Türchen 3: Martín Demichelis
Vor allem Konzentrationsschwächen machten die Leistungen von Martín Demichelis zu einer äußerst wechselhaften Angelegenheit.
Es kommt selten vor, dass Fußballern solch ein ausgeprägter Ruf für ihre Fehleranfälligkeit vorauseilt wie bei Martín Demichelis. Ob in seinen Jahren in der Bundesliga oder nach der überraschenden Verpflichtung im Karriereherbst durch Manchester City: Im allgemeinen „Fußballsprech“ war Demichelis immer für einen spielentscheidenden Patzer „gut“. Das Spezielle im Fall des argentinischen Innenverteidigers: Von diesen Fehlern ließen sich viele tatsächlich als klassische „individuelle Fehler“ einordnen – und waren also nicht eher vermeintliche „individuelle Fehler“, die sich eigentlich in einem größeren mannschaftlichen Kontext erklärten, indem eine strukturelle Problematik aus den Vorsituationen heraus den nominellen „Verursacher“ am Ende der Kette in die Bredouille gebracht hatte.
Grundsätzlich neigte Demichelis zu einer aggressiven Spielweise, aber nicht übermäßig. Eine Fehleranfälligkeit zumindest in diesem Ausmaß war nicht zwingend in seinem Profil angelegt. Demichelis´ Passspiel gestaltete sich beispielsweise nicht allzu attackierend. Bei seinen Dribblings stürmte der langjährige Bundesligaspieler keineswegs auf Knopfdruck ins Harakiri, sondern tastete sich oft sogar zunächst in die Räume vor ihm heran. Wenn das Spiel des Argentiniers wilder wurde, geschah dies am ehesten im Laufe von Spielsituationen.
Inkonstanz und Aussetzer in der Konzentration
War Demichelis über einen längeren Zeitraum in der unmittelbaren Aktionszone rund um den Ball präsent und dort durchgängig – quasi durch eine hohe „Ereignisdichte“ der Szenerie – aktiv gefordert, stieg die Wahrscheinlichkeit von Unsauberkeiten. Beispielsweise würde er nachlässig werden, sich in gewissen zeitlichen Abständen jeweils nochmal zu orientieren. Es gelang Demichelis nicht gut, die Konzentration hochzuhalten.
Vor dem Start von Aktionen – ob ein Dribbling oder eine Bewegung ohne Ball – bereitete sich Demichelis oft erst gut auf diese vor und auch auf die Entscheidung, wann er sie starten solle. Nur blieb die Sorgfalt dann fast nie konstant über größere Intervalle erhalten. An dieser Stelle lag damit der wohl entscheidendste Knackpunkt für Demichelis´ typische Fehleranfälligkeit: Er baute viele Unkonzentriertheiten in seine Performance ein. Der enorme Einfluss von Konzentrationsschwächen auf die Leistungsfähigkeit eines Spielers war in dieser Form selten und außergewöhnlich.
Die Unkonzentriertheiten gab es auch über den Fall hinaus, in welchem Demichelis im Laufe von Aktionen quasi schleichend unfokussierter wurde. Genauso trat das Thema punktuell und unangekündigt in fast beliebigen Einzelsituationen auf. Im Extremfall verhedderte Demichelis sich plötzlich in einem alltäglichen koordinativen Ablauf, den jeder Bundesligaspieler inklusive ihm eigentlich wie automatisiert ablieferte. Manchmal hätte er einen einfachen und harmlosen Ball problemlos klären können, wenn er nur stehen geblieben wäre, aber neigte stattdessen den Körper wie apathisch leicht weg.
Das war das Risiko bei Demichelis: Er brachte seine Qualitäten mit, ob als Aufbauspieler oder als Abräumer, aber ihn aufzustellen hieß immer mit einer überdurchschnittlich hohen Wahrscheinlichkeit rechnen zu müssen, dass er zwei, drei oder vier Situationen in einer Partie – losgelöst von dessen taktischer Struktur – haben würde, in denen er quasi raus aus dem Spiel war.
Mannorientierungen als kritisches Thema
Neben den Konzentrationsproblemen im Allgemeinen bedeutete Demichelis´ Umgang mit Mannorientierungen einen zweiten größeren Faktor für Phasen dar, in denen er unsauber und fahrig agierte. Schon von sich aus neigte er grundsätzlich dazu, eng und aggressiv am Gegenspieler zu verteidigen. Dementsprechend sah man unter den Herausrückbewegungen im Allgemeinen viele mannorientierte Herausrückbewegungen im Speziellen bei Demichelis. Wenn zudem der taktische Defensivansatz seines Teams stark mit Mannorientierungen arbeitete, konnten sich Probleme ergeben: Solche Zuteilungen verfolgte Demichelis sehr eng.
Geplante Mannorientierungen als taktische Aufgabe setzte der Innenverteidiger fast überengagiert um. Dabei fokussierte er sich schnell auf genau jene Zuteilung und auf kompromisslose 1gegen1-Duelle, und kam dadurch leichter wiederum von seiner allgemeinen Konzentration ab. Wenn Demichelis mannorientiert verteidigen sollte, dann geschah das sehr konsequent. Die direkten Zuordnungen flexibel zu balancieren, lag ihm demgegenüber wenig.
In der Folge bestand eine besonders akute Gefahr, dass Demichelis durch unüberlegtes mannorientiertes Herausrücken aus dem Zentrum weggezogen wurde. Das konnte zudem ohne Mannorientierungen passieren: Gerade bei vergleichsweise großem Raum zwischen den Linien (in der Vertikalen) spekulierte er mitunter auf mögliche Bewegungen nach vorne selbst in solchen Fällen, in denen eigentlich nicht alle dieser offenen Bereiche auch wirklich gut bespielbar gewesen wären.
In dieser Hinsicht musste man ihm mit einer klaren und kompakten Struktur unter die Arme greifen, in die er sich dann auch gut einzufügen vermochte. Das Kettenverhalten beispielsweise erledigte Demichelis solide, zumindest ab seiner späten Bayern-Zeit schon wesentlich stabiler als zuvor. Wenn die Aufgabenzuteilung klar (genug) war und situativ nicht zu viel darüber improvisiert werden musste, kam er nicht so schnell vom Fokus ab. Dann sicherte er seine Nebenleute sauber ab, sobald diese etwa in Luftduelle nach langen Bällen vorrückten. Auch das Durchschieben innerhalb der Abwehrreihe führte Demichelis insgesamt gut aus.
Demichelis als Spielberuhiger?
Viel Kritik zog der argentinische Innenverteidiger an seiner Entscheidungsfindung auf sich. Gerade diese gestaltete sich insgesamt aber nicht so unüberlegt, wie ihr bisweilen vorgehalten wurde. Überhaupt galt das für den generellen Stil von Demichelis: Beim Andribbeln gegen tiefstehende Gegner versicherte er sich meistens, ob er den Raum unmittelbar vor ihm tatsächlich stabil würde besetzen können. Insbesondere führte er seine Auftaktbewegungen – um unter anderem solche Dribblings einzuleiten – geduldig aus.
Speziell kurzes Verzögern und sonstige kleine Tempowechsel gehörten in der Ballführung zu den wichtigsten Qualitäten von Demichelis. Damit ließen sich einzelne Passwege ins Mittelfeld hinein erschließen, die er anschließend selbst bespielen konnte und deren Öffnung entscheidend seinen Wert als Aufbauspieler ausmachten. Rein vom Stil her passte Demichelis gut zu Ballbesitzmannschaften, da er auf längere Zuspiele – selbst auf weiträumige diagonale Flugbälle – fast komplett verzichtete. Gleichzeitig hatte er recht viele – wenn auch manchmal seltsam gewählte – Momente, in denen er abbrach und über den anderen Innenverteidiger zurückspielte.
Zu den Phasen, in denen Demichelis beim FC Bayern zu einer Schlüsselrolle für das Team aufstieg, zählten einige Perioden während seiner Zeit als Rautensechser unter Felix Magath, die Münchener Meistersaison 2007/08 mit Ottmar Hitzfeld und später zumindest die Wochen im Frühling 2010. Auf dem damaligen Weg der Münchener ins Champions-League-Finale drohte das Team von Louis van Gaal in einigen entscheidenden Partien zwischenzeitlich die Ruhe im Übergangsspiel zu verlieren – entgegen der späteren Kritik der (quantitativ) zu lang andauernden Ballpassagen.
Einige Spieler wie Daniel van Buyten, aber teilweise auch Mark van Bommel versuchten in relativ vielen Szenen, in denen die Positionsaufteilung vor ihnen gerade nicht gut genug zum Tragen kam, trotzdem das direkte Zuspiel in die Spitze zu erzwingen – notfalls auf einzelne verspätete oder improvisierte Läufe. Sie griffen mit diesen vorschnellen Pässen also zu Aktionen, deren Erfolgsquote eher niedrig lag. Deren Risiko hielt sich zumindest in Grenzen, weil Bayern in den entsprechenden Situationen abgesichert stand und ein erwartbares Scheitern daher keine akute Gefahr schuf.
Aber sie passten nicht zu einem Ansatz, der auf möglichst hoher Ballsicherheit basierte. Vorschnelle Aktionen mit niedriger Erfolgsquote bereits aus dem zweiten Drittel bedeuteten eine weniger stabile Wahl gegenüber der in den meisten dieser Fälle ebenfalls möglichen Alternative, abzubrechen und zurück in die Zirkulation, gegebenenfalls sogar in die tiefe Zirkulation, zu wechseln – selbst nach vorigem Raumgewinn. Genau das machte Demichelis eigentlich häufig: Er ließ den Ball im Zweifel nochmals laufen, so dass seine Entscheidungen teilweise fast konservativ wirkten.
Langfristig hätten vorschnelle Vorwärtspässe letztlich doch zu einem Risiko werden können, wenn sie zum übermäßigen Verlust von Spielanteilen und mannschaftlichem Rhythmus beigetragen hätten. In dieser Hinsicht wirkte Demichelis in den Champions-League-Begegnungen 2010 fast wie ein kleines Korrektiv für das Münchener Ballbesitzspiel. Zumindest in jener Phase war er eigentlich nicht einmal viel „mehr“ Risikospieler als die anderen Akteure aus der bayerischen Abwehrkette – wenn nur nicht die zwischenzeitlichen Konzentrationsschwächen gewesen wären.
Gute Entscheidungen, technische Unsauberkeiten und dann schlechte Entscheidungen
Zugegeben: Diese Einschätzung ist leicht überspitzt. Sie galt eigentlich nur nur unter den besonderen Umständen der damaligen Situation, weil van Buyten sich gerade an den neuen Stil unter van Gaal gewöhnte, weil beispielsweise Holger Badstuber erst 20 Jahre jung war – und weil Demichelis selbst sich in guter Form befand. Das machte nicht nur die Unkonzentriertheiten unwahrscheinlicher. Grundsätzlich neigte Demichelis zu Unsauberkeiten im Passspiel – doch ein starkes Formhoch vermochte diese schnell und äußerst wirksam zu unterdrücken. Nicht nur bei Bayern, auch bei späteren Stationen wie Málaga oder Man City kam es vor, dass die durchschnittliche Passquote des Innenverteidigers niedriger als der Schnitt der Mannschaft insgesamt.
Ähnlich wie im Passspiel verhielt es sich bei den typischen Grätschen, die den Stil von Demichelis so resolut aussehen ließen: Insgesamt war die Entscheidungsfindung des argentinischen Argentiniers gar nicht so wild, viel eher unsaubere Umsetzungen (von Entscheidungen) entscheidend für seine inkonstanten Auftritte. Erst dieser Faktor konnte gegebenenfalls in Folgeaktionen letztlich doch die Entscheidungsfindung beeinflussen, wenn dadurch suboptimale Ausgangslagen für den weiteren Verlauf von Situationen entstanden und so Unruhe befördert wurde.
Demichelis wählte eigentlich keine so schlechten Momente etwa für Herausrückbewegungen gegen einen ausweichenden Stürmer und häufig auch nicht für die Grätsche im direkten Duell. Das Grätschen selbst erfolgte daher aus einer dynamischen Vorbereitung heraus, nur häufig zu rabiat oder sogar plump. Zudem schien sich Demichelis schwer damit zu tun, das richtige Gefühl für Abstände und Distanzen zu finden. Daher konnte er mitunter günstige Ausgangsbedingungen nicht nutzen, nachdem er für eine herausrückende Bewegung das passende Timing gefunden hatte. Die Schwierigkeit bestand darin, einzuschätzen, wie viel Raum im weiteren Verlauf noch zu überbrücken war.
Im Dribbling konnte es vorkommen, dass Demichelis die Aktion sehr stark begann und ein gutes Timing fand, irgendwann aber plötzlich einen haarsträubenden Ballkontakt setzte. Obendrein folgte ab dieser Unsauberkeit auf die bis dahin guten Entscheidungen oft umgehend genau deshalb eine wesentlich schlechtere. Dahinter stand also eine mentale Problematik. Handlungen und Aktionen, die er in solchen Momenten vornahm, konnten nun im Anschluss leicht riskante Aktionen sein – mit höherer Wahrscheinlichkeit als sonst. Dies bedeutete dann situativ ein zusätzliches Risiko mit Blick auf die Mannschaft.
Resümee
Nun war bereits die allgemeine Entscheidungsfindung bei Demichelis nicht frei von Schwächen: Vor allem orientierte er sich teilweise zu sehr an allgemeinen taktischen Mechanismen, selbst wenn diese gerade nicht zum situativen taktischen Kontext passten. Wenn sich ein Dynamikvorteil zum Überspielen einer Linie ergibt, macht es normalerweise Sinn, diesen zu nutzen, außer wenn durch spezielle Umstände die etatmäßige Absicherung nicht gegeben ist. Das hieß: Gelegentlich übersah bzw. verkannte Demichelis vor allem Ausnahmefälle und deren Einschätzung. Gerade solchen Kontexten entsprangen seine Risikoaktionen. Diese waren einerseits oft „gut gedacht“, also kein Ergebnis einer notorisch wilden, allgemein undisziplinierten Spielweise. Das machte sie andererseits in ihrer Wirkung natürlich nicht weniger risikoreich – sie blieben also ein Risiko.
6 Kommentare Alle anzeigen
DreamsTonite 3. Dezember 2020 um 22:45
Demichelis und Lucio als IV-Paar war wohl die Definition von „high risk high reward“
pau 3. Dezember 2020 um 08:36
Absatz unterm ersten Bild?? sagt im Grunde gar nichts aus. weder hü noch hott und da hör ich dann mit dem Lesen auf… Andere sicher nicht, für mich ist das nur Gelaber. Der Aufwand in allen Ehren.
rb 3. Dezember 2020 um 11:49
Schade, da hast du dann die schönsten Teile verpasst. Kann sich lohnen, nicht gleich aufzustecken.
Ich finde es schade, dass TR immer diese Breitseiten abkriegt. Aus eigener Schreiberfahrung weiß ich um die Schwierigkeit, einen Text inhaltlich reich und stimmig und gleichzeitig einfach lesbar zu machen. An der in Schreibkursen zu hörenden Aussage ist was dran, dass man in der ersten Hälfte des Schreibprozesses für sich schreibt, um es selbst überhaupt zu verstehen, und in der zweiten Hälfte für andere schreibt, damit die es auch verstehen.
Wenn man den (hier für den Kalender noch mehr geltenden) Anspruch hat, Content zeitig zur Verfügung zu stellen, kann es leicht passieren, dass der zweite Teil kürzer ausfallen muss. Dann ist der Leser halt selbst gefordert, auch noch Verstehensaufwände seinerseits aufzubringen. Ich persönlich kann damit gut leben, denn ich halte den Anspruch einer zeitigen Veröffentlichung für zu wichtig … ich möchte keinen Adventskalender im Januar lesen.
savona 3. Dezember 2020 um 13:56
Genau, Du hast recht mit Deiner verständnisvollen Antwort. Ich selbst habe TR auch schon mal meine gelegentlichen Schwierigkeiten mit dem Lesen seiner Texte präsentiert, allerdings auch erwähnt, dass ich seinen Sachverstand und sein Engagement sehr schätze.
Bei der obigen Kritik denke ich, dass wir uns daran gewöhnt haben, am liebsten nur pointierte, zugespitzte Aussagen hören oder lesen zu wollen. Was sich aber nach meiner Beobachtung leider allzu leicht auch im Alltag als eine zunehmende Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken bzw. -Empfinden auswirkt; eine Entwicklung, der man nicht unbedingt Vorschub leisten sollte. Der kritisierte Absatz zeichnet sich nun gerade dadurch aus, dass er dieses Schwarz-Weiß-Denken vermeidet: die Besonderheit an Demichelis‘ Risikoanfälligkeit lässt sich demzufolge nicht an seiner aggressiven Spielweise oder an Harakiri-Aktionen festmachen. Das ist eine abwägende, relativierende Einleitung, die für sich alleine zugegebenermaßen noch nicht sehr aussagekräftig ist, aber durchaus Interesse wecken kann für die folgende Darstellung. Und da wird es dann ja auch konkreter.
Mr Big 8. Dezember 2020 um 23:18
@Savona
volle Zustimmung bezüglich des Schwarz-Weiß-Denkens und der damit verbundenen voliebe für zugespitzte, pointierte Aussagen.
Man sollte den Menschen vielleicht ans Herz legen, Zeitungen von vor 100 oder 150 Jahren zu lesen. Da fliegen einem die Schlangen- und Schachtelsätze nur so um die Ohren.
Und schon bin ich selbst auf die „Pointierte-Sätze-Schiene“ geraten 🙂
savona 9. Dezember 2020 um 07:18
Daran ist grundsätzlich auch nichts auszusetzen. Mir ist jedenfalls eine Aussage, die etwas riskiert oder auf den Punkt bringt, auch lieber als etwa ein unverbindliches Sowohl-als-auch. Nur sollte das nicht dazu führen, dass man nicht mehr bereit ist, dem Aufbau eines Gedankens über mehr als fünf Zeilen zu folgen.