Oranjes Dreierkette
Statt des erwarteten 4-2-3-1 spielen die Niederländer bei der EM plötzlich mit einer Dreierkettenformation. Was macht die neue Grundordnung aus?
Kurz vor der WM 2014 stellte Louis van Gaal als niederländischer Nationaltrainer seinerzeit überraschend auf eine Dreier- bzw. genauer Fünferkette um. Der aktuelle Bondscoach Frank de Boer vollzog vor dem laufenden Turnier einen ähnlichen Schritt: Zuvor hatte er stets mit Viererkette spielen lassen, zur EM wechselte er die Formation.
Der Vorlauf war diesmal noch kürzer als 2014, als die Eredivisie-Saison sehr früh endete und van Gaal direkt danach, noch ohne seinen vollständigen Kader, erste Tests im 5-2-1-2 unternahm. Dagegen feierte de Boers neue Formation erst bei den Vorbereitungspartien im Juni ihr Debüt. Nominell bewegt sich die Grundordnung bei Oranje irgendwo zwischen 3-5-2, 3-4-1-2 und mitunter auch 3-4-3, da sich die drei zentralen Mittelfeldakteure sehr flexibel verhalten.
Welche Struktur bei Ballbesitz?
Im Laufe der letzten gut zwei Wochen, seit dem ersten Testspiel gegen Schottland, hat sich die Raumaufteilung bei Ballbesitz aus der neuen Formation heraus deutlich entwickelt. Anfangs agierten die Flügelläufer noch asymmetrisch und der rechte Akteur von ihnen schob oft weiter hoch als der linke. Aus dem Angriff bot sich Depay gegen die Schotten zunächst außen am Flügel an und diente so als Breitengeber neben dem hohen Flügelläufer auf der anderen Seite.
Dahinter verblieb eine engere Viererkette, die häufig aber nur um den gegnerischen Defensivblock herumstand. Zusätzlich hatten gegen die Schotten auch die drei Mittelfeldakteure dazu geneigt, sich seitlich nach außen freizulaufen und außerhalb der Formation die Bälle zu fordern. Dadurch entwickelte das Team im ersten Testspiel kaum Präsenz in den vordersten Linien und konnte das Leder selten dorthin transportieren.
Seither gelang es Frank de Boer und seinen Mannen, das Ausmaß solcher Aktionen deutlich zu reduzieren und diese klarer zu strukturieren. Das starke Abkippen de Roons nach rechts stellte noch gegen die Ukraine ein bedeutendes Moment dar, um die erste Reihe gegen ein mögliches Vorrücken des Gegners vom 4-1-4-1 ins 4-3-3 mit drei Stürmern zu ergänzen. Zudem positionierte sich die niederländische Dreierkette ohnehin etwas asymmetrisch zur linken Seite versetzt, wo Depay und Frenkie de Jong besondere Präsenz erhalten.
Das bedeutete auch, dass die Flügelläufer symmetrischer aufrückten: Sie suchen nunmehr frühzeitig hohe Positionen und entwickeln von dort ausgeprägten Vorwärtsdrang. Gegen die Dreierkette der Österreicher waren Dumfries und van Anholt damit allerdings nicht ganz so effektiv wie in der ersten Gruppenpartie, da sie einfacher und klarer von direkten Gegenspielern aufgenommen werden konnten.
Im Duell mit der Ukraine fanden sie häufig eine gute Höhe zwischen den gegnerischen Außenverteidigern und -stürmern. Zumal die geschickten Staffelungen der ersten Aufbaulinie mehrmals die ukrainischen Flügelstürmer beschäftigen oder vor Verlagerungen kurz herausziehen konnten, mussten letztlich häufig die gegnerischen Außenverteidiger in der Dynamik herausschieben.
Diese hatten aber nicht die leichtesten Ausgangspositionen und teilweise kamen in der Ausführung noch Timingprobleme hinzu. So konnte vor allem Dumfries auf rechts die strukturellen Tempovorteile der Situation sehr gut ausschöpfen und sich so ins Rampenlicht bringen. Über die Flügelläufer entstand also gegen die Ukraine immer wieder vertikaler Raumgewinn ins Angriffsdrittel hinein, der furios bis spektakulär wirkte.
Bereits aus der ersten Aufbaulinie heraus taten sich die Niederländer gegen Österreich dagegen schwerer, nach vorne zu kommen. Diese Konstellation bestand trotz erhöhter und definierter Präsenz im Mittelfeldzentrum: Nicht nur Frenkie de Jong suchte häufig den Sechser- und vor allem Achterraum in bestimmender Rolle, sondern um ihn herum betätigte sich de Roon vermehrt als Raumfüller, zudem mit einigen vertikalen Bewegungen. Sein Herauskippen war seltener und eher ließ sich aus dem offensiven Mittelfeldbereich punktuell Wijnaldum tief auf die Seite zurückfallen.
Die Ergänzung der ersten Linie aus dem Mittelfeld wäre nur für die Szenen relevant gewesen, in denen Sabitzer sich von der linken Acht nach vorne orientierte, um die nominelle Unterzahl der österreichischen Doppelspitze auszugleichen. Asymmetrische Staffelungen der Angreifer zum Leiten funktionierten gegen das breite Auffächern, insbesondere durch Blind auf links, kaum, da die Niederländer sich dagegen mit Verlagerungen meistens Ausweichräume erschließen und anschließend per Dribbling oder Ballhalten den Druck herausnehmen konnten.
Gegen eine österreichische Dreierspitze blieben sie primär beim vermutlich ursprünglichen Plan, durch eine möglichst breite Staffelung der Dreierkette an der ersten Pressinglinie vorbeizukommen. Ziel war es wohl, seitlich im 3gegen2 zu überdribbeln. Das funktionierte gegen die 3gegen3-Tendenzen aber weniger sauber und stabil, so dass die Halbverteidiger in isolierte Bereiche abgedrängt zu werden drohten. An dieser Stelle hätte alternativ auch die asymmetrische Aufteilung der Flügelläufer wieder zum Thema werden können.
Selbst in den 3gegen2-Situationen entstanden aus erfolgreichen Dribblings in der Breite aber nicht so besonders viele erfolgreiche Folgemomente. Oft waren die Niederländer darauf festgelegt, in jenem seitlichen Kanal weiter zu spielen. Das lag daran, dass sie im Übergang zu Ungeduld neigten und mehrfach Momente für die Rückzirkulation verpassten. In der Folge versandeten zahlreiche Ansätze während des Vorwärtsspiels. Beide Konstellationen führten dazu, dass der gesamte Auftritt des Teams etwas weniger „schwungvoll“ als zum Auftakt gegen die Ukraine.
Spielstärke und auch zunehmende Ballzirkulation
Um das Andribbeln der Halbverteidiger sowohl möglichst gut vorbereiten zu können als auch in passenden Momenten abzubrechen und den Raum zu wechseln, ist eine ausgeprägte Ballzirkulation ein Schlüsselelement. Diese gehört weiterhin nicht unbedingt zu den stärksten Seiten dieser niederländischen Mannschaft, auch wenn ausgerechnet die Partie gegen Österreich noch zu ihren besten Auftritten in dieser Hinsicht zählte. Es deuteten sich also Entwicklungen an: Die Elftal ließ das Leder insgesamt dynamischer, zielstrebiger und schärfer laufen als in den vorigen Partien.
Selbst in den besten Phasen gegen die Ukrainer gingen die gelungenen Aufrückmomente vor allem von starken individuellen Pässen über mittlere bis längere Distanzen oder Dribblingaktionen aus und auf die taktisch gut zum Gegner passende Raumaufteilung zurück. Sollte sich nunmehr die Ballzirkulation als solche noch weiter steigern, entsprechend der Anzeichen aus dem zweiten Gruppenmatch, könnte die ohnehin schon gute niederländische Offensive im weiteren Turnierverlauf nochmals einen zusätzlichen Schub erhalten.
Schließlich ist die allgemeine und insbesondere die gruppentaktische Spielstärke des Teams sehr ausgeprägt und ein wichtiges Prunkstück. Die niederländischen Akteure nutzen hervorragend kleine Dribblings als Einleitungs- oder als Anschlussaktion und suchen immer wieder sehr fokussiert, konstruktiv und gegebenenfalls kleinräumig Doppelpassoptionen. Mit einer starken Auftaktaktion und/oder einem cleveren Laufweg können sie aus mancher Situation interessante Ansätze generieren, in der die Ausgangsstaffelung eigentlich nicht gut ist und wenig hergibt.
Vor allem Depay bewegt sich in den vielen kleinräumigen Gleichzahl-Situationen geschickt und hält das Engagement stets hoch. Im halblinken Bereich als nominelle hängende Spitze findet er sich in der aktuellen Ausrichtung zudem in einer exzellente Umgebung: Hinter ihm beginnt der niederländische Aufbau mit Blind als Passgeber, er hat stets einerseits Frenkie de Jong als Unterstützungsspieler und andererseits Wijnaldum als eventuelle Ausweichoption in seiner Nähe. Außerdem arbeitet Weghorst sehr viel mit umtriebigen Bewegungen und es bleibt immer noch mit dem Flügelläufer ein weiterer Spieler als Breitengeber übrig.
Die Ukrainer reagierten sehr flexibel auf Depay, indem verschiedenste Akteure situativ temporäre Mannorientierungen eingingen. Bot er sich im linken Halbraum kurz an, war es häufig Malinovskyi auf der Achterposition, der ihn aufnahm, aber auch die Verteidiger oder Sechser Sydorchuk führten diese Aufgabe aus. Wie viele gute Ansätze sich im Umkreis Depays bei den Niederländern ergaben, verdeutlicht die Qualität ihres gruppentaktischen Zusammenspiels, das sich zum Aufbrechen solcher Mannorientierungen eignete.
Zusätzliche ballferne Absicherung als mögliche Motivation
Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Umstellung auf Dreierkette vor allem dem Zweck einer verbesserten Absicherung gedient haben dürfte. Das bezieht sich nicht primär auf den defensiven Umschaltmoment, sondern die Absicherung des eigenen Pressings. Wie auch in ihrer vorigen Formation verteidigen die Niederländer bei dieser EM enorm mannorientiert – und zwar sogar noch etwas ausgeprägter als zuvor.
Gerade die Dreierkettenformation schafft die Voraussetzungen dafür: Sofern beispielsweise einer der Halbverteidiger weiträumig herausrückt, um seinen Gegenspieler aggressiv bis riskant zu verfolgen, hat man dahinter immer noch eine gute Präsenz aus vier Spielern, die in der letzten Linie verbleiben. Interessant ist darüber hinaus die Konstellation in ballfernen Räumen: Allgemein gehört die ballferne Seite zu denjenigen Feldzonen, in denen Spieler die direkte Zuteilung auf ihren jeweiligen Gegner am ehesten lockern und sich kompakter an die eigenen Mitspieler anschließen.
In einer 3-5-2-haften Formation hat man – bei einer nominell nur einfachen Flügelbesetzung – mit Halb- und Flügelverteidiger gleich zwei Akteure in der hintersten Reihe, bei denen dieses Prinzip zur Geltung kommen kann. Schieben sie ballfern aus ihren Deckungen durch, ergibt sich in der Tiefe also gewissermaßen eine doppelte Absicherung hinter den anderen ausgeprägten Mannorientierungen – also eine komfortablere Situation als in einer Viererkette. Das funktioniert vor allem gegen Offensiven mit einem ballfern auf die Verlagerung lauernden Außenspieler im 4-2-3-1, 4-3-3 o.ä.
Gegen Österreich deutete sich aber an, inwiefern die niederländische Defensive mit anderen Dreierkettenteams ihre Schwierigkeiten haben könnte. Um in der ersten Pressinglinie eine Unterzahl zu verhindern, schob Wijnaldum aus dem Mittelfeld halbrechts nach vorne und ergänzte die Stürmer. Das führte zur nächsten Herausforderung, wie man mit dem gegnerischen Zentrumstrio aus Sechser und Doppel-Acht umgehen sollte: Entweder einer der niederländischen Verteidiger musste weit heraus oder de Jong und de Roon mussten aufwendig zwischen den drei Gegenspielern pendeln, um aus Zwischenpositionen heraus jeweils kurzfristig zwei von diesen zu attackieren.
Die Situation veränderte sich nochmals bei den verschiedenen Umformungen der Österreicher um ihre linke Seite herum: Sabitzer konnte sich von der dortigen Achterposition frühzeitig auf den Flügel freilaufen, Hinteregger rückte als offensiver Halbverteidiger situativ außen auf und Baumgartner besetzte als hängende Spitze ohnehin häufig eine der beiden Außenbahnen. In den ersten Momenten reagierten die Niederländer meist, indem sie mannorientiert weit verfolgten. Wijnaldum beispielsweise wollte gegen Hinteregger aber nicht ganz so weit nach hinten schieben.
Der kritische Moment trat auf, sobald ein Verteidiger überraschend von einer Ausweichbewegung gebunden wurde oder sobald ein Einzelspieler sich entschied, seine Mannorientierung zu lösen, aber (noch) keine Kommunikation erfolgen konnte, wer den entsprechenden Gegner wie aufnahm und ob eine größere mannschaftliche Kettenreaktion des Übergebens stattfinden würde. Letztlich stellte sich das niederländische Defensivverhalten in solchen Situationen mehr als Ensemble individueller Entscheidungen ab. Es hing stark vom Gefühl der einzelnen Akteure ab.
Auf die Bewegungen von Sabitzer und Hinteregger reagierte Dumfries beispielsweise sehr sensibel, indem er sich weit nach vorne orientierte. Teilweise hatte er aber gar keine gute Möglichkeit, um Kontakt zu diesen herzustellen. Stattdessen musste er den österreichischen Flügelverteidiger offen lassen. In manchen Situationen hatte er die Möglichkeit, diesen während des Herausrückens im Deckungsschatten zu versperren, aber nicht immer. Bei passenden Bewegungen im oder ins offensive Mittelfeld standen Österreichs Chancen gut, diesen „über Eck“ auszuhebeln und auf den vorstoßenden eigenen Außenspieler zu verlagern.
Im Ansatz gelang das mehrfach. Weil das Ausspielen aber oft unsauber und hektisch erfolgte (Kontaktanzahl, Timing des Passes, Art der Anschlussbewegungen), kam die potentielle Gefahr dieser Szenen kaum zum Vorschein. In anderen Begegnungen könnten die ausgeprägten Mannorientierungen wegen solcher Konstellationen noch unangenehm werden. Die Niederländer dürfen sich nicht in falscher Sicherheit wiegen, die die Zahlen gegen Österreich – kein Gegentor und nur einen zugelassenen Schuss aufs Tor – suggerieren könnten. Es wäre erwägenswert, an der Defensivausrichtung nochmals zu schrauben.
6 Kommentare Alle anzeigen
g 29. Juni 2021 um 04:16
re: Niederlande – wer wäre ggf. als neuer Trainer geeignet? Käme überhaupt in Frage? Um mehr herauszuholen. Oder ist das die falsche Frage… (Koeman wurde hier ja letztes Jahr eher schlecht bewertet, bzgl. Barca)
Rinus Michels‘ Personal Fitness Coach 29. Juni 2021 um 21:38
Die Wahrheit-Guardiola.
Guardiola ist einer der wichtigsten Schüler von J.C und wenn jemand versteht, wie die Niederlande in Anbetracht ihrer Vergangenheit auftreten sollte, um zu ihren Wurzeln zu finden, wäre wohl kaum jemand besser als der Katalane.
Probleme: -)Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Guardiola den Klubfußball aufgibt? Cruyff meinte in seinen letzten Jahren, er könne sich Guardiola als Nationaltrainer nicht vorstellen.
-) Guardiola sitzt auch nächste Saison in Manchester auf der Bank
-) Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Niederlande einen Spanier auf die Trainerbank setzen?
-) Wäre Guardiola bereit auf so viel Gehalt zu verzichten und darüber hinaus kein Flagschiff einer Liga, sondern eine Nation, die knapp hinter den ganz Großen kommt, zu trainieren ?
Die Idee hört sich im Juni 2021 verrückt an, aber ich empfinde sie als durchwegs logisch.
-) Als Katalane weiß ich ohnehin nicht, wie wohl sich Guardiola auf der spanischen Trainerbank wohlfühlen würde.
-) Als Teamchef wird er des Problems entledigt mehrere Wettbewerbe zeitgleich absolvieren zu müssen(Liga, Cups, Europacup)-eines der Hauptprobleme, warum die Champions League ihn nicht ganz so lieb hat.
-) Er hat drei ausreichende Perioden bei Großclubs absolviert und auch er wird irgendwann leer werden.
-) sein idealistischer Fußball würde besser zur Elftal als zu einem Großclub mit Scheichs im Hintergrund passen.
-) Als Person kann er sich in den Niederlanden und in Amsterdam nur wohl fühlen-wohler als in München und Manchester
Rinus Michels‘ Personal Fitness Coach 28. Juni 2021 um 00:18
Vielleicht orientiert sich De Boer an den lieben Nachbarn aus Belgien, die heute eine sehr mühsame 5-er-Kette gegen Portugal zum Besten gaben und die 5-er-Kette bereits bei der letzten WM im Repertoire hatten?
Martinez brachte die Belgier auf ein anderes Niveau und die Physis der Belgier gleicht jener der Niederländer. Hat sich das De Boer schlichtweg abgeschaut? Van Gaal bot ja 2014 sogar 7 Defensive auf-2 brave Sechser vor der 5-er-Kette. Dafür wäre De Boer in Amsterdam 2021 mit Gouda-Ecken beworfen worden.
Allerdings hätte ich mir dann doch erwartet, dass regelmäßig zwischen 4-er und 5-er-Kette alterniert wird und die 5-er-Kette nicht zur Stammformation wird. Die zweite Halbzeit gegen die Ukraine mit 4-er-Kette war bis auf die Unachtsamkeiten in der Defensive vielversprechend. Die Stärke der Belgier bei der WM war ja auch die Flexibilität und die Anpassung an den Gegner. Regelmäßig mit einer 5-er-Kette zu beginnen hätte sich Martinez nicht getraut.
Die Restverteidigung lässt sich dann auch mit einer 4-er-Kette und einem tiefen Sechser aufrecht erhalten. Das wäre zumindest progressiver als eine 5-er-Kette-ein 4-3-3 mit tiefem Sechser.
studdi 21. Juni 2021 um 15:39
Woher kommen den diese Mannorientierungen im Niederländischen Fußball? War das schon immer so? Also ich meine in den 2010er Jahren war das durchgehend ein Stilmittel des Niederländischen Fußballs. Aber war das in den 70er 80er 90er auch schon so? Cuijff war ja eher ein verfechter der Raumdeckung meines wissens nach.
Andre Mueller 23. Juni 2021 um 10:27
Unter van Marwijk haben die Holländer deutlich raumbezogener agiert.
Cruijff galt sicher als Fan von Raumdeckungen, allerdings hatte das nichts mit dem heutigen Verständnis zu tun. Prinzipiell haben damals fast alle Mannschaften mannbezogen gedeckt, so auch seine Truppen. Raumdeckende Elemente gab es speziell in Form von Übergaben offensiver Gegenspieler, beim Anlaufen/Leiten der gegnerischen Verteidiger und bei der (Rest-)Verteidigung der Flügel. Das was man heute Raumdeckung nennt konnte man Mitte der 90er zunehmend in Italien finden.
TR 24. Juni 2021 um 00:32
Gute Frage, müsste man mal historisch genauer untersuchen. Wie @Andre Mueller schon angemerkt hat, gab es in früheren Jahrzehnten allgemein oft starke Mannorientierungs- und Manndeckungstendenzen, teilweise eben auch in nominell raumdeckenden Spielweisen. Möglich erscheint mir, dass diese Elemente seit den 90ern in den Niederlanden langsamer und/oder weniger ausgeprägt abgelegt wurden als in anderen Ländern – das wäre dann der Verlauf. Zu den genauen Gründen dafür könnte man dann noch eingehender überlegen und diskutieren.
Mit van Maarwijk wurde aus den 2000er-Jahren schon ein tendenzielles Gegenbeispiel erwähnt, die es schon grundsätzlich gab. Wenn man mal bei Nationaltrainern bleibt: Auch van Basten wäre dafür wohl zu nennen (habe allerdings nur vereinzelte Spiele aus seiner Amtszeit gesichtet), aber diesbezüglich wäre sicherlich die starke Sacchi-Prägung aus seiner Zeit als Spieler einzukalkulieren (ebenso bei Rijkaard). Dagegen ging es bei Advocaat wieder deutlich stärker in die typische Richtung der Mannorientierungen.
Auch zu den Gründen ließen sich schonmal erste Hypothesen aufstellen: Vielleicht haben die ausgeprägte Weiträumigkeit des „typisch“ niederländischen Stils und der häufige Fokus auf breite 1gegen1-Dribbler dazu beigetragen, dass jene Angriffsweisen in bestimmten Konstellationen (konditionelle Konstellation vor noch 15-20 Jahren; generell das Setting im Nachwuchsbereich ggf.) raumorientiert nicht immer so leicht zu verteidigen waren. Wenn man dann ständig gegen solche Offensiven spielt und damit ansonsten Probleme hat, setzt sich womöglich leichter ein Hang zu Mannorientierungen durch und dann fest.
Alternativ wäre zu überlegen, ob die starke Tradition für aggressives Pressing in den Niederlanden seit den späten 60ern quasi langfristige Nebenwirkungen ausgelöst und nicht nur hohe Intensität gegen den Ball zu einem wichtigen Wert gemacht haben, sondern dieser irgendwann auch in eine gegenteilige Entwicklung umgeschlagen sein könnte, dass Intensität und Aggressivität vermehrt fußballkulturelle 1gegen1-Orientierung förderte (zumal als Gegenpol zu diesem Flügeldribbler-Motiv), die wiederum partiell in stärker werdende Mannorientierungen ausartete. Das wären erstmal so die Überlegungen und Vermutungen, die mir zunächst einfallen.