Türchen 5: Angetäuschter Tiefenlauf

Eine Szene mit individuellen Details, starring Maximilian Philipp.

Zum zweiten Mal im diesjährigen Adventskalender findet sich hinter dem Türchen keine Szene aus der laufenden Saison. Stattdessen stammt sie aus einem fast genau drei Jahre alten Bundesliga-Spiel zwischen Bayern und Wolfsburg.

Vorausgegangen war der Situation eine Verlagerung von Bayern, die ein Wolfsburger Verteidiger ins Mittelfeld zurück geköpft hatte. Dort sammelte Maximilian Arnold den zweiten Ball auf und wurde früh von Müller angelaufen, der ins Gegenpressing überging. Arnold nahm das gut wahr und legte daher den Ball schnell auf Brekalo ab, der wiederum eine Verlagerung auf Schlager spielte.

So weit, so unspektakulär bis dahin: Anschließend begann die Gemengelage interessant zu werden. Schlager benötigte eine Spielfortsetzung und es stellte sich die Frage, ob und inwieweit Wolfsburg nach der raumöffnenden Aktion noch direkt in einen schnellen Konter übergehen konnte und wollte.

Philipp bewegte sich bereits diagonal ballseitig herüber und Weghorst startete aus der Duellzone um den zweiten Ball sofort wieder in die Spitze. Während von bayerischer Seite Druck von oben auf Schlager kam, schien Süle unschlüssig, wie er sich verhalten sollte: Direkt aggressiv herausgehen, um den ballführenden Gegner massiv zu attackieren, aber vielleicht Raum in der Tiefe am Flügel anzubieten, oder zunächst abwarten, ob die Mitspieler gegen Schlager nachschieben würden? Letztlich ging der Münchener Verteidiger weder klar nach vorne noch zurück, so dass Schlager zunächst kurz andribbeln konnte.

Durch Weghorsts schnelles Nachstarten deutete sich für Philipp Unterstützung im Zentrum an, als Ergänzung zum nominellen 1gegen2 gegen die Innenverteidiger. Aber auch schon durch sein eigenes Verhalten gelang es Philipp, den Effekt jener nominellen Unterzahl beinahe wirkungslos zu machen. Nach dem diagonalen Auftakt startete er schnell tief, aber leicht im Rücken von Boateng als ballnahem Verteidiger und vor allem grundsätzlich zwischen den beiden zentralen Abwehrspielern. So musste auch Alaba den Anschluss zu seinem Lauf aufnehmen, recht weit mit nach innen schieben und Boateng sich über die Schulter orientieren.

Danach kam die hervorragende Entscheidung Philipps: Statt einfach weiter tief durchzulaufen und sich ins Sprintduell – dann doch im 1gegen2, weil Weghorst natürlich nicht so weit herüberkam (für einen direkten tiefen Ball wäre dann also nicht Philipp, sondern maximal Weghorst in Frage gekommen, woraufhin sich halbrechts tatsächlich die 2gegen2-Wirkung hätte einstellen können, mit Weghorst im Rücken von Alaba, aber stets unter Vorbehalt des Tempos im Rückwärtsgang von Hernández) – einzulassen, brach er sehr explosiv ab und machte sich sofort mit einer enorm flüssigen Bewegung wieder kurz anspielbar.

Alaba und vor allem Boateng hatten sich schnell nach hinten absetzen müssen und konnten nicht sofort reagieren. Da Schlager gleichzeitig sehr ruhig mit kleinen, kurzen Kontakten diagonal nach außen andribbelte (bzw. fast den Ball hielt), schoben die Mittelfeldakteure der Münchener eher diagonal seitlich und gar nicht so sehr nach hinten. In der Folge vergrößerte sich der vertikale Abstand zu den Innenverteidigern, da diese so weit hatten zurückfallen müssen.

Philipp stieß also in genau jenen Zwischenraum hinein, den er sich selber geschaffen hatte, indem er den Tiefenlauf antäuschte, die Verteidiger dadurch zurück drückte und daraufhin wieder entgegen kam.

Schlagers Bewegungsrichtung war eine wichtige Ergänzung, da sie nicht nur die Mittelfeldspieler der Münchener gut band, sondern auch Süle etwas nach außen lockte. Erst dadurch hatte Schlager letztlich im Moment der Gegenbewegung von Philipp den Passweg, um jenen auch tatsächlich zwischen Tolisso und Süle hindurch anspielen zu können (matte Positionen in der Graphik). Wäre Süle weiter innen vor dem Kanal gewesen, hätte sich der große vertikale Zwischenraum für Philipp weniger bezahlt gemacht für die Wölfe.

In der Folgeaktion hätte Philipp jedoch noch mehr aus der Situation herausholen können: Er schätzte die Lage sehr konservativ oder risikoscheu ein und unterließ den Versuch, Tolisso gar nicht erst wieder hinter den Ball kommen zu lassen. Als er den Pass Schlagers erwartete, richtete sich sein ganzer Bewegungsablauf schon darauf aus, das Leder kurz nach hinten mitzunehmen, Tolisso in dessen Rückzugsbewegung quasi vorbeilaufen zu lassen und dann vor ihm mit dem zweiten oder dritten Kontakt nach innen zu ziehen.

Die Szenerie hätte es aber auch hergegeben, mit dem ersten Kontakt in einer bogenförmigen Mitnahme zur Mitte aufzudrehen, damit also hinter Tolisso (blauer Pfeil). Vielleicht fürchtete Philipp, seinen Körper nicht schnell genug vor die Mitnahmebewegung bringen zu können, aber auch dafür war der bayerische Sechser etwas zu weit weg.

In jenem Fall wäre eine anschließende Verlagerung ballfern gegen die Verschieberichtung sehr gefährlich geworden, um neben der Münchener Restverteidigung durchzubrechen (respektive erst einmal gegen Hernández dann wieder anzudribbeln). In der letzten Linie hatte Hernández zwar grundsätzlich Weghorst aufnehmen können. Aber Baku war außen schon weit nach vorne gestartet und kam als möglicher Empfänger der öffnenden Verlagerung in Frage.

WVQ 6. Dezember 2023 um 01:32

Schönes Beispiel dafür, wie unerwartete Bewegungen (wie hier die des konternden Stürmers plötzlich vom Tor weg) eine kollektive Verteidigungsbewegung buchstäblich ins Leere laufen lassen und ungeahnte Räume öffnen könn(t)en.

Antworten

tobit 6. Dezember 2023 um 09:26

Ich würde eher sagen, dass sie eine unkollektive Rückzugsbewegung offengelegt und ausgenutzt hat. Wenn sich Tolisso und Süle besser verhalten hätten, statt beide im toten Raum stehen zu bleiben, wäre Philipp entweder nicht anspielbar oder zumindest direkt unter mehr Druck gewesen. Aber war natürlich trotzdem sehr gut gemacht von ihm und im Normalfall kein wirklich großes Fehlverhalten der Bayern.

Antworten

WVQ 6. Dezember 2023 um 14:39

Na ja, eine Rückzugsbewegung ist ja nicht nur dann kollektiv, wenn alle gleichzeitig stur nach hinten rennen. Grundsätzlich haben Süle und Tolisso schon an der Verteidigung des Gegenstoßes teilgenommen. Aber klar, irgendwie muß der Raum, den Philipp dann nutzt, ja entstehen. Ich habe mir die tatsächliche TV-Szene eben nochmal angeschaut, und ich stimme der Beschreibung im Text zwar zu, daß Süles Aktion zu unentschlossen ist, aber er mußte ja auch wissen, daß bei aggressiverem Rausrücken hinter ihm ein noch größerer Raum (als ohnehin schon) aufgegangen wäre, den er zudem überhaupt nicht einsehen konnte. Derweil war für Schlager auch der Querpaß auf Arnold eine (sehr leichte und naheliegende) Option, der dann auf den rechten Flügel hätte verlagern können, womit ein aggressiver rausrückender Süle aus der Szene komplett rausgewesen wäre. Am Ende würde ich sagen, daß der Lauf Tolissos das größere bzw. zumindest ein ebenso großes Problem war, da Tolisso weder den fraglichen Raum hinter Süle richtig besetzte noch den Paßweg dahin schloß, so daß Philipp überhaupt erst die Gelegenheit fürs Abdrehen in diesen Freiraum hinein bekam.

Was die von TR vorgeschlagene Ballmitnahme mit dem ersten Kontakt nach innen betrifft, bin ich übrigens unsicher, wie realistisch die wirklich gewesen wäre. Möglich vermutlich schon, aber es ist auf den TV-Bildern schwer zu erkennen, ob eine Vororientierung zum Zentrum hin Philipp nicht un- oder schwerer anspielbar gemacht hätte, und bei dem gegebenen Laufweg wäre ein erster Kontakt nach innen doch sehr ambitioniert gewesen. Sagen wir es mal so: Wenn er das auch noch hinbekommen hätte, wäre es wirklich eine extrem coole Aktion geworden.

Aber in jedem Fall schön herausgesuchte Szene. Im Live-Bild sind das vielleicht zwei Sekunden, die einem aufgrund der konservativen Anschlußaktion Philipps kaum ins Auge stechen.

Antworten

tobit 6. Dezember 2023 um 16:31

Das meine ich ja gerade. Tolisso und Süle stehen da total ungestaffelt, weil sie beide zu individuell statt kollektiv agieren. Und sie sollen ja auch nicht einfach stumpf nach hinten rennen, sondern eben verschiedene relevante (Zwischen)Räume statt desselben irrelevanten besetzen.

Die Anschlussaktion fand ich auch etwas optimistisch für Philipp. Bei einem Messi oder Modric hätte ich mir die absolut vorstellen können, aber Philipp hat nicht die Konstanz im ersten Kontakt, sowas mit relevanter Erfolgswahrscheinlichkeit umzusetzen – und hatte besonders in Wolfsburg auch nicht das Selbstbewusstsein es überhaupt zu versuchen.

Antworten

WVQ 6. Dezember 2023 um 17:43

Das Witzige ist ja, daß sie zwar halbherzig denselben (+/-) Zwischenraum besetzen, der entscheidende Paß dann aber genau zwischen beiden durchgeht. Insofern kann andererseits auch nicht viel gefehlt haben. Würde sagen, daß es beiden einfach an Orientierung gemangelt hat, wo die Bewegungen hinter ihnen hingehen und was der jeweils andere vorhat. Tolisso läuft ein wenig den Lauf, der nötig wäre, wenn Süle sofort auf Schlager herausrückt, und Süles erster Impuls wirkt eher, als wollte er die Tiefe sichern und hoffte, daß Tolisso Schlager übernimmt (was sich dann aber als falsch herausstellt, worauf dann doch das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aussichtsreiche Vorrücken Süles folgt).

Im Idealfall rückt vermutlich Süle sofort raus und Tolisso sichert mit einem entschiedeneren Diagonallauf Zwischenraum und Flügel. Und dann steht aber wohlgemerkt trotzdem Brekalo im Zentrum blank, auf den Philipp den Ball nach der verpaßten Modric-Wende übrigens immer noch sehr aussichtsreich und deutlich einfacher hätte spielen können, aber da hat wohl wiederum ihm der positionelle Überblick gefehlt.

In diesem Sinne auch ein gutes Beispiel dafür, wie Vororientierung und erster Impuls Szenen kreieren (Süle und Tolisso „schlecht“, Philipp gut) und ebenso zerstören können (Philipp dann schlecht bzw. zu konservativ).

Antworten

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*