Türchen 4: Raphaël Varane
Wenn es um „Systemträger“ geht, muss es logischerweise zunächst um Systeme gehen. Die meisten Systeme im Laufe des Kalenders werden die sein, die in den vergangenen 15 Jahren den erfolgreichen Fußball am meisten geprägt haben: die mit viel Dominanz, hohem Pressing, Kontrolle im Zentrum, klarem Ballbesitz und vielen offensiven Lösungen.
Die letzten drei Champions-League-Sieger und der amtierende Europameister haben sich alle durch solch einen aktiven Fußball ausgezeichnet. Die beiden größten Ausnahmen in den letzten zehn Jahren: die französische Weltmeistermannschaft von 2018, die sehr über defensive Stabilität und Konterstärke funktionierte, sowie Real Madrid, die bei ihren vier Champions-League-Titeln zwar auch immer viel Ballbesitz hatten, dabei aber trotzdem defensiv orientiert spielte und sich besonders im Defensivspiel vornehmlich in die eigene Hälfte zurückzogen. Die Konstante dieser beiden Mannschaften: Raphaël Varane.
Die Krux des tiefen Verteidigens
Eine klassische Fußballweisheit ist, dass sich „jede Mannschaft schwer tut“, wenn sie gegen einen tief verteidigenden Gegner spielt. Dieser Eindruck entsteht daraus, dass die angreifende Mannschaft immer viele Gelegenheiten bekommt, Gefahr zu erzeugen, durch die Enge vor dem Tor aber auch oft daran scheitert. Die verteidigende Mannschaft hat fast immer Ressourcen (= ausreichend Spieler und Kompaktheit in Ballnähe), um Angriffsversuche verteidigen zu können.
Das Problem, der Grund für die strategische Schwäche dieser Ausrichtung, ist, neben des fehlenden offensiven Potentials: Man muss extrem viele Angriffsversuche verteidigen. Der Gegner bekommt sehr häufig die Gelegenheit für den finalen Pass, für Flanken, Dribblings in Tornähe und Schüsse. Jedes Mal kann ein defensiver Fehler für ein Tor reichen.
Dementsprechend sind die „Systemträger“ im tiefen Verteidigen meist die Innenverteidiger und die Torhüter, die unweigerlich sehr oft vor lösbare, aber schwierige Aufgaben gestellt werden. Bei Atlético Madrid wären etwa Godin oder Oblak zu nennen, beim Chelsea FC, der 2011/12 überraschend die Königsklasse holte, in etwa John Terry oder Petr Cech.
Ganz Liverpool gegen Raphaël Varane
Kurz gesagt: Wenn man das Spiel nicht kontrollieren kann, muss man perfekt verteidigen. Ein Musterbeispiel dafür war das Champions-League-Finale 2018. Real Madrid gewann 3:1 gegen den Sieger der Folgesaison, Jürgen Klopps Liverpool FC. In typischer Klopp-Manier dominierte Liverpool die ersten 30 Minuten des Spiels. Bis zu Mohamed Salahs verletzungsbedingter Auswechslung kam Liverpool auf 9:2 Schüsse und Real kam nur selten aus der eigenen Hälfte.
Varane zeigte in diesem Spiel eine der beeindrucksten Defensivleistungen aller Zeiten, indem er im Minutenrhythmus, fast wie im Alleingang, die Liverpooler Angriffsversuche zerstörte. Um Erinnerung mit Realität abzugleichen, bin ich diese halbe Stunde noch einmal durchgegangen und habe alle Situationen rausgeschrieben, in denen Varane entscheidend den Angriff unterband. (Zur Einordnung: All seine Nebenspieler, unter anderem Sergio Ramos und Casemiro, wären hierbei allesamt nur auf ein bis zwei Nennungen gekommen.)
- 1. Minute: Verhindert tiefen Pass auf Salah, Ball geht an Ramos vorbei für Mane, Varane gelingt es (aus der Deckung gegen Salah heraus) den Pass abzufangen. (Mit einem Kontakt gelöst, Ramos kontrolliert in Ballbesitz.)
- 3. Minute: Ramos ausgespielt, 4-gegen-3-Angriff für Liverpool. Varane gelingt es Salah am am Dribbling zu hindern und gleichzeitig den tiefen Pass auf Firmino zu schließen. Casemiro blockt dann den Distanzschuss von Wijnaldum, Varane sammelt den versprungenen Ball auf. (Klärt lang.)
- 4. Minute: Nach Liverpooler Balleroberung im Gegenpressing Alexander-Arnold in freier Flankenposition. Varane hat zwei Gegenspieler im Rücken und einen dritten vor ihn einlaufend. Erreicht die flache Flanke aber als erster und klärt.
- 7. Minute: Ramos verteidigt vorwärts, Firmino kann aber trotz Gegnerdruck aufdrehen und spielt mit dem zweiten Kontakt tief auf Mane. Der läuft mit Tempo hinter Varane ein und wäre wohl am herauseilenden Navas vorbei, aber Varane schafft es irgendwie, aus dem Stand (!?) den Ball vor Mane zu erreichen und zu Marcelo zu grätschen.
- 8. Minute: Ungestörte Flanke von Robertson, Firmino bewegt sich zunächst in Varanes Rücken, der orientiert sich gut nach hinten, drängt Firmino dadurch vom Tor weg, ist bei der Flanke direkt am Gegenspieler, der den Ball nur mit dem Hinterkopf ins Aus köpfen kann.
- 9. Minute: Mane an der Strafraumseite im Dribbling gegen Casemiro. Varane orientiert sich zunächst zum Ball und zum eigenen Tor. Realisiert dann auf Elfmeterhöhe genau vor Manes Pass, dass ein Rückpass auf den freien Firmino möglich ist, stoppt sofort ab, kommt aus optimaler Position in den Zweikampf mit Firmino, der den Ball sofort verliert. (Varane spitzelt den Ball hinterm Standbein zu Ramos, der klärt.)
- 14. Minute: Salah bekommt den Ball scharf in den Fuß gegen Ramos, dreht sich um Ramos nach innen und schließt sofort aus 14 Metern zentral ab; Varane ist da und blockt den Schuss. Ball springt zu Mane, Varane folgt dem Ball sofort, sodass Mane direkt aus Kurzdistanz der Schuss versperrt wird, er schießt Carvajal an.
- (Anschließend noch eine ungestörte Flanke von Alexander-Arnold, der Mane sucht, welcher sich aber nicht von Varane lösen kann, sodass Navas die Flanke abfängt.)
- 17. Minute: Carvajal außer Position, Alexander-Arnold versucht einen langen Diagonalball auf Salah, der links außen wartet. Varane antizipiert den gefährlichen Ball frühzeitig, setzt sich noch vor dem Pass nach hinten ab und köpft den langen Ball zu Modric.
- 22. Minute: Dachte erst, dass wäre sein erster Fehler. Die Madrilenen im höheren Pressing, verschieben etwas schlecht und lassen Varane schlichtweg 1-gegen-2 verteidigen gegen Firmino und Mane. Der lange Ball kommt auf Firmino in Varanes Rücken. Der muss sich erst drehen, um den Ball zu folgen und scheint ihn dann zu mit einem Ausfallschritt zu verfehlen. Bei näherem Hinschauen sieht man aber, dass er den Ball gerade noch leicht spielt, sodass Firmino anschließend nur noch notdürftig mit dem Kopf rankommt; Ramos kann den Ball dann problemlos ablaufen.
- 23. Minute: Milner an der Grundlinie, flache Rückgabe durch Casemiros Beine auf Firmino am Elfmeterpunkt. Varane verteidigt den kurzen Pfosten. Reagiert dann sofort auf den Ball und als erster bei Firmino, obwohl Ramos und Kroos eigentlich näher dran sind. Kann den Schuss entscheidend stören, Ramos hinter ihm wird angeschossen. (Einschränkend bei dieser Szene: Er hätte gar nicht den kurzen Pfosten verteidigen müssen, da kein Gegner dort wirklich hingehen konnte.)
- 28. Minute: Mane kommt an Carvajal vorbei, Varane muss die letzten 20 Meter verteidigen, macht das (gegen Mane!) völlig problemlos, Carvajal kommt in den Zweikampf zurück und fälscht die Flanke zur Ecke ab.
Dann hat Ramos Salah die Schulter gebrochen und Real hat das Spiel übernommen. Es scheint plausibel, dass die Madrilenen zu diesem Zeitpunkt schon solide eins bis drei Tore im Rückstand gewesen wären, wenn da nicht Raphaël Varane gewesen wäre.
Orientierung, Geschick, Tempo und Reichweite
Varane ist im „klassischen Verteidigen“ in fast allen Situationen ein Lehrbuchspieler. Er hat ein hervorragendes Spielverständnis, was ihm hilft sich sehr gut und vor allem im richtigen Moment zu orientieren und gegnerische Optionen zu antizipieren. Anders als viele athletisch hochbegabte Verteidiger verlässt er sich zudem nicht auf seine körperliche Überlegenheit, sondern ist äußerst sauber und diszipliniert in der Kontrolle seiner Position und Körperstellung. Er dreht sich immer wieder so, dass er eine gute Übersicht und gleichzeitig schnell auf die gefährlichsten oder wahrscheinlichsten Möglichkeiten reagieren kann. Er behält die richtige Distanz zum Gegenspieler, er hält die Linie hoch genug, aber nicht zu hoch.
Auch im Eins-gegen-Eins ist Varane äußerst geschickt und kontrolliert seine Position in Relation zum Gegenspieler und seinen Schrittrhythmus sehr intelligent. Auch seine Entscheidung, wann er versucht den Ball zu erobern und wann er passiv bleibt, sind top. Wenn man sich allein anschaut, wie er er gegen Lionel Messi verteidigt hat, weiß man alles, was man wissen muss.
In diesen taktischen Aspekten ist er vielleicht nicht ganz so überragend wie ein Diego Godin oder diverse italienische Spitzenverteidiger, aber doch beinahe fehlerfrei. Hinzu kommt, dass seine athletischen Fähigkeiten regelrecht skurril sind. Reihenweise hat Varane Laufduelle gegen Spieler wie Aubameyang oder Mane nicht nur gewonnen, sondern hat die schnellsten Stürmer der Welt regelrecht deklassiert und sah dabei so aus, als würde er joggen. Sein Tempo macht keinen Sinn. Es klingt unglaubwürdig, wenn man versucht, es angemessen zu umschreiben.
Diese Athletik ist aber nicht nur für Laufduelle entscheidend, sondern auch im tiefen Verteidigen (siehe oben Minute 23) und sonstigen Situationen. Varane ist kein Usain-Bolt-type Langstreckensprinter, sondern kommt unheimlich schnell aus der Position raus und ist auch hervorragend dabei, schnell stehen zu bleiben und dann wieder zu beschleunigen. All das gibt ihm eine einmalige Reichweite in seinen Defensivaktionen. Es fühlt sich zuweilen an, als könne er alleine fast den ganzen Strafraum verteidigen.
Permanent unterfordert und unterhyped
Bemerkenswert ist, dass Varane dabei nicht unbedingt wie ein athletisch herausragender Verteidiger aussieht. Er hat einen relativ schlanken Körperbau, er hat ziemlich lange Beine und staksig anmutende Bewegungsabläufe. Er besitzt nicht einmal ansatzweise die aggressive Körpersprache von Ramos und wirkt in seinen Aktionen bei weitem nicht so wuchtig und unüberwindbar wie Virgil van Dijk. Seine Sprints sehen aus wie Dauerlauf, seine Zweikämpfe sind oftmals völlig unspektakulär, weil er Gegenspieler einfach problemlos abläuft oder so früh und sauber in Zweikämpfe kommt, dass man die Situation kaum als Zweikampf wahrnimmt.
Tatsächlich kann man meines Erachtens zurecht behaupten, dass Varane im Grunde permanent unterfordert ist. Ich meine auch, er hätte ein noch höheres Standing in der Öffentlichkeit, wenn es flächendeckend Spieler wie Messi, Ronaldo oder Salah gäbe; weil man den Unterschied zu anderen Spitzenverteidigern dann viel öfter und eindrücklicher sehen würde und er öfter an sein Limit gebracht würde.
Defensivstärke skaliert nicht so gut wie Offensivstärke: Wenn ein Stürmer extrem überlegen ist, dann macht er drei Tore anstatt eins. Wenn ein Verteidiger überlegen ist, dann macht der Gegner kein Tor; wenn er aber extrem überlegen ist, dann, naja, macht der Gegner auch kein Tor.
Tatsächlich ist Varane trotz seiner Bedeutung für seine tief verteidigenden Mannschaften ja nicht einmal wirklich gut eingebunden in so einem System. Im höheren Pressing ist seine Geschwindigkeit besser aufgehoben und er muss öfter unkompakte Situationen mit weniger Mitspielern um sich herum verteidigen; wenn man ihm weniger Verteidigen abnimmt, kann er selber mehr verteidigen. Das ist auch ein Paradoxon bei der Einbindung von Defensivspielern: Will man das Maximum aus einem Torwart rausholen, dann muss man den Gegner oft schießen lassen. Unter dem Strich ist das aber eher keine gute Idee.
Spielerische Fähigkeiten
Auch seine technischen Fähigkeiten und seine Entscheidungen im Spielaufbau sind eigentlich, zumindest potentiell, so gut, dass er auch in einer offensiv ausgerichteten Ballbesitzmannschaft eine absolute Säule sein könnte. Frankreich und Real haben aber stets mit vielen Spielern in tiefen Positionen gespielt. Wenn sich Luka Modric von dir den Ball abholt, gibst du den Ball halt Modric und spielst keinen spektakulären Pass durch die Linien.
So hat Varane spielerisch hier und da auch noch Luft nach oben. Es wird daher interessant zu sehen, wie sich der Franzose in den nächsten Jahren noch entwickelt. Tatsächlich ist er ja erst 28, obwohl er schon seit zehn Jahren auf Spitzenniveau spielt. In der Spielweise von Ralf Rangnick wird er vermutlich sehr viel zur vertikalen Spieleröffnung beitragen müssen und öfter hoch, auf großem Raum verteidigen.
So könnte man bald vielleicht einen noch spektakuläreren Varane erleben. Womöglich bekommt er dann auch etwas mehr öffentliche Zuneigung, anstatt im Schatten von Spielern zu stehen, die zwar nicht besser spielen als er, dabei aber beeindruckender aussehen.
3 Kommentare Alle anzeigen
Msen 13. Dezember 2021 um 23:15
Wunderbarer Artikel, mit detaillierter Analyse und Video-Link zu Illustration.
Ich bin seit Langem der Meinung dass Varanes Level als moderner Verteidiger oft unterschätzt wird. Merkwürdigerweise auch von vielen Real-Fans, die ich online so mitbekommen habe. Dabei war die Aufgabe, bei den notorisch unkompakten und teils chaotischen Blancos der Ronaldo-Ära den Laden defensiv einigermaßen zusammenzuhalten eine schwierige und undankbare, die eine Menge Können erforderte. (Das gilt auch für Ramos, der allerdings auch selbst immer wieder gerne zum Chaos beigetragen hat.)
Die Erwartung dass Varane bei United spieltechnisch und in der öffentlichen Wahrnehmung mehr im Fokus stehen wird als bei Real ist naheliegend. Mal gucken ob’s so kommt.
Ulf 13. Dezember 2021 um 14:37
Geniales Adventstürchen, Hut ab vor der Akribie der Analyse.
Fußballnobelpreis 5. Dezember 2021 um 18:30
Ich vermisse Varane. Herzlichen Glückwunsch an Ralf Rangnick für diesen unspektakulären spektakulären Spieler.