteidigung mit den zwei „echten“ IV + Sechser), Vagnoman demgegenüber sehr früh hoch und breit, fast schon symmetrisch zu Führich (der im tiefen Verteidigen dann auch tatsächlich zur Fünferkette auffüllte); Millot nunmehr wieder deutlich zentraler und generell extrem umtriebig von Flügel zu Flügel und von der letzten Linie bis in den Sechserraum. Stiller dabei meist mehr als positionshaltender Sechser, Karazor öfter mit hoch bzw. nachschiebend. Derweil Guirassy und (noch mehr) Undav ihrerseits oft in den Zehnerraum zurückfallend. Alles sehr fluide mit durchweg umsichtiger Positionsbesetzung (aggressiv, ohne wild zu sein), so daß man über Flügel und Halbräume immer wieder mit viel Personal die Lücken zwischen den Linien fand bzw. ebensolche produzierte und von da sein schnelles Kombinationsspiel aufziehen konnte. Dazu weiterhin aggressives Angriffspressing, mit dem Leverkusen aus besagten Gründen eine Halbzeit lang überhaupt nicht klarkam. (Zweite Halbzeit bei Stuttgart dann aber über weite Strecken wieder klar 4-4-2/4-2-4 – weiß nicht genau warum, paßte zum Leverkusener 3-2-4-1 als Defensivausrichtung vielleicht etwas besser, aber nach vorne kam man damit dann kaum noch.)

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