Türchen 14: Marko Marin

Marko Marin ist stets nicht nur ein begabter Flügeldribbler, sondern auch ein sehr guter Zehner gewesen. Das Risiko hat bei ihm viele Facetten.

Gegen Ende der 2000er-Jahre hat Marko Marin eine bleibende Erinnerung in Fußballdeutschland zu hinterlassen begonnen. Sein furioses Auftreten als junger Hoffnungsträger wirkte lange nach. Manche Medien betitelten ihn als den „deutschen Messi“. Viel spektakulärer als dieses Etikett war in der Karriere Marins eine Phase aus seinen Jahren bei Werder Bremen: Von damals datiert eine alte, fast schwärmerische Wunschvorstellung einstiger sportjournalistischer Beobachter, dass Marin als Zehner einer Raute agieren solle.

Zu einer Zeit, als Diskussionen um „klassische“ Zehner und „falsche“ Zehner noch große Blüten trugen, erschien eine solche Perspektive besonders gewöhnungsbedürftig. Als spielmachende Kraft taugt Marin nicht: Weder fokussiert er sich im offensiven Mittelfeld darauf, das Bindeglied für die entscheidenden Schnittstellenpässe darzustellen, noch entwickelt er eine allzu ausgeprägte Dominanz als Passgeber. Überhaupt ist Marin kein strukturierender oder organisierender, sondern vor allem ein punktueller Spielertyp. Er driftet viel herum und zieht oft zum Ball hin. Für einen flinken Dribbler wie ihn schien seine angestammte Position als offensiver Außen nur die natürliche Wahl. Warum sollte so jemand auf die Zehn gehen?

Mit seiner Beweglichkeit und seinen Finten kam Marin auf dem Flügel prinzipiell gut zurecht. Aus den seitlichen Zonen fällt ihm aber – in einer grundlegenden Form – oft erst einmal die Notwendigkeit zu, Aktionen in Richtung Tor antreiben zu müssen. Beim ersten Andribbeln findet Marin nicht immer den zielstrebigsten Weg. Insgesamt behielt sein Spiel auch im Laufe der Karriere eine verspielte Note. So gestaltete sich seine Effizienz als Wirbelwind auf den Außen wechselhaft, auch wenn er dort stets starke Momente hatte.

Wollte man für Marins verspielte Ader günstige Worte finden, dann könnte man sagen, dass sie von seiner enormen Ballsicherheit genährt wurde. Es ist äußerst schwierig, dem flinken Offensivmann das Leder abzunehmen. Das heißt umgekehrt allerdings nicht automatisch, Gegner sehr effektiv ausspielen zu können. Wenn der entscheidende Punkt also darin besteht, dass ein Spieler, wie in diesem Fall Marin, kaum mal einen Ball verliert: Wo sollte man dieses Potential aus mannschaftlicher Sicht am besten einsetzen, wenn nicht im Zentrum, wo die Räume eng sind und man genau solche Ballverluste besonders vermeiden will?

Bei Marin verbindet sich hohe Ballsicherheit mit einer enormen Wendigkeit. Unter anderem durch die kleinen, explosiven Auftaktkontakte liegt der wichtigste Wert seiner Dribblings darin, Bewegungen beim Gegner hervorzurufen. Manche seiner zahlreichen Finten und Drehungen am Ball ließen sich aus einer rein individualtaktischen Perspektive am Maßstab von 1gegen1- oder vielleicht 1gegen2-Situationen eigentlich als überflüssig bewerten. Doch sie sind fast sämtlich gut genug, um für einzelne Gegenspieler relevant zu erscheinen, diese zu Reaktionen zu verleiten und so letztlich Dynamik auf der größeren mannschaftlichen Ebene auszulösen. Mitunter kreieren feine Einzelbewegungen ebenso feine und unerwartete Lücken.

Marin als Zehner einer Raute bei Werder Bremen

Marin als Zehner und als Nadelspieler

Als Zehner agiert Marin – aus seiner natürlichen Spielweise heraus – wie ein Nadelspieler (und so erwähnt unserer alter Lexikonartikel zu diesem Stichwort ihn sogar an prominenter Stelle). Ein solcher Typus zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass er Bälle durch Engstellen hindurch „fädelt“ und so das kollektive Spiel über besonders kompakte Feldbereiche tragen kann. Er bewegt sich zumeist in den typischen Kreativzonen in der Offensive, aber er betätigt sich nicht als klassischer Spielmacher, sondern führt primär die von seinen Mitspielern geschaffenen Ansätze – ohne dass mancher Geniestreich als Ergänzung ausgeschlossen wäre – weiter. Im Falle Marins heißt das: Auf der Zehn behauptet er den Ball in engen Räumen, zieht im Idealfall Gegner auf sich und spielt dann Kollegen frei.

Die Zehn war – weder qualitativ noch quantitativ – die für seine Karriere prägendste Position. Noch seltener wurde er dort als tatsächlicher Nadelspieler fokussiert. Aber Thomas Schaaf zum Beispiel setzte den flinken Offensivmann etwa um 2012 herum bei Werder Bremen einige Male auf eine solche Weise ein. Vor dem Hintergrund seines Potentials für diese Rolle begann Marins Laufbahn eigentlich einige Jahre zu früh: In die heutige Zeit würde er noch besser passen. Schaut man eine Dekade zurück, hat sich die Ausgangslage für solche Einbindungen im Allgemeinen verbessert. Typischerweise sind Mannschaften kompletter geworden und außerdem sensibler darin, ihre Aktionen vorzubereiten.

Aus kollektiver Perspektive basiert die Effektivität des Nadelspielers auf zwei wesentlichen Voraussetzungen, die die umgebende Struktur erfüllen sollte. Erstens ist eine wirksame Einbindung vor allem dann möglich, wenn das Spiel des gesamten Teams ausreichend überhaupt auf die Nutzung kleinräumiger Kontexte orientiert und wenn es eine Basis hat, die jeweiligen Momente in Szene zu setzen. Konkret meint eine solche Grundlage eine stabile, komplette Ballzirkulation, die den Gegner in Bewegung hält und es ermöglicht, diejenigen Situationen gezielt auszuwählen, in denen man den Nadelspieler konkret mit Pässen bedient. Darüber hinaus bezieht sie sich auf die Entscheidungsfindung der Akteure.

Nur die zweite Voraussetzung war schon um 2010 herum recht gut ausgeprägt: Zielstrebige Läufe der anderen Angriffsspieler aus, durch oder in geschaffene Räume. Pep Guardiolas Barca ist insofern ein schwieriges Beispiel, weil es damals auch die erste Kompetenz bereits sehr gut entwickelt hatte, weit über dem zeitgenössischen Normalmaße. Das macht den exemplarischen Charakter dieses Teams für den zweiten Punkt nicht weniger eindrücklich: Nadelspieleraktionen müssen durch saubere umgebende Läufe, insbesondere Tiefensprints, ergänzt werden, so wie es Pedro und David Villa, aber ebenso Daniel Alves als Außenverteidiger in der damaligen Glanzzeit Barcas taten, aber nicht nur im Kontext von Lionel Messi, sondern vor allem von Andrés Iniesta.

Genau jene Jahre waren auch die Phase, in der nominell die Karriere Marins eine erste Konsolidierung hätte erreichen können. Er näherte sich der Altersmarke von 25, seit den furiosen Auftritten als Youngster in Mönchengladbach waren einige Saisons vergangen. In diese Zeit fällt schließlich auch der aufsehenerregende Transfer Marins zu Chelsea, wo er aber letztlich nicht groß zum Zuge kam. Ob sein Karriereverlauf von diesem Moment an, als er das sogenannte „bester Profifußballeralter“ erreichte, sich anders bzw. noch stärker hätte entwickeln können, wenn er weiter oder fokussierter als Zehner gespielt hätte, bleibt pure Spekulation, wenn auch eine interessante. In jedem Fall wäre die Position für ihn passend und aus fußballästhetischer Perspektive spektakulär gewesen.

Eine Einbindung als Nadelspieler konnte zwar manche Facetten von Marins allgemeiner Inkonstanz geschickt kaschieren, aber nicht jegliche Facetten ausschalten. Das kommt umso mehr zum Tragen, als in einem systematischen Fokus auf eine solche Rolle schon ein zweischneidiges Moment angelegt ist – unabhängig vom jeweiligen Einzelspieler. Nadelspieleraktionen sind von Natur aus eine besonders anspruchsvolle Herausforderung. Strukturell gesehen tendiert ein solches Aktionsmuster ins Risiko. Nadelspieler auf der Zehn machen eher einen Risikospieler als viele andere Zehner, und Marin als Nadelspieler wiederum tendenziell noch mehr als der „durchschnittliche“ Nadelspieler.

Allgemeines Risiko bei(m) Nadelspielern

Wie erklärt sich dies? Einerseits liegt die generelle Herausforderung dieser Spielweise darin, dass man im ersten Moment bewusst in eine eigene Unterzahl hineinspielt. Eigentlich ist das konträr zu stabilen „Handlungen“ und gewissermaßen auch zur fußballerischen Intuition: Wieso sollte man dorthin passen, wo sich ein vereinzelter und „umzingelter“ Mitspieler befindet? Die Intention dahinter ist es, den Gegner zu locken und sich für diesen Zweck – aber nur kurzzeitig – auf jene Unterzahl einzulassen. Potentiell könnte die Mehrzahl der Gegner den Ball erobern und daher muss es darum gehen, die Situation so zu kontrollieren und zu steuern, dass jene Mehrzahl erst gar keinen Zugriff findet.

Dementsprechend ist Konstanz seitens des Nadelspielers hilfreich – in der Ausführung von Bewegungen, in der Orientierung, auf der mentalen Ebene. Diese saubere Umsetzung sollte möglichst gleichförmig gelingen und nur wenige Ausreißer haben, seien sie bloß durch wechselnde Tagesform bedingt. Das gilt umso mehr dafür, tatsächlich Durchschlagskraft zu schaffen, aber bezieht sich grundsätzlich bereits darauf, dass Aktionen nicht übermäßig misslingen. Insgesamt brachte Marin noch ausreichend Konstanz – speziell über die Technik – zusammen und seine flexible Ballsicherheit dazu, um eine solche Rolle grundsätzlich ausfüllen zu können. Allerdings agierte er weniger stetig als andere Nadelspieler, hinsichtlich der Qualität wie hinsichtlich der Stilistik.

Beispielsweise hatte er diese Stabilität nicht in dem Maße wie Iniesta. Der Katalane verhielt sich im Vergleich noch geschmeidiger, unnahbarer und akkurater in Zwischenräumen. Beide reagierten in erster Linie auf von der Situation und den Gegnern gebotene Dynamik und beide spielten mit dieser Dynamik, um sie dadurch letztlich durchbrechen und verzerren zu können. Bei Iniesta gestaltete sich dies klarer, sauberer und harmonischer, bei Marin insgesamt punktueller, dadurch einerseits in der Spitze weniger flüssig, andererseits in einzelnen Fällen explosiver (nicht im Sinne von: im potentiellen Peak allgemein wirksamer, sondern nur in bestimmten Ausnahmekonstellationen, etwa bei sehr ungeordneten Staffelungen, punktuell mal wirksamer).

Andererseits: Im Erfolgsfall vermag eine gut ausgeführte Nadelspielerrolle enorme Effektivität und Wucht zu entfalten. Dieser Stil bietet interessante Möglichkeiten, um die eigenen Spielsituationen durch den wertvollen Zehnerraum zu gestalten. Vor allem aber erlauben Nadelspieler ein hochwertiges – und eigentlich auch gut abgesichertes – Angreifen mit nur sehr wenig Personal(einsatz). Wenn man sich mit dem Risiko von Aktionen beschäftigt, spielen eigentlich zwei Wahrscheinlichkeiten eine Rolle, die man gegeneinander verrechnet: In einem ersten Schritt ist dies die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktion selbst erfolgreich oder weniger erfolgreich verläuft.

In einem zweiten Schritt geht es für den Fall des Misserfolgs um die Frage, wie wahrscheinlich daraus welcher „Schaden“ entstehen kann. Auf dieser zweiten Ebene begründet sich, warum eine Unterzahlsituation besonders riskant wirkt: Die drohende Gefahr, dass die gegnerische Überzahl einen etwaigen Ballgewinn auch noch besonders gut ausnutzen könne, macht sich breit. Bei Nadelspieleraktionen lässt sich aber trotz der anfänglichen Unterzahl eine gute Stabilität herstellen. Schließlich ist die Gesamtsituation normalerweise kompakt und diese Kompaktheit wiedeurm bedeutet, dass die Wege kurz sind. Um die erste Unterzahl herum hätte man aus einer passenden Struktur heraus nach Ballverlust doch schnell weiteres Personal in den Anschlusszonen, wenn der Gegner öffnen will.

Ungeduldiger Zug zum Ball

Im konkreten Fall Marins kommt zur allgemeinen Ambivalenz des Nadelspielers noch eine weitere Facette hinzu. Bei ihm besteht zusätzlich die Gefahr, dass er nicht immer die Geduld hat, um diese für ihn passende Rolle konstant genug im Laufe des Spiels beizubehalten. So wie Marin gelegentlich auch dann Nadelspieleraktionen zeigt, wenn er nicht als Zehner agiert, kann es passieren, dass er jene Aktionen zu selten sucht, wenn er entsprechend eingesetzt wird. Entscheidend ist also nicht die Ausführung dieser Aktivität, sondern deren „Annahme“. Auch deshalb wäre die Entwicklung interessant gewesen, wenn er eine entsprechende Rolle häufiger gespielt hätte.

Die Ungeduld bezieht sich darauf, nicht lange genug in den Engstellen, in denen er hätte eingebunden werden können oder gegebenenfalls sollen, auf den Moment zu warten. Stattdessen tendiert Marin dazu, oft und teilweise zu früh zum Ball hin zu ziehen. Inwieweit das durch seine langjährigen Prägungen als Flügeldribbler, als der man recht häufig und teilweise individualistischer das Leder fordert, unterstützt wurde, ist diskutabel, aber möglich. Als Nadelspieler verlässt er dadurch unnötig die eigentlichen Zielräume. Diese Problematik mit ihren Auswirkungen für jene Rolle ist also ein Thema der Positionsfindung.

Allgemein gestaltet sich das Bewegungsspiel Marins wechselhaft. Dies gilt unabhängig von der genauen Einbindung und jenseits etwaiger Fragen, inwieweit man ihn eher im zentralen Offensivbereich oder klarer als Flügelspieler sieht. Auf der mannschaftstaktischen Ebene ist Marins Positionsfindung innerhalb der Struktur nicht immer optimal. Dieses suboptimale Element betrifft diesmal nicht die Konstanz: Eher durchzieht seine Positionierungen eine durchgängiger wirkende, leichte Unsauberkeit, die sich regelmäßig und ähnlich über Situationen hinweg bemerkbar macht, anstatt dass sich unter besonders präzise Positionierungen manch massiver Ausreißer mischen würde.

(Photo by Srdjan Stevanovic/Getty Images)

Marin neigt grundsätzlich dazu, sich etwas zu sehr in die Breite zu ziehen. Dadurch findet er sich in mitunter zu vielen Einzelfällen in peripheren Positionen wieder, wo er nicht so effektiv einzubinden ist. Die permanente leichte Ungenauigkeit wirkt sich in der Praxis jeweils nur in Feinheiten aus, beispielsweise in einem halben Schritt oder Kleinigkeiten bei der Körperdrehung zum Ball. Selbst wenn kleine Unsauberkeiten durchgehend vorhanden sind, müssen sie nicht ebenso durchgehend wirksam werden. Aber sie tragen für Marin die Gefahr, dass er immer mal in einen gegnerischen Deckungsschatten gerät.

Facettenreiche Folgebewegungen und Folgeaktionen

Wechselhaft geht es mit seinen Anschlussbewegungen weiter. Dies stellt sich im Einzelnen je nach Perspektive bzw. je nach Bezugspunkt differenziert dar: Im Sinne der gruppentaktischen Dynamik sind Marins Folgebewegungen oft sehr gut. Er hat ein besonderes Gespür für kleine Beschleunigungsmomente. Vor allem erkennt er ein bedeutendes Detail sehr feinfühlig: Effektives Absetzen von gegnerischen Zugriffsmomenten unmittelbar am Ball – wenn es situativ darum geht, sich nur um einen oder zwei Meter weg zu bewegen.

Dies können nur sehr wenige Spieler auf einem ähnlichen Niveau wie Marin, für dessen Glanzpunkte das häufig seine wichtige Stärke darstellte. Diese Anlagen machten ihn zudem zu einem herausragenden Kombinationsspieler in engen Räumen. Zumal sucht Marin gruppentaktisch auch aktiv nach diesem Zusammenspiel. Sein erstes Länderspieltor 2008 gegen Belgien, als er sich gemeinsam mit Philipp Lahm bis zum Tor durchkombinierte, wurde noch einige Jahre später immer mal thematisiert.

Hinsichtlich eines größeren Kontextes sind Marins Anschlussbewegungen aber problembehaftet. Sie passen zwar gut zur unmittelbaren Umgebung, aber innerhalb der mannschaftlichen Struktur nur bedingt. Häufig begegnet man Spielsituationen, in denen gleich mehrere Bewegungsmöglichkeiten jeweils gute Lösungen darstellen und vielleicht eine davon die lokale mit der überlokalen Ebene besonders harmonisiert. Prinzipiell wählt Marin diesen Weg selten und eher den, der primär in der unmittelbaren und quasi „ersten“ Dynamik wirksam ist.

Das fällt gerade in Szenen auf, in denen sein Team diesen anfänglichen Schwung einer Folgeaktionen nicht mitnehmen kann. Entwickelt sich die Situation dann in Form eines ruhigeren Ballvortrags weiter, statt als direkterer Übergang, können unsaubere Bewegungen Marins ihn für den nächsten oder übernächsten Moment kurz aus dem Spiel nehmen. Vor allem angesichts seiner großen Stärke beim kurzen Absetzen von Ball kann man zumindest tendenziell sagen: Je kleinräumiger die Szenerie ist, desto stärker gelingen seine Folgebewegungen.

Zu seinen Schwächen zählt wiederum das weitere Timing, sofern die Anschlussaktion gut funktioniert. Dies führt zu einem zentralen Problem in der Spielweise Marins, an dem sich auch erklärt, warum ihm im Laufe der Karriere immer wieder – und in der Summe letztlich recht häufig – ein Effizienzmangel vorgeworfen wurde. Oft stand dahinter das Thema, dass er seine hochwertigen ballsichernden Situationen nicht gut genug nutzen konnte.

Sowohl in seinen Auftritten als Nadelspieler auf der Zehn als auch als Flügelstürmer, wenn es etwa darum ging, aus seitlichen Positionen in kleine Räume zwischen gegnerischer Mittelfeld- und Abwehrreihe halblinks oder halbrechts zu gelangen, war dies relevant. Marin lief Gefahr, aus solchen Situationen anschließend nicht (oder zu spät) wieder herauszuspielen. Wenn er Gegner auf sich gezogen (und gegebenenfalls systematisch gelockt) hatte, verpasste er es häufig, einen gut gesicherten Ball abtropfen zu lassen und beim Mitspieler abzuliefern. Stattdessen lief er quasi gegnerbindend weiter und setzte die Aktion ins Dribbling fort.

Hielt Marin jedoch auf diese Weise weiter den Ball, ließen sich die möglichen Dynamikvorteile aus der vorigen Situation, die er zuvor selbst geschaffen hatte, nicht mehr nutzbar machen und verloren ihr Potential. So verlängerte er seine Aktion nur ins Ineffektive. Klassischerweise würde man die Thematik als „ballverliebt“ beschreiben. Ähnlich konnte es auch im Laufe von Dribblings passieren, dass er diese zu lange fortführte. Bei Folgeaktionen hatte Marin etwas mehr Probleme als bei Folgebewegungen.

Interpretationsmöglichkeiten des Risikos

An dieser Stelle werden erneut die unterschiedlichen Facetten von Risiko deutlich: Wenn man das Timing für die Folgesituation verpasst, kann dies eine Form von „Scheitern“ der entsprechenden Aktion sein, selbst wenn man das Leder behält. Die „schlechte“ Konsequenz besteht „nur“ im Verlust der Dynamikmöglichkeiten, nicht zum Beispiel in einem Verlust des Ballbesitzes, wie er aus einer gravierenden Unsauberkeit resultieren könnte. Für Marin ist das typisch: Er hat stets seine Szenen, die er nicht effizient behandelt, in denen er aber erst einmal problemlos am Ball bleibt. Trotz des niedrigen Risikos können sich auch hier Fragen der Abwägung und der Kosten-Nutzen-Relation stellen.

Gerade für eine Einbindung Marins als Nadelspieler ist diese Thematik wieder interessant: Inwieweit gewichtet man seine Inkonstanz und seine Timingprobleme als Risiko? Einerseits ging man etwa mit einem Fokus auf seine Engestellenaktionen besondere Investitionen ein, um diese Szenen herzustellen. Man richtet die Vorbereitung von Angriffen stark darauf aus und erhofft sich im Erfolgsfall verstärkte Durchschlagskraft durch das Nadelspielen. Vielleicht verzichtet man auf manch „erstbesten“ Aufrückmoment, wenn man darauf setzt, dass mit einer solchen Spielweise die eigenen Übergänge ab den Engstellen durch das Angriffsdrittel in schneller Form ablaufen werden.

Vollzieht sich dadurch die Ballzirkulation um wenige Prozentpunkte mehr im zweiten statt im vorderen Drittel und verpasst dann jedoch der Nadelspieler einige Momente für die Folgeaktion, könnte es zu verringerter Offensivpräsenz in einem Ausmaße kommen, das sich langsam bemerkbar zu machen beginnt. Inwiefern bewertet man solche Feinheiten auch als eine Form von Risiko? Wie geht man mit der Gefahr um, quantitativ weniger Momente im Angriffsdrittel zu haben? Bis zu welchem Grad lohnt eine solche Ausrichtung, sofern eigene Akteure in den Engstellen nicht die optimale Zielstrebigkeit entwickeln?

Punktuelle Einbindung im Zentrum für kurze Wege?

Im Falle Marins könnte man nun in zwei Kerben schlagen: Ein Argument wäre es zu sagen, die Problematik der verpassten Folgeaktionen bilde gerade zu der Rolle des Nadelspielers einen besonders gravierenden Widerspruch. Schließlich komme es wegen des lockenden Elements viel fokussierter exakt darauf an, die richtigen Momente zu treffen. Demgegenüber ließe sich auf der anderen Seite anführen, dass das Element der Ballsicherung, zumindest als Teilelement, für eine solche Rolle aber expliziter mit eingeplant ist als bei vielen anderen Rollen und sich zu „langes“ Ballsichern daher eher verkraften lasse.

Ein entscheidender Vorteil der Einbindung als „Nadelspielerzehner“ gegenüber der Flügelposition dürfte darin liegen, dass diese Marins punktueller Charakteristik besser gerecht wird. Nutzt ein Team Nadelspieleraktionen sehr systematisch und fokussiert, läuft das Spiel letztlich vermehrt auf einzelne Momente hinaus (außer man agiert mit ultra-aktivem Bewegungsspiel und vielen attackierenden Entscheidungen, doch dann landet man eigentlich wieder beim Ansatz von „zweiten Bällen“ und „Gegenpressing als Spielmacher“). Zwar Marin sehr flink und kombinationsstark, aber nicht so konstant darin, über einen längeren Zeitraum laufende Aktionen in gleichförmiger Sauberkeit durchzuziehen und stabil zu Ende zu führen.

Kurzzeitige, explosive Einbindungen passen also insoweit zu ihm, dass sie der Inkonstanz weniger „Angriffsfläche“ bieten. Je schneller die einzelnen Aktionen wieder beendet sind, desto kürzer muss die Aktionsqualität jeweils stabil gehalten werden. Genau diese Herausforderung ist vom Flügel aus größer und wichtiger, da bis zum Tor längere Wege überbrückt werden müssen. Im Einzelnen kommt es auf den Außenbahnen stets auf die konkrete Einbindung Marins an. Soll er mit Dynamik in Zwischenräume hinein eingesetzt werden oder eher mit dem Ball am Fuß starten? Je breiter er startet und desto antreibender er agieren muss, desto mehr macht sich bei den entsprechend größeren Entfernungen zusätzlich auch seine geringe Athletik bemerkbar.

Hoher Passradius nach schnellen Drehungen

Marin wurde selbst zu seinen Glanzzeiten als Dribbler nicht besonders durch gegnerschlagende Aktionen wirksam und auffällig. Das Absetzen, die kleinen und schnellen Anschlusskontakte und vor allem fast bruchlose Ballmitnahmen waren entscheidender. Spektakuläre Momente entstanden nicht zuletzt häufig dann, wenn er sehr plötzlich aus einem 1gegen1 „heraus“ trat und unerwartet mit einem Abspiel weitermachte. Mochte Marin auch manchmal den Zeitpunkt für einen Folgepass übersehen, der notwendig gewesen wäre: Umgekehrt streute er zu interessanten frühen Zeitpunkten genau solche Aktionen ein, wenn man kaum damit rechnete.

Im Verbund mit seiner wichtigstem koordinativen Vorteil ergibt sich daraus eine Stärke: Auch während einer Verlagerung seines Körperschwerpunktes – also tatsächlich im Laufe dieses Bewegungsprozesses – kann Marin vergleichsweise unbeeinträchtigt Pässe spielen, deren Sauberkeit sich unter den wirkenden Kräften auch noch kaum ändert. Ergibt sich ein überhaupt Effekt, besteht dieser am ehesten darin, dass seine Pässe in solchen Momenten erst recht einen interessanten Drall (zusätzlich zu seinem generell guten Effet) entwickeln. Seine diagonalen Zuspiele ins Zentrum können dadurch für überraschende Dynamiken sorgen. Zudem werden längere Seitenwechsel oder weit und verlagernd gespielte „Flanken“ in Richtung des ballfernen Strafraumbereichs mitunter unangenehm für den Gegner.

Unter diesen Vorzeichen konnte sich Marin in vielen Karrierephasen, ob ganz zu Anfang in Gladbach oder zuletzt in älteren Jahren, teilweise präsent in der Ballverteilung seiner Teams betätigen. Über die Zeit wurden Situationen seltener, in denen er nach Drehungen im 1gegen1 aus der Bewegung heraus direkt darauffolgende Flanken attackierend in den Strafraum spielte. Einerseits kamen diese Bälle genau in den Momenten (und damit eigentlich zu früh), wo er im Falle besonders gelungener Finten zunächst den entstanden Raumgewinn hätte nutzen können, diesen aber verschenkte. Andererseits brachte der Schwung der Schwerpunktverlagerung oft eine kurios verlängerte Flugkurve mit sich. Diese konnte dazu führen, dass die Bälle ballfern unerwartet länger wurden und dann später herunterfielen. Die Spannweite der Effektivität machte solche Aktionen zu Risikoaktionen.

Schlussworte

Zumindest in klaren dribblingorientierten Einbindungen gehen Marin aber die Tororientierung und die Sauberkeit der Auftaktaktionen sowie von etwaigen Abbruchbewegungen ein Stück weit ab. Da Profimannschaften im Laufe der letzten Dekade nochmals wesentliche Fortschritte in Sachen Raumabdeckung gemacht haben, erscheint es im Rückblick auf diesen Zeitraum ab 2010 als schwierig, Marin breit einzubinden. Selbst als nomineller Flügelspieler müsste er möglichst eingerückt agieren. Ein Beispiel wäre eine enge 4-2-3-1-Interpretation mit vielen Rochaden der offensiven Dreierreihe und am besten klarer Abgrenzung hin zur Doppel-Sechs, von der aus weiträumigere Herauskippbewegungen ausgehen könnten.

Nicht zu vergessen ist in dieser Thematik, dass Marin auch „normal“ auf der Zehn spielen kann bzw. in anderen Rollen, also nicht explizit als Nadelspieler. Von sich aus wird er im Zentrum auch in diesem Fall oft solche Momente suchen, die nur ohne den entsprechenden mannschaftlichen Fokus ablaufen. Die Timingprobleme beim Weiterspielen des Leders nach Ballsicherungen etwa sind in zentraler Position nicht ganz so akut. Auch nachdem man die eigentliche Dynamik für eine Folgeaktion verpasst haben sollte, ist es in der Feldmitte mit ihrer natürlichen 360-Grad-Umgebung einfacher, eine alternative Möglichkeit zur Weiterführung der Szene zu finden.

In en letzten Jahren in Piräus oder Belgrad wurde Marin vermehrt als Zehner auch im 4-2-3-1 eingesetzt. Teilweise hatte er auf dieser Position viel Präsenz, manchmal eher in der Mitte, manchmal durch Ausweichbewegungen zum Flügel. An dieser Stelle deuteten seine Einsätze einen Knackpunkt, der für „pendelnde“ Zehner oft entscheidend ist, zumindest an: Einerseits können ergänzende Bewegungen nach außen leicht für Überlademomente sorgen, andererseits darf man nicht zu viel umherdriften, um Verbindungen nicht zu sehr abreißen zu lassen. Für eine solche Rolle bedeutet dies die zentrale Abwägung, und ein eventuelles Risiko. Zum Abschluss gibt das Beispiel Marins die Gelegenheit, dieses Element von Risiko noch kurz anzureißen. Viele andere Facetten verkörpert der ehemalige Nationalspieler noch deutlicher: Das Thema Risiko begleitet ihn bei seiner effetvollen Passtechnik oder bei seinem manchmal übermäßigen Zug zum Ball hin. Marin mochte zu ineffektiven Aktionen neigen, aber es waren in diesen Fällen fast immer sehenswerte Aktionen eines tollen Fußballers.

Michael Waldhauser 14. Dezember 2020 um 21:38

Hervorragender Artikel!

Sehr schön wie du seine persönlichen Entwicklungen über seine gesamte Karriere beschreibst und noch dazu taktiktheoretische Details zu seinem Spielertyp einbindest.

Antworten

tobit 14. Dezember 2020 um 09:19

GEIL!
Ich weiß noch nicht so ganz wieso, aber das hier ist bisher mein liebster Artikel im Kalender.

Marin hat einfach immer Spaß gemacht zuzusehen. So einen Dribbler hat Deutschland vor und nach ihm lange nicht gehabt.

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