Türchen 2: Moussa Sissoko
Wenn es um die athletischsten Spieler im Fußball geht, dann führt der Weg schnell zu Moussa Sissoko.
Tottenhams französischer Mittelfeldallrounder verfügt über eine enorme Schnellkraft, sein Spiel wirkt oft wie eine Naturgewalt. Er ist nicht einfach „nur“ das Extrembeispiel für athletische Typen. Seine besondere Physis macht sich nicht konstant über sämtliche Aktionen hinweg so bemerkbar, dass sie jeweils einen gewissen potentiellen „Zusatzschub“ für die Ausführung eben dieser Aktionen bedeuten kann. Bei Sissoko kommt der Faktor Athletik mitunter sehr speziell und gebündelt zum Tragen.
Zwischen individueller und kollektiver Effektivität
Insgesamt reflektiert das Risiko seiner Spielweise die Spannung zwischen individueller und mannschaftlicher Effektivität, zumindest eine Facette dieser Spannung. Das heißt: Einerseits kann Sissoko für extrem wirkungsvolle Einzelaktionen sorgen, die kaum andere Spieler in einer ähnlichen Qualität bieten könnten. Diese gelingen ihm mitunter in Situationen, in denen nur sehr bedingt damit zu rechnen wäre, dass jemand zu dem entsprechenden Zeitpunkt auf ein solches Mittel überhaupt zurückgreifen würde.
Andererseits verhält sich Sissoko in vielen anderen Spielphasen jedoch unsauber. Dadurch können Reibungsverluste entstehen, die die konstante Effektivität der mannschaftlichen Synergien erschweren. Da viele andere Mittelfeldspieler zuverlässiger agieren, stellt sich bei der Personalie Sissoko das Risiko bzw. ein im Vergleich höheres Risiko, dass der „Motor“ des Kollektivs nicht so sauber und nicht so selbstverständlich läuft. Es muss also stets abgewogen werden, inwiefern die potentiellen Qualitäten Sissokos diese Gefahr jeweils aufwiegen.
Unsauber, aber nur ein bisschen unkontrolliert
Unsauberkeit bedeutet in diesem Fall nicht, dass der Mittelfeldmann der Spurs komplett wild spielen würde. Sissoko ist athletisch und er ist auch laufstark, aber er läuft nicht dauerhaft weiträumig herum oder pendelt ziellos über das Feld. Sein Bewegungsspiel gestaltet sich gar nicht allzu umtriebig. Er wird zwar manchmal durch einzelne unüberlegte Aktionen zum „Bruder Leichtfuß“, und in der Folge dadurch zum Risikospieler. In der Strafraumverteidigung beispielsweise versucht er gelegentlich nach einer ersten so schnell die zweite Zugriffsbewegung anzuschließen, dass diese zu einem tollpatschigen „Nachstochern“ misslingt. Auf gute ballsichernde Dribblings lässt er häufiger überambitionierte Pässe unnötig in eine komplizierte Umschaltdynamik folgen.
Aber Sissoko entwickelt nicht den Hang zum Absurden. Er beschränkt sich weitgehend auf solche Aktionsmuster, die zu seinem Stil und seinen körperlichen Voraussetzungen passen, statt sich beispielsweise übermäßig präsent schon in der tiefen Ballverteilung einzubringen zu versuchen. Seine Anschlussbewegungen nach eigenen Pässen gestalten sich oft improvisiert und wechselhaft. Aber die Läufe hinterlassen den jeweiligen Ausgangsraum nicht im drohenden Chaos. Sissokos Glanzmomente gehen nicht auf Kosten der generellen Stabilität, sondern eher auf Kosten der mannschaftlichen Effektivität und Konstanz.
Kleinräumige Positionierungen mit Ambivalenz
Teilweise agiert er im Bewegungsspiel sogar dezent. Sein Freilaufverhalten wirkt im zweiten Drittel mitunter zurückhaltend. Häufig sucht Sissoko sich Positionen recht gezielt in den Zwischenräumen bzw. in kleinen Schnittstellen der gegnerischen Mittelfeldreihen und fordert dort Bälle. Das macht er als Achter oder als eingerückter Flügelspieler – bei Frankreich teilweise in ähnlichen Rollen wie der, die beim WM-Titel 2018 Blaise Matuidi oder Corentin Tolisso ausfüllten und die für Stabilisierung des französischen Gebildes stand. In jenem Fall brachte die Aufstellung zusätzliche Präsenz in den Halbräumen und Absicherung.
Sissokos Rolle war im Nationalteam häufig auf punktuelle Offensivbeteiligung als Ergänzung ausgelegt, wie es seinem Spiel liegt. Gerade deshalb wiederum machte es Didier Deschamps Truppe nicht so viel aus, wenn zwischendurch unsaubere Positionierungen einzelne Verbindungen unterbrachen oder suboptimales Timing mögliche Dynamiken kappte. Wird Sissoko in den kleinräumigen Situationen – wie eben innerhalb gegnerischer Schnittstellen – schließlich konkret mit Ball eingebunden, ergibt sich ebenso eine Ambivalenz: Einerseits tut er sich mit der Orientierung schwer, muss viel improvisieren. Andererseits kann die besondere Charakteristik seiner Athletik dies selbst unter solch anspruchsvollen Gegebenheiten teilweise ausgleichen.
Schnelligkeit von Bewegungsabfolgen als Stärke
Im Einzelnen heißt das: Technisch hat Sissoko bei Mitnahmen – wie auch in anderen Bereichen, unter anderem im Passspiel – einige Unsauberkeiten und koordinativ agiert er ebenfalls wechselhaft. Aber er ist einfach ungemein schnell in Bewegungsabfolgen, so dass er sich häufig durch rasante Drehungen oder Mitnahmen herauswinden kann. In direkten Duellen setzt sich Sissoko mit einer vergleichsweise hohen Erfolgsquote durch – darunter in solchen Situationen, in denen direkte Duelle aus der Perspektive des Fußballs als Mannschaftssport eigentlich kaum im Fokus stehen.
Zusammen mit seiner schieren körperlichen Wucht sorgt das dafür, dass er für seine Gegenspieler einfach „schwierig zu stoppen“ ist. Das klingt wie eine Phrase, die man gemeinhin nur über einen kleineren Kreis von Kickern rund um Lionel Messi, Kylian Mbappe, etc. sagen würde. In gewisser Weise gilt das für Sissoko tatsächlich – sofern er einmal in Fahrt gerät. Gleichzeitig bleibt jedoch immer das Risiko, dass er seinen eigenen Glanzmoment durch nur einen einzelnen extremen Ausschlag in der Entscheidungsfindung oder in einer vergleichsweise einfachen technischen Aktion selbst einreißt bzw. beendet.
Die Gefahr zu früher Torschüsse
Zudem neigt Sissoko zu überfrühten Torabschlüssen. Dieses Phänomen illustriert dasselbe Risiko auf einer mannschaftlichen Ebene: Wer früh schießt, schießt letztlich mehr und hat somit rein quantitativ gesehen eine höhere Chance zu treffen. Das gilt für den Individualisten wie für eine Mannschaft. Je früher man schießt, desto früher nimmt man sich allerdings die Chance, dass der Angriff hätte noch weiter entwickelt werden und womöglich eine bessere Abschlussposition hätte generieren können.
In Bezug auf den Individualisten gilt zudem: Wer früh schießt und häufig schießt, knüpft die mannschaftliche Erfolgswahrscheinlichkeit und quasi das mannschaftliche „Wohlergehen“ enger an die eigene Performance. Scheitert Sissoko bei seinem Hang zum frühzeitigen Abschluss, muss er damit nicht zwingend diejenige Gelegenheit verschwendet haben, die hauptsächlich seine starke Einzelaktion erst geschaffen hat. Es kann genauso gut das offensive „Kapital“ gewesen sein, das sich die Mannschaft zuvor kollektiv erarbeitet hatte.
Resümee
Überraschende und äußerst dynamische Auftaktbewegungen mit dem ersten Kontakt oder durch einen kurzen Zwischenkontakt fast bruchlos vor dem eigentlich erwartbaren zweiten Kontakt machen Sissoko unangenehm zu verteidigen. Daher ist er auch aus recht statischen Momenten ein potentiell guter Dribbler. Insgesamt hat Sissoko nicht nur eine ausgeprägte Athletik, sondern eine spezielle Athletik, die genau darauf zugeschnitten wirkt, um Raum zu überbrücken – ideal für einen Allrounder im Bereich der Acht bzw. situativ auf dem Flügel (eingerückter Außenspieler, teilweise Flügelläufer).
Wie sehr seine Einzelaktionen zum Tragen kommen, bestimmt letztlich vor allem die situative Dynamik aus der Umgebung heraus und kaum die umfassende und geplante Steuerung seiner Handlungsoptionen: Die Verhältnisse machen die Effektivität. Sissoko schafft es nicht nachhaltig, seine Qualitäten zielstrebig genug einzusetzen. Das betrifft das Spiel ohne Ball, wenn es darum geht, sich in günstige Ausgangspositionen zu bringen, ebenso wie die Entscheidungsfindung mit Ball.
2 Kommentare Alle anzeigen
Yilde 10. Dezember 2020 um 22:22
Geile Wahl, hab auch direkt an ihn gedacht, als ich das Tottenham Emblem gesehen habe. Total spannender Spielertyp und auch ein bisschen eine Wundertüte. Es gibt Spiele, da schwenkt das Pendel ein bisschen zu weit Richtung Unsauberkeit in den Aktionen und man wundert sich schon, was der auf dem Niveau macht und dann wieder Spiele, wo er so viele dynamische Situationen unkonventionell auflöst, dass gefühlt das ganze Spiel ansehnlicher wird. Coole Wahl und danke an euch für den Kalender
tobit 2. Dezember 2020 um 17:05
Interessante Wahl und interessanter Artikel. Diese kleinräumige Positionierung habe ich bei ihm bisher immer übersehen (fällt jetzt im Nachhinein umso mehr auf). Macht ihn als Spielertypen irgendwie noch seltsamer.