Celtic in der Problemanalyse

Wir begeben uns zur Abwechslung auf die Reise in eine komplett andere Fußballlandschaft – nämlich nach Schottland, wo das lange Jahre dominante Celtic mittlerweile nur noch die zweite Geige hinter Stadtrivale Rangers spielt. Die aktuelle Saison verläuft für die „The Bhoys“ mehr als enttäuschend. International schied man bereits aus der Gruppenphase der Europa League aus und in der heimischen Liga beträgt der Abstand zu den Rangers schon 21 Punkte (bei drei weniger ausgetragenen Partien).

Eine Problemanalyse ist schon deshalb interessant, weil sie verdeutlicht, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen ein ambitionierter Titelkandidat, aber begrenzten individuellen Qualitäten, in einer Liga voller reaktiver Außenseitermannschaften zu kämpfen hat. Der nordirische Cheftrainer Neil Lennon gehört zudem zu einer Riege von Übungsleitern und Taktikern, die nicht immer das ganze Repertoire an Möglichkeiten ausschöpfen und in gewisser Weise unterambitioniert die notwendige Problemlösung angehen.

Hektik bei Ballbesitz

Eine der größten Probleme, die in nahezu allen Auftritten von Celtic beobachtet werden können, betrifft die sehr hektische Vorgehensweise bei eigenem Ballbesitz. Die Mannschaft manifestiert den eigenen Ballbesitz nicht in jener Form, wie es wirklich dominante Teams tun. Die Innenverteidiger versuchen in der Regel, den Ball sehr schnell nach vorn zu spielen; die Mittelfeldspieler wollen die Spielzüge mit aller Gewalt beschleunigen; und die Stürmer gehen meist bei der Schussauswahl sehr überhastet vor. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Celtic selten die bestmöglichen Entscheidungen aufgrund eines unnötigen und selbst auferlegten Zeitdrucks trifft.

Es wäre wenig sinnvoll, nun die verfügbaren statistischen Werte aus der Premiership auszuwerten, weil Celtic dort die zweithöchste Ballbesitzquote nur knapp hinter Rangers und mit weitem Vorsprung auf das drittplatzierte Aberdeen aufweist. Bei über 62 Prozent Ballbesitz ist es nur logisch, dass Celtic viele Tempospielzüge und Spielbeschleunigungen verbucht. Die Quantität ist hier wenig aussagekräftig. Viel interessanter ist da schon das Auftreten in der Europa League, wo Celtic zu jenen Teams mit den meisten Spielbeschleunigungen während der Gruppenphase gehörte. Das ist umso beachtlicher, wenn man bedenkt, dass Lennons Team lediglich 34. in der Ballbesitzstatistik war.

Wie alle anderen Grafiken stammt diese aus der Twenty3 Toolbox.

Solch ein temporeicher und auch direkter Spielstil kann vor allem dann problematisch sein, wenn ein Team – anders als vielleicht Milan oder Benfica – nur über durchschnittliche technische Fähigkeiten verfügt. Viele Celtic-Akteure insbesondere in der Abwehr versuchen mit großer Vorliebe, das Spiel zu beschleunigen, können es aber nicht mit jener Präzision tun, die notwendig wäre. Statt perfekten Abspielzeitpunkten und perfekter Passgewichtung streuen sie zwangsläufig ihre Zuspiele und verringern die Erfolgsrate der Spielzüge ungemein, weshalb Celtic zugleich ein unnötiges Chaos kreiert und anfällig für Tempogegenstöße wird.

Celtics statistische Werte sind im Vergleich zum restlichen Teilnehmerfeld in der Europa League durchschnittlich und unterdurchschnittlich in nahezu allen Kategorien, was eben auch unterstreicht, dass es dem Team an einem ausdefinierten Spielstil mangelt.

Taktische Gleichgültigkeit

Das erst vor einigen Wochen ausgetragene Europapokalspiel gegen OSC Lille war ein treffender Beweis für die Ermangelung eines ausdefinierten Spielstils. Obwohl Celtic die Partie schlussendlich mit 3:2 gewann, konnte es nie volles Kapital daraus schlagen, dass es an jenem Abend die kraft- und druckvollere Mannschaft war. In den ersten 45 bis 60 Minuten wirkte es so, als hätte Celtic die Möglichkeit gehabt, Lille komplett zu überholen. Aber die Schotten taten es nicht. Ein Hauptgrund hing mit dem Mangel an taktischen Anpassungen zusammen. Celtic begann die Partie in einer 3-4-2-1-Formation, welche in dieser Saison nur sehr selten zum Einsatz gekommen ist.

Während die Vorzüge und Nachteile dieser Grundformationen nun im Einzelnen nicht erläutert werden sollen, wurde während des Spiels deutlich, dass Celtic die strukturellen Schwachstellen von Lilles 4-4-2-Grundordnung nicht ausnutzte. Eine solche 4-4-2-Formation mit herkömmlichen Breiten kann vor allem dazu genutzt werden, die Flügel auf simple, aber doch recht effektive Art zu verteidigen, da immer eine klare Eins-gegen-Eins-Zuordnung existiert, während zusätzliche Unterstützung aus der Sturmspitze oder dem Mittelfeld hinzubeordert werden kann. Celtic griff aber unzählige Male über die Flügel an. Flügelläufer Diego Laxalt und Halbstürmer Mohamed Elyounoussi, der häufig nach links driftete, suchten ständig Zwei-gegen-Zwei-Situation, wodurch Elyounoussi den nahegelegenen Halbraum aufgab. Das wird nochmal durch die Darstellung von Celtics Passnetzwerk verdeutlicht.

Anmerkung: Die Trackingdaten erkannten Celtics Grundformation als 4-4-2 statt des eigentlichen 3-4-2-1, was wiederum unterstreicht, wie breit und weit verteilt die Spieler bei eigenem Ballbesitz waren.

Die Ausdünnung des eigenen Mannschaftszentrums, insbesondere nach dem Übergang ins mittlere oder sogar letzte Drittel, spielte Lille in die Hände, da es den Franzosen vor allem darum ging, Celtic auf den Außenbahnen zu halten und sie situativ zu Schlägen in die Mitte zu verleiten, als Passsequenzen zu erlauben, die zu hochkarätigeren Torschüssen geführt hätten. Was wir dabei beachten sollten, ist, dass 4-4-2- und artverwandte Strukturen, die oftmals mit defensiven Umformungen in Viererkettenformationen zusammenhängen, häufig in der schottischen Liga vorkommen. Das bedeutet, entsprechende Offensivlösungen zum Bespielen von 4-4-2-Verteidigungsstrukturen zu finden, sollte zu Celtics vordergründigen Aufgaben gehören. Dass Lennons Team vielleicht mit einer suboptimalen Idee in die Partie mit Lille ging, sollte noch kein Grund zur Sorge sein – dass der Ansatz allerdings nicht angepasst wurde, schon eher.

Fokus auf die Flügel

Was in den vorherigen Absätzen bereits angedeutet wurde: Celtic tendiert stark dazu, unabhängig von der eigenen Formation den Angriffsfokus auf die Flügel zu legen. Die Mannschaft fühlt sich insgesamt wohler dabei, wenn sie den Ball nach außen spielt und auch dort hält, während sie versucht, Raumgewinn zu erzielen. Gewiss gibt es Aspekte, die für diese Vorgehensweise sprechen. Celtic besitzt Flügelakteure mit Tempo und Dynamik und kann zudem ein recht effektives Gegenpressing zum Einsatz bringen, wenn der Ball auf der Außenbahn verloren geht. Das liegt unter anderem daran, dass eben Spieler wie Elyounoussi dorthin driften und von innen die Räume verdichten.

Allerdings wirkt es so, als wäre das sehr fokussierte Flügelspiel ein fast unverzichtbarer Part von Celtics Angriffsspiel, gerade auch angesichts der Passivität der beiden Sechser, die selten überhaupt versuchen, an der Passzirkulation entscheidend teilzunehmen. Bis auf kurze Anspiele und Ablagen geschieht im Sechserraum sehr wenig – die zwei Spieler stehen ein paar Meter vor der Abwehrlinie und warten. Diametrale Abkipp- und Aufrückbewegungen gibt es nahezu nie, wodurch natürlich auch jene Dynamik im Sechserraum fehlt, die es den Spielern dort ansonsten ermöglichen würde, nach einer Ballannahme einen gewissen Schwung mitzunehmen und sich beispielsweise mit Tempo in einen offenen Raum zu drehen und den Spielzug von dort aus voranzutreiben. Zudem wird durch die Passivität der Sechser die gegnerische Pressingstruktur nie wirklich gestört. Es gibt keine disruptiven Elemente, durch die Gegenspieler womöglich dazu gezwungen, den eigenen Deckungsschatten aufzugeben oder Deckungsaufgaben zu übergeben.

Durch den dezidierten Flügelfokus entsteht zudem ein weiteres Dilemma: Celtic kann den Ball im mittleren und letzten Drittel schwerlich in die Mitte bewegen. Wie die Grafik verdeutlicht, schafft es Celtic, sofern es mit einem mittigen Angriff startet, die Richtung auch zu halten. Allerdings ist die Quantität dieser Art von Angriffen doch arg überschaubar. Zentrale Spielzüge erfolgen viel seltener als Flügelangriffe. Manchmal haben Lennons Spieler ein wenig Erfolg dabei, von der Außenbahn nach innen zu spielen, aber zumeist werden sie spätestens auf Höhe der Außenseite des Strafraums abgeblockt oder zu wenig aussichtsreichen Handlungen gezwungen. Die Schusskarte zeigt, dass Celtic viele Abschlüsse mit weiträumigen Zuspielen von außen vorbereitet. Diese Schüsse haben natürlich im Schnitt eine geringere Erfolgsaussicht, gerade wenn es gegen relative Top-Gegner wie in der Europa League geht.

Entscheidungsfindung im letzten Drittel

Ein Problem, das teilweise mit den bereits genannten verknüpft ist, betrifft die alles andere als optimale Entscheidungsfindung im letzten Drittel. Das kann auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen: Mal spielt ein Mittelfeldakteur in einem Schnellangriff einen 30-Meter-Pass auf eine einzelne Sturmspitze in Doppeldeckung, mal wird ein überhasteter Verlagerungsball aufgrund des wahrnehmbaren Drucks eines Gegenspielers versucht. Natürlich stammen diese Dinge von der insgesamt vorherrschenden Hektik in Celtics Spiel, aber im letzten Drittel werden zusätzlich eben auch potenziell aussichtsreiche Chancen weggeworfen. Leider ist es schwer, diese Art der Hektik und Hast statistisch festzuhalten (ähnlich wie auch die Defensivqualitäten von Einzelspielern).

Um nochmal auf das bereits erwähnte Spiel gegen Lille zurückzukommen: Das dritte und entscheidende Tor für die Geschichte war ein Paradebeispiel dafür, wie es eigentlich im letzten Drittel laufen sollte. David Turnbull, der ein wichtiger Schlüsselspieler im Angriff sein kann, aber auch die schwachen Entscheidungsfindungsqualitäten in Drucksituationen verkörpert, spielt im Vorlauf zum Tor einen kurzen Diagonalpass auf Elyounoussi. Dieser überstürzt aber in diesem Fall nichts, sondern behält den Ball für ein paar Augenblicke, als er merkt, dass der Verteidiger in seinem Rücken keine Anstalten unternimmt, den Ball überhaupt zu attackieren. Elyounoussi gibt dadurch Halbverteidiger Kristoffer Ajer genügend Zeit, um auf der rechten Seite aufzurücken und einen Verlagerungsball ungedeckt zu erhalten. Ajer zögert anschließend aus unerfindlichen Gründen, obwohl er vor sich einen freien Raum hatte. Dadurch muss er sich am Ende mit etwas Glück durch zwei Gegenspieler hindurchkämpfen, um anschließend die Hereingabe in den Rückraum zu spielen. Aber bis zu Ajers Dribbling auf der Seite war das Tor mit der notwendigen Ruhe und unter Ausnutzung struktureller Schwächen des Gegners – in diesem Fall die stark eingerückte Abwehrreihe sowie die ballorientierte Mittelfeldkette – vorbereitet. Allerdings ist das eher eine Rarität in dieser Spielzeit.

Was folgt daraus?

Diese kurze Übersicht an Problemen könnte natürlich von Lennon und dem Trainerstab adressiert werden, wobei diese womöglich aufgrund einer anderen Grundphilosophie zu abweichenden Schlussfolgerungen kommen. Die Übersicht konzentrierte sich auf vornehmlich offensive Probleme. Die Statistiken deuten an, dass Celtic es versteht, den Spielfluss des Gegners zu unterbrechen und auch die eigene Physis zu nutzen, um Angriffe nach außen abzudrängen. Celtic hat in der Europa League immer noch zu viele Schüsse zugelassen, was aber eben nicht eine unmittelbare Folge von defensiver Inkompetenz war, sondern vornehmlich damit zusammenhing, dass Ballbesitzphasen selten ausgeweitet wurden und Ballbesitzmomente zu oft nur rudimentär abgesichert bleiben. Insgesamt geht es bei einer Mannschaft wie Celtic trotz der überschaubaren Qualität im Kader vor allem um taktische und weniger um personelle Fragen.

tobit 14. Januar 2021 um 14:23

Lennon ist nach Punkteschnitt sogar einen Tick erfolgreicher (insbesondere in seiner zweiten Amtszeit) als Rodgers, der ja bei Celtic durchaus guten Ballbesitz gespielt hat.
Und der Abstand zu den Rangers diese Saison ist auch nur so groß, weil die an 23 Spieltagen gerade mal VIER(!) Punkte abgegeben und dabei nur sechs Gegentore kassiert haben. Ist wohl kein gutes Zeichen für die Qualität der Liga, dass die Rangers so krass wegziehen und Celtic trotz spielerischen Rückschritten weiter Siege einfährt.

Gerrards Rangers würden mich ja auch mal interessieren. Insbesondere, was der mit Tavernier angestellt hat. Der war ja vorher eher ein Drittklassiger RV und ist jetzt Topscorer (jaja, viele Elfer – aber die muss man auch erstmal schießen dürfen als RV).

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CE 15. Januar 2021 um 08:37

Kontextloser Punkteschnitt sagt wirklich sehr wenig aus. Und es ist nicht nur die Situation in der schottischen Liga, in der Celtic in der Vergangenheit um einiges erfolgreicher war und die in puncto Qualität in den vergangenen Jahren gewiss nicht zugelegt hat, es ist auch das internationale Abschneiden: ausgeschieden gegen Ferencvaros und anschließend Letzter in der Gruppe hinter Slavia und Lille. Beide Spiele gegen die Prager gingen verloren, der einzige Sieg kam am letzten Spieltag.

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tobit 15. Januar 2021 um 09:04

Klar sagt der Punkteschnitt allein wenig aus. Sollte auch deine Beobachtung nicht in Abrede stellen. Und gegen Ferencvaros, Slavia und Lille haben schon größere verloren. Aber interessant, dass die Ergebnisse gerade in einem Wettbewerb, der ihrer Spielanlage mehr entgegen kommen sollte, noch schwächer sind als in der Liga.

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AG 12. Januar 2021 um 21:45

Toller Artikel, die Probleme von Celtic habe ich gar nicht mitbekommen, freue mich also sehr über die Aufklärung 😉 Die Schussverteilung sieht aber wirklich übel aus, kein Wunder, dass da nicht viel rausspringt. Kann das auch Vorgabe sein, oder liegt das nur an zu wenig Anspielstationen vorne bei der beschriebenen Eile?

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CE 13. Januar 2021 um 08:53

Das liegt zumeist an der sehr geringen Präsenz im letzten Drittel und auch an dem insgesamt weiträumigen Spiel. Es würde mich wundern, wenn es eine Vorgabe wäre, weil auch ständig Bälle bei diesen langen Zuspielen verloren gehen, die nicht verloren gehen müssen.

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