Türchen 7: Joshua Kimmich
Auch herausragende Mannschaften können in besonders offensiven, aggressiven Ausrichtungen entscheidende Systemträger haben.
Wenn Joshua Kimmich im Verlauf der letzten zwei bis drei Saisons mal Spiele beim FC Bayern verpasste, erzielte sein Team trotzdem viele Siege und gute Ergebnisse – und doch wurde oft spürbar, dass und wie er fehlte. Der hohe Wert, den er für seine Mannschaft ausmacht, bestimmt sich zunächst über enorme Gesamtqualität. Kimmichs Komplettheit und Sauberkeit in fast sämtlichen Aspekten des modernen Spiels waren bereits in einem Adventskalender-Artikel von 2017, damals in der Reihe zu „Spieler(typen) der Zukunft“, Thema.
So wie seinerzeit vermutet, hat er die fußballerischen Erwartungen an eine weiterhin herausragende Karriere eingelöst. Kimmich kann in fast jeder Position und in fast jeder Rolle einer beliebigen Mannschaft enorm viel Mehrwert bieten. Im Grunde genommen wirkt er damit fast durchgängig und automatisch als Systemträger – und nicht nur, wie in vielen anderen Fällen, in bestimmten Konstellationen in einem bestimmten Team.
Balancegeber für ein Team auf Hochtouren
Trotzdem ist es aufschlussreich und ein besonders spezielles Beispiel, wenn man seine enorme Bedeutung anhand der derzeitigen Bayern-Mannschaft verfolgt. Mittlerweile ist Kimmich bei den Münchenern quasi nur noch als Sechser aktiv. Schnell scheint die Erinnerung verblasst, dass noch auf dem Weg zum Champions-League-Titel vor bloß gut fünfzehn Monaten – in Zeiten, als auch Thiago noch dort kickte – die häufigen Wechselspiele zwischen Einsätzen im Mittelfeld und als Außenverteidiger gang und gäbe waren.
Im Zentrum wirkte Kimmich anschließend in besonderem Maße als Systemträger. Unter Hansi Flick ließ die strategisch außergewöhnlich offensive und engagierte Ausrichtung ihn noch mehr zum Schlüsselspieler werden. In ihrem Angriffsverhalten zeichneten sich die Münchener durch eine extreme Aktionsquantität aus, also durch eine überdurchschnittliche Vielzahl von Aktionen, meistens von Läufen und kleinen Positionsveränderungen. Dadurch schuf sich das Team über diesen enormen Aufwand einen Mehranteil an Optionen. Diese Menge an Optionen wiederum konnte dann zumeist aggressiv, forsch und teilweise riskant an- und ausgespielt werden.
Insgesamt führte das dazu, dass die Münchener eine enorme Dynamik in ihrem Offensivspiel entwickelten und damit oft eine verstärkte Vertikalität. Vereinfacht gesagt: Die Bayern erspielten sich oft auch deshalb so viele Torchancen, weil sie bereits mehr Angriffsversuche generierten (zumal deren Qualität auch keinesfalls gering war). Diese zusätzliche Quantität bedeutete – gewissermaßen in absoluten Zahlen – aber auch mehr Szenen, in denen Aktionen scheitern würden und in denen man gut gegenpressen musste.
Das hing einerseits stark vom Fitnesszustand ab und in den härtesten „englischen Wochen“ ging das Team einige Male auf dem Zahnfleisch. Andererseits erforderte es eine enorme Stabilität im Mittelfeld und ausgewogene Entscheidungsfindung der dortigen Akteure. Kimmich war also ein wichtiges Puzzleteil, wenn es in der massiven Münchener Hochtaktung darum ging, die Feinheiten in den eigenen Positionierungen und kurzen Bewegungen im Zentrum des Spiels abzuwägen – und das in extremer Häufigkeit innerhalb von 90 Minuten, mit viel weniger Pausen als bei den meisten anderen Spielweisen. Nur wenige andere Sechser hätten diese Herausforderung in der Gesamtbetrachtung so gut bewältigt.
In der vergangenen Saison ging Kimmichs zwischenzeitliche Verletzungspause nicht ganz zufällig mit einer schwierigen Phase der Münchener einher. Ohne ihn war die Raumbesetzung im Mittelfeld nicht so ausgewogen. Vor allem die Kompaktheit im Anschluss bei eigenen Angriffen kam weniger ausgeprägt daher. Dies machte das Team in seiner Abwesenheit oft ein – manchmal entscheidendes – Stück konteranfälliger. Die eine oder andere Partie der Münchener entwickelte sich wild zu einem ziemlichen Hin und Her. Bei den Sechser-Alternativen wie Corentin Tolisso oder selbst David Alaba gab es pro Spiel typischerweise drei oder vier Situationen mehr, in denen der jeweilige Akteur die etwas höhere und dann minimal zu offensive Position einnahm oder am Ball die gerade etwas zu riskante Entscheidung traf.
Feine Unterschiede und schnelle Anpassung für Top-Niveau
Beobachtet man Kimmichs Spiel im Detail, begegnet man enorm vielen balancierten Feinheiten: Wenn er sich im Aufbau in der ersten Linie bewegt, findet er oft eine geschickte Umsetzung, wo genau er sich innerhalb jener Linie inmitten der unterschiedlichen Referenzpunkte um ihn herum (ballführender Mitspieler, anderer Mitspieler, Gegenspieler) einfügen muss.
Verändert er seine genaue Position, spielt er mit der Kompaktheit der jeweiligen Staffelung, schiebt sich einige Meter zum Mitspieler hin oder von diesem weg, um die effektivste und für den Gegner unangenehmste Raumaufteilung für seine Aktionen zu haben. Bei Herauskippbewegungen nach außen hat er ebenso ein gutes Gespür für jene räumlichen Distanzen ebenso wie für das passende Timing und eine günstige Körperdrehung. In diesen verschiedenen Punkten macht Kimmich einfach enorm viel richtig, weil er das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten, die für seine eigene Einbindung relevant sind, klug durchschaut.
In dieser Saison scheint es vermehrt, als dürften oder sollten beide Sechser im 4-2-3-1 der Bayern sehr weiträumig bis an und in den gegnerischen Strafraum vorrücken. Julian Nagelsmann betonte bereits einige Male die Bedeutung von Offensivpräsenz und das Ziel, den gegnerischen Sechzehner im Rückraum für mögliche Abpraller möglichst unmittelbar zu umstellen. Genauso wie zuvor in seinen Phasen als Rechts- oder auch aushilfsweise kurzzeitig als Innenverteidiger begann Kimmich – bis zu seiner jüngsten Spielpause – vergleichsweise schnell, sich mit den Details einer veränderten Position/Rolle vertraut zu machen und seine Spielweise darauf zu adaptieren.
Insgesamt hat sich auf hohem Niveau die Art und Weise stabilisiert, in der Kimmich seine Mitspieler auf dem Feld – speziell im Defensivverbund – organisiert. Bei den zwischenzeitlichen Geisterspielen konnte man das gut beobachten, wie er etwa kleinere Feinheiten in den Positionierungen der Kollegen kommunizierte. Manchmal agierte er in seinem organisatorischen Führungsverhalten sogar bereits zu ambitioniert und zu bestimmend, gewissermaßen damit auch zu systemtragend, als er sich beispielsweise „vordrängelte“, als Sechser die Einwürfe an der Außenlinie selbst ausführen und dort die Dinge in die eigene Hand nehmen zu wollen.
10 Kommentare Alle anzeigen
Daniel 12. Dezember 2021 um 23:16
Dass Kimmich unbedingt einen „klassischen Sechser“ hinter sich haben sollte ist mir zu schematisch gedacht. Innerhalb der gewünschten Spielweise ist Kimmich als Sechser hervorragend, da ein tieferer Sechser die Verbindung zum ansonsten sehr hochstehenden Mittelfeld nicht aufrechterhalten könnte. Es ist ja gerade Kimmichs herausragende Qualität, oft weit aufzurücken und so die Offensive anzukurbeln, dabei aber dennoch für die Spieler hinter ihm anspielbar zu bleiben. Diese Stärke eint ihn mit Bastian Schweinsteiger, der darin auch hervorragend war und deshalb in verschiedensten Mittelfeldkonstellationen zu überzeugen wusste. Darauf ist Bayerns Spielidee auch angewiesen, da Bayerns Offensividee darauf basiert, mit Müller, einem hoch aufgerückten Goretzka und den beiden einrückenden Flügelspielern die offensiven Halbräume und Zentrum zu überladen. Wenn Goretzka für einen absichernden „klassischen Sechser“ geopfert wird, wie ihr euch das wünscht, büßt Bayern auch einen großen Teil seiner offensiven Wucht ein-aber auch seiner Qualitäten im Gegenpressing. Momentan ist Bayern von allen Spitzenteams das mit Abstand offensivste und hat damit ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Ich finde das durchaus schön und unterhaltsam so und halte es eher für einen Vorteil, weil sich die Gegner immer massiv auf Bayern einstellen müssen und dabei auf Probleme stoßen, die sie gegen keinen sonstigen Gegner haben. Wenn man da Goretzka für irgendeinen Sechser opfert ist das halt auch so ne Standardspitzenmannschaft des Jahres 2021.
Ich denke aber, dass eine solche Option nächsten Sommer kommen wird. Der Vertrag von Tolisso läuft aus und von einer Verlängerung dürfte unwahrscheinlich sein. Die dadurch freiwerdende Stelle im ZM wird Bayern eher nicht erneut mit einem weiteren Box-to-Box Spieler besetzen, der dann gegen Goretzka keine Chance hat. Aus den oben genannten Gründen hätte aber auch ein neuer Sechser einen sehr sehr steinigen Weg zur Ablösung Goretzkas.
tobit 13. Dezember 2021 um 19:26
Ja, es ist ein Alleinstellungsmerkmal und birgt dadurch Vorteile. Und ich finde es auch sehr attraktiv anzusehen. Aber es ist eben auch riskanter als nötig.
Kimmich braucht nicht unbedingt einen Sechser hinter sich (siehe unten mein letzter Satz). Aber ich sähe die Bayern (und die N11) mit einem Sechser in der Qualitätskategorie von Goretzka noch einen Tick stärker. Gerade gegen starke Gegner, die das Gegenpressing konstanter um-/zerspielen können als die Bundesliga- oder CL-Gruppengegner. Ich glaube nicht, dass das Gegenpressing unter einem Sechser statt einem aus Goretzka/Sané/Müller so massiv leiden würde, aber du hast wahrscheinlich mehr Bayern gesehen und kannst das besser beurteilen.
PeterVincent 12. Dezember 2021 um 14:48
Für mich ist Kimmich defensiv-taktisch häufig zu undiszipliniert. Vor allem in der Doppel-Sechs mit Goretzka (Tolisso) neben sich, ist das defensiv ein Schwachpunkt der Bayern. Da seine größte Stärke der Offensivpass ist, würde ich ihn als 8er in einem 3er ZM am stärken sehen. DM-Josh-Wirtz wäre fein im ZM.
tobit 12. Dezember 2021 um 20:21
Sehe ich ziemlich ähnlich. Kimmich ist als Sechser sehr gut, aber als Achter (oder offensiverer Teil einer Doppelsechs) mit richtiger Absicherung hinter sich könnte er noch wesentlich besser und bestimmender für das Spiel der Bayern (und der N11) sein. Es wäre dann auch ein stabileres System, da es weniger von seiner speziellen Spielweise auf der Sechs abhängig wäre, die ein individuell schwächerer Spieler einfach nicht imitieren kann. Sowohl den Bayern als auch der N11 fehlen aber die Spieler, die wirklich bessere Sechser sind als Kimmich. Oder wenigstens gut genug, dass man einen Netto-Qualitätsgewinn durch Kimmich (statt Goretzka) auf der Acht hat.
Das großartige an Kimmich ist finde ich, dass er in einem 3er-Mittelfeld mit so ziemlich jedem Achter und Zehner kombinierbar ist. Egal ob das ein Typ Kroos, Goretzka, Wirtz oder Müller ist. Die einzige Bedingung für einen optimal eingebundenen Kimmich ist eigentlich, dass jemand hinter ihm absichert. Bei den meisten Trainern muss das halt ein Sechser sein, bei manchen klappt es mit den richtigen IV (Kehrer z.B., weil der auch im Sechserraum sinnvoll spielen kann), bei Guardiola reicht da auch mal nur Neuer.
PeterVincent 16. Dezember 2021 um 20:12
Der fehlender 6er auf Top-Niveau ist mir bei Bayern und beim DFB auch ein Dorn im Auge. Für mich die Problemstelle sogar größer als im Sturm (9er) und auf den AV-Positionen, da man hier taktisch noch mehr Möglichkeiten zur Kompensation hat.
Wer da am ehesten in einem 3er-ZM die 6 übernehmen könnte, ist eine gute Frage. Can und Ginter haben nicht überzeugt. Kehrer ist für mich auch schon nicht der richtige Typ dafür, dann vom Profil her eher schon Henrichs, der aber auch nicht grade überzeugen kann. Ich würde da ja gerne mal Süle sehen.
tobit 16. Dezember 2021 um 21:45
Süle und Ginter sind mir für die Sechs zu hüftsteif. Kehrer fände ich mal interessant. Henrichs hab ich lange nicht mehr gesehen, wirkte auf mich aber nie wie ein Sechser.
Koch hat es damals gegen Spanien(?) ganz gut gemacht. Weigl ist zwar aus dem Blickfeld verschwunden, war aber bei Benfica letztes Jahr Spieler der Saison. Dorsch könnte man mal probieren. Dahoud passt vom Bewegungsspiel auch ganz gut, aber ist defensiv nicht sattelfest genug und macht immernoch zu viele Fehler, um das in einem so aufgerückten System zu spielen.
Die sind halt alle nicht gut genug um Goretzka oder die Zehner zu verdrängen. Es ergibt also für die N11 schon Sinn, mit Kimmich da zu planen. Dann braucht es aber immernoch einen Backup für Kimmich, der dann ein klassischer Sechser (oder Maxi Arnold) sein muss, weil die vorhandenen Achter die Kimmich-Rolle nicht spielen können.
Bayern hat ja letztes Jahr versucht Rodri zu holen. Aktuell ist der Markt da ziemlich leergefegt. Tchouaméni und Brozovic wären aber wohl verfügbar, letzterer sogar ablösefrei. Aber dann muss man Sabitzer fast schon wieder abgeben oder ihn und Musiala ständig auf dem Flügel bringen, um nicht völlig überladen zu sein.
Daniel 17. Dezember 2021 um 10:12
Süle und Kehrer kannst du in der Verteidigung nicht entbehren, ohne sofort ein noch viel größeres Problem zu bekommen. Can, Ginter, Henrichs, Koch…du liebes bisschen. Das wäre ja eine Verschlimmbesserung par excellence. Als ob davon irgendwer auch nur in die Nähe von Goretzka käme. Weigl und Dahoud sind die plausiblen Möglichkeiten, aber um Goretzka und Gündogan zu verdrängen reichts halt nicht. Aber als taktische Optionen sicherlich wertvoll, da geb ich euch recht.
Habs oben schon geschrieben, dass ich das Problem nicht (in der Schärfe) sehe. Bastian Schweinsteiger war auch kein klassischer Sechser und Deutschland wurde mit ihm Weltmeister. Klappt also offenbar
Daniel 17. Dezember 2021 um 10:23
Kommentar zu früh abgeschickt ^^ @tobit noch zu Bayern: Tchouaméni zu Bayern wäre geil, momentan einer meiner Wunschtransfers. Ich kann mir vorstellen, dass Goretzka langsam aber sicher eine Position nach vorn wandert, er ist der logischste Müller-Nachfolger, da diesem am ähnlichsten (viel mehr als Musiala, bei dem ich mir eher vorstellen könnte, dass es ihn mit seiner fantastischen Wendigkeit und Ballsicherheit mal ins zentrale Mittelfeld verschlägt). Dann würde auf der Sechs ein Platz für Tchouaméni frei werden. Brozovic ablösefrei würde man bestimmt auch nichts falsch machen, qua Alter und meiner Meinung nach auch Qualität wäre er aber auch eher ein Mann für die Breite als für die Startelf.
Bei den Optionen für die N11 hab ich noch Arnold vergessen, der Kimmich in vielem gar nicht so unähnlich ist und am ehesten ein 1:1 Ersatz wäre.
tobit 17. Dezember 2021 um 14:07
Wir sind uns eigentlich in allem einig.
Solange es keinen Sechser gibt, der nah genug an Goretzkas Level auf der Acht rankommt, muss Kimmich auf der Sechs bleiben. Wenn es den aber gibt, halte ich Kimmich auf der Acht für stärker als auf der Sechs und als Goretzka.
Mein Hauptkritikpunkt für die N11 ist also, dass man Goretzka als einzigen Kimmich-Ersatz für die Sechs einplant, und lieber noch mehr Achter/Zehner nominiert, statt eines dezidierten Backup-Sechsers (egal ob klassisch oder Arnold).
tobit 17. Dezember 2021 um 14:12
Auch zu früh gedrückt
Goretzka auf der Zehn/HS warte ich seit Jahren drauf. Er ist da schon anders als Müller, viel körperlicher und mehr in die Tiefe orientiert, was aber sehr interessant sein kann mit einem spielmachenden Stürmer wie Lewy und den mittlerweile mehr in den Zwischenlinienraum ziehenden Dribblern.
Musiala als Kimmich-Partner wäre mir aktuell glaube ich noch zu luftig für die großen Spiele, aber es ist ja noch kein Defensivgott vom Himmel gefallen. Sein Spiel in Ballbesitz fände ich auf der Acht aber sehr interessant.