Türchen 1: Jari Litmanen

Beim Ajax der 90er-Jahre gehörte der vielbesprochene „Schattenstürmer“ zu den zentralen Schlüsselpositionen des Teams. Jari Litmanen interpretierte sie mit einer besonderen Ausgewogenheit wie nur wenige andere. Über die zwei großen Stärken der finnischen Fußballlegende.

Wenn es um die große Ajax-Mannschaft aus den 90er-Jahren unter Louis van Gaal geht, dann gilt Jari Litmanen für viele als eine besondere Figur in diesem Ensemble. Die finnische Fußballlegende bekleidete eine von zwei Positionen im System, für die sich spezielle Begrifflichkeiten einprägten: Einmal gab es den oft nachträglich so genannten Switch-Verteidiger, meist Frank Rijkaard, aber auch Frank de Boer oder Winston Bogarde, der entweder in der Viererabwehr spielte oder sich davor auf die Sechserposition schob; dann gab es den – wie van Gaal sagte – „Schattenstürmer“ (ursprünglich „shaduwspits“ im Niederländischen) Litmanen.

Der „Schattenstürmer“

368Ajax‘ 3-3-1-3 von 1995

Diese Bezeichnung meinte einen Akteur als Hybrid aus Angreifer und offensivem Mittelfeldspieler. In Ajax‘ 3-3-1-3/4-3-3-artiger Formation sollte Litmanen gleichzeitig als zweite Spitze (zusätzlich zum Mittelstürmer) und als dritter (bzw. vierter) Mittelfeldspieler (zusätzlich zu den „Achtern“ und gegebenenfalls zum Switch-Innenverteidiger) agieren. Er unterstützte im zweiten Drittel und im Übergang, um anschließend aus der Tiefe gefährlich zu werden und als offensiver Nachrücker die Strafraumbesetzung zu ergänzen. Der „Schattenstürmer“ wirkte also als der Angreifer „aus dem Schatten“.

Das Lexikon „Koning voetbal. Een lexicon van het Nederlandse voetbal“ der Autoren Edwin Struis, Paul Onkenhout und Dick Sintenie beschreibt den konkreten „Schattenstürmer“ Litmanen als „Spielmacher und Verwerter in einem“ (S. 158), als Mittelpunkt in der zentralen Achse des Teams von van Gaal. Der damalige Ajax-Trainer selbst hob später die besondere Ausgewogenheit hervor, die der Finne in seiner Mischrolle in die Mannschaft gebracht habe – genauer gesagt durch seine gute Ausführung.

Litmanen spielte diese Rolle tatsächlich sehr balanciert. Noch in vielen heutigen Systemen auf Basis von 4-2-3-1-Formationen besteht die Gefahr, dass entscheidende Präsenz im Mittelfeld abhanden kommen kann, wenn der nominelle Zehner sich zu hoch bewegt und orientiert, zu sehr als zweite Spitze. Das passierte bei Litmanen im Ajax-Dress selten. Der Finne hatte eine wichtige Position an zentraler Stelle im System inne, in der eine schwache Interpretation der Rolle das Gesamtkonstrukt in Schieflage hätte bringen können.

Geschickte Positionsfindung

Dass er seiner Verantwortung als einer der entscheidenden Systemträger gerecht wurde, basierte auf seinen zwei großen Stärken. Die erste Stärke: Litmanen hatte eine herausragende Positionsfindung. Kurz gesagt ist es also nicht sehr verwunderlich, dass ein derart systematisch auf Positionsspiel setzender Trainer wie van Gaal so begeistert vom finnischen Offensivmann war und ihn so hoch schätzte. Litmanen fand oft die richtigen Zonen auf dem Feld, in Zwischenräumen immer wieder die Lücken zwischen Gegenspielern für einen Passweg. Er forderte Doppelpässe in kleinen Schnittstellen an der letzten Linie und bot sich als Ablagespieler an.

Litmanen als Ablagespieler

Ob in solch engen Situationen oder bei etwas größeren Zwischenräumen, in die er sich diagonal absetzte: Vor allem hielt er sich auf einen guten, günstigen Abstand vom Gegenspieler weg. Auch im Pressing hatte Litmanen ein Gespür für die passende Distanz, um bei Notwendigkeit gegebenenfalls „von oben“ schnell genug Druck auf einen Gegenspieler machen zu können. Insgesamt hatte er innerhalb seines unmittelbaren Sichtfelds eine gute Übersicht und eine gute Auffassungsgabe für Abläufe und Strukturen.

Während seiner oftmals aufwendigen Freilaufbewegungen konnte man ihn oft als Kommunikator beobachten: Wenn er merkte, dass er mit seinem Lauf, den er gerade gestartet hatte, einen Gegenspieler wegziehen und/oder eine neue Passoption anderswo öffnen konnte, versuchte (gerade der ältere) Litmanen oft mit ausschweifender Gestik, den ballführenden Mitspieler darauf hinzuweisen und ihm die Entscheidung nahezulegen.

Günstige Startpositionen kaschieren Unsauberkeiten

Durch seine gute Positionsfindung hatte Litmanen immer wieder Vorteile, wenn es darum ging, zweite Bälle, unter Druck gespielte Vorwärtspässe aus dem Aufbau oder eventuell auch Befreiungsschläge zu erreichen. Seine Startposition bzw. sein Startraum war oft so günstig, dass er den Ball selbst vor schnelleren oder robusteren Gegenspielern zumindest noch entscheidend weg- oder weiterspitzeln konnte. Damit wurden andere kleine Unsauberkeiten in seinem Spiel kaschiert.

Zwar war Litmanen ein guter Techniker und geschmeidiger Spielertyp. Aber er erreichte keineswegs in sämtlichen koordinativen, athletischen oder technischen Bereichen ein Weltklasse-Format. Wenn er sich diagonal gegen die Verschieberichtung in den ballfernen Halbraum absetzte, orientierte er sich oft gut über eine – meist die rechte – Schulter, aber nicht immer umfassend. Insgesamt wusste er sich recht geschickt als Ballverteiler und Passgeber zu betätigen, potentiell auch mal über längere Distanzen. Aber es gab doch manche Unsauberkeit in der Gewichtung der Zuspiele oder in der Entscheidungsfindung.

Bei Bällen aus der Luft mit einer hohen Flugkurve – besonders, wenn diese über die Schulter und in seine Bewegungsrichtung flogen – gelang ihm oft ein starker erster Kontakt. Ähnlich war es auch bei halbhoch springenden Bällen, zum Beispiel nach Abprallerszenen, die man dann mit der Fußspitze an- bzw. mitnimmt. Doch bewegte sich das gute technische Gesamtpaket nicht auf absolutem Top-Niveau beim Finnen. Wesentlich schwächer war der erste Kontakt Litmanens dagegen, wenn das Anspiel entgegensetzt zur Bewegungsrichtung erfolgte und er diesem entgegen gehen musste (und die Annahme in jenem Fall zumeist mit der Innenseite erfolgen würde). Vereinzelt verpasste es Litmanen mal, einen vergleichsweise einfachen Pass bruchlos in die Spielrichtung mitzunehmen, sondern nahm ihn aufwendig gegen die Spielrichtung an.

Schnelle Körperdrehungen als Stabilitätsfaktor

Solche kleinen Unsauberkeiten dürften zu den „schwächeren“ Phasen seiner Karriere beigetragen haben. Bei anderen großen Adressen in Europa hatte Litmanen deutlich weniger Erfolg als in Amsterdam. Trotz der Schwächen zeichnete er sich nicht nur durch seine intelligente Positionsfindung, Spielübersicht und -beobachtung aus, sondern konnte auch über individuelle Aktionen sich entscheidend durchsetzen und eine Partie maßgeblich beeinflussen.

Grund dafür war seine zweite große Stärke: Körperdrehungen. Bei Finten und Richtungswechseln konnte Litmanen sehr schnell wieder Tempo neu aufnehmen. Vor allem Folgedrehungen nach der ersten Ballmitnahme mit einem Gegenspieler im Rücken ebenso wie seine Verzögerungen im Dribbling erfolgten teilweise enorm explosiv, überraschend explosiv für seinen Körperbau mit der eher drahtigen Statur.

Im sogenannten „besten Fußballeralter“, also zum Ende seiner ersten Amsterdamer Zeit, wurde diese Qualität besonders fokussiert. Ob mannschaftstaktisch geplant oder individuell forciert: Litmanen ließ sich häufiger deutlich weiter nach hinten zurückfallen als in vorigen Saisons. Schon im Aufbau- und Übergangsspiel forderte er viele Bälle. Gegen die mitunter stark mannorientierten Gegner der Eredivisie konnte er so als Zehner bzw. Halbstürmer einen Bewacher enorm weiträumig herausziehen.

Selbst wenn die Mischung aus raumöffnenden und unterstützenden Bewegungen seiner Mitspieler nicht so gut funktionieren sollte, er also bei einem Zuspiel aus der ersten Linie keine direkte Anspielstation hatte, konnte er sich oft mit jenen fast rasanten Drehungen aus dem 1gegen1 entziehen. Litmanen sicherte den Ball und verschaffte sich etwas Raum. Oft nutzte er bei Ballannahmen mit direktem Gegnerdruck im Rücken gleich eine doppelte Drehung dafür, während der er den Ball mit der Sohle nach außen wegzog. Dadurch gelang es ihm, selbst in jenen 1gegen1-Duellen im Mittelfeld aufzudrehen.

Gefährliche Ballverluste in diesen direkten Konfrontationen passierten mit ihm sehr selten. In dieser Hinsicht konnte Litmanen durch individuelle Ballsicherungen als Stabilisator wirken. Nicht nur bei Ajax, sondern ganz allgemein waren diese überraschenden, teils herausragend explosiven Drehungen eine zentrale Qualität, mit der er seinem jeweiligen Team über Probleme bei raumöffnenden Bewegungsmustern und über zu häufige Anspiele in „geschlossene“ Stellung hinweg helfen konnte.

Noch auf einer weiteren Ebene verschaffte Litmanen einer Mannschaft Stabilität. Auch dafür waren wiederum die schnellen Körperdrehungen wichtig: Sie halfen ihm zugleich in defensiven Umschaltsituationen. In den 90er-Jahren betonte van Gaal immer wieder Litmanens besondere Laufstärke – und das nicht nur im Hinblick auf die klassische „Schattenstürmer“-Thematik für das Offensivspiel, sondern auch bezüglich der Arbeit gegen den Ball. Das Engagement des Finnen betraf nicht nur den geordneten Pressingablauf, sondern auch sein schnelles Nachsetzen bei Ballverlusten. Sofort jagte er die defensiven Mittelfeldakteure des Gegners. Dank der explosiven Drehungen kam er schnell in günstige Winkel zum Ball, um dann direkt seine Laufleistung im defensiven Umschalten abzuspulen. Mit Litmanen wurde man weniger konteranfällig als im Durchschnitt.

Tom 1. Dezember 2021 um 16:30

also ein finnischer Müller?

Antworten

tobit 2. Dezember 2021 um 08:40

In gewissen Punkten schon. Gerade mittlerweile ist Müller ja wirklich oft auch tiefer unterwegs, wo er früher eher Mal die Verbindungen hat abreißen lassen. Müller ist aber finde ich mit Ball nochmal besonders, weil er so maximalistisch agiert wie fast niemand sonst. Er versucht immer die vielversprechendste Option zu spielen, egal wie riskant oder technisch kompliziert sie ist.

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