Wie sich der Fußball in der Ära der Geisterspiele verändert

Eine historische Bundesliga-Saison ist zu Ende. Das deutsche Fußballoberhaus sammelte als erste große Liga in Europa Erfahrungen mit den neuen Gegebenheiten. (Dies ist eine Übersetzung meines Artikels auf StatsBomb.com.)

Insgesamt neun Spieltage wurden unter ungewöhnlichen Vorkehrungen und damit verbunden vor leeren Rängen ausgetragen. Rasch wurde deutlich, dass es keinen klassischen Heimvorteil mehr gab, da nicht wie sonst Zehntausende die gastgebende Mannschaft anfeuerten. Die Bundesliga lieferte erste Beweise dafür, wenngleich dieser Fakt teilweise in den Medien überbewertet wurde. 37 der 82 Spiele nach der Unterbrechung wurden durch die Auswärtsmannschaft gewonnen, neunmal gewann der tabellarische Underdog. Zum Vergleich: In den 80 Partien vor der Pause gab es 27 Auswärtssiege, davon fünf durch Underdogs.

Zweifelsohne wirkten sich die leeren Ränge auf das Geschehen auf dem Spielfeld aus. Fußball befindet sich stärker in einer Art emotionalen Blase, wenn niemand außer dem Trainerstab und einige Bankspieler auf gute wie schlechte Aktionen reagieren. Gerade zu Beginn des Restarts sahen wir einige Bundesligaspieler, die Drucksituationen eher elegant (und risikoreich) als kompromisslos lösen wollten. Das führte dazu, dass Dribblings und kluge Bewegungen gegen Pressingattacken zum Einsatz kamen, wenn weniger talentierte Verteidiger in Normalzeiten typischerweise mit langen Bällen reagiert hätten.

Aber das sind anekdotische Randerscheinungen. Handfeste Evidenz zu Veränderungen des Fußballs in Zeiten der Geisterspiele liefern hingegen einige Statistiken von unseren Partnern bei StatsBomb. Für den Vergleich ziehen wir die jeweiligen neun Spieltage vor und nach der Corona-bedingten Pause heran.

Weniger Intensität

Dem Anschein nach verteidigten Teams weniger intensiv insbesondere in hoher Position gegen den Spielaufbau der Gegner. Angriffs- und hohes Mittelfeldpressing sind klassische Attribute der Bundesliga und ihres typischen Spielstils. Gerade Innenverteidiger mit begrenzten technischen Fähigkeiten sind dem häufiger zum Opfer gefallen, während wiederum die Trainer von kleinen Teams zuweilen aus Sicherheitsgründen komplett auf konstruktiven Spielaufbau verzichteten.

Die durchschnittliche Anzahl an Pressingaktionen in der gegnerischen Hälfte pro Team während einer Partie lag vor der Pause bei 77,37 und fiel anschließend auf 66,44. Diese Veränderungen bestätigten den gewonnenen Eindruck in den vergangenen Wochen, dass innerhalb der kompletten Liga weniger hohes Pressing gespielt wird. Interessanterweise veränderte sich das Liga-interne Ranking in dieser Kategorie nur unwesentlich. Es gab allerdings zwei Ausnahmen: Schalke verbuchte die meisten Presssingaktionen in der gegnerischen Hälfte, was verdeutlicht, dass die Mannschaft keineswegs während der anhaltenden sportlichen Krise einfach Partien abschenkte. Borussia Dortmund hingegen fiel vom zweiten Platz vor der Pause auf den letzten zurück, was nochmal weiteres Futter für Kritiker von Lucien Favre geben sollte, gerade weil der BVB bereits vor den Niederlagen gegen Mainz und Hoffenheim auf dem drittletzten Rang lag.

Die Anzahl an Gegenpressingaktionen auf dem gesamten Feld nahm ebenso ab. Sie sank von 35,29 auf 30,20 pro Team pro Partie. Borussia Mönchenglabdach wurde dabei zum Spitzenreiter in dieser Kategorie, während Dortmund und auch Wolfsburg deutlich weniger direkte Rückgewinnungsversuche nach Ballverlusten unternahmen als noch vor der Pause.

Es gibt einige Faktoren, die zu diesen Statistiken beitragen. Die wichtigste und offensichtlichste betrifft natürlich die Trainingsumstände während der Hochphase der Pandemie, in der die Teams gar nicht oder nur unter strengsten Auflagen trainieren konnten. Die Intensität in den Übungseinheiten war naturgemäß nicht so hoch wie sonst. Trainer wie etwa Herthas Bruno Labbadia bestätigten in Interviews, dass sie nicht mit der gewünschten Härte trainieren ließen und dieser Umstand hinderlich war, um die Mannschaften auf jenen Stand zu bringen, in dem sie die gewohnte Intensität zeigen oder vielleicht sogar die Wirksamkeit im Pressing steigern konnten.

Zudem war die generelle Fitness dadurch kurz nach dem Restart noch nicht auf dem gewohnten Niveau, wobei die Laufdaten andeuteten, dass sich dies bereits kurz danach änderte.

Keine (krassen) taktischen Veränderungen

Instinktiv würde man nun davon ausgehen, dass die Trainer taktische Anpassungen vornahmen, um auf die äußeren Umstände zu reagieren. Sie fanden sich damit ab, dass ihre Teams kein hohes Pressing während der gesamten 90 Minuten praktizieren konnten und verfolgten deshalb einen vorsichtigeren Ansatz mit einer tieferen Abwehrlinie und kompakteren Gesamtformation, welche weniger von der Quantität der Defensivaktionen abhängig war und stattdessen den Raum effektiver verteidigt.

Allerdings blieb die durchschnittliche Verteidigungsdistanz – also der durchschnittliche Abstand vom eigenen Tor, in welcher Defensivaktionen durchgeführt wurden – nahezu gleich. Sie stieg sogar leicht von 43,84 auf 44,87 Yards an. Es war nicht der Fall, dass plötzlich ein großer Teil der Liga viel tiefer stand und nur noch versuchte, den Gegner vom eigenen Tor fernzuhalten. Wir sahen keine Welle von taktischen Umbrüchen, da die meisten Trainer die Grundformationen und grundsätzlichen Strukturen ihrer Teams so beließen, wie sie vor der Pause waren.

Höherer xG

Weniger Pressing und keine nennenswerten taktischen Veränderungen führten jedoch zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für Torerfolge. Es gab dabei allerdings sogar weniger Dribblingversuche (17,27 nach und 18,25 vor der Pause pro Team pro Match) und weniger Pässe im Strafraum (2,43 zu 2,69), wobei in der zweiten Kategorie die Abstände zwischen den einzelnen Teams geringer wurde. Das deutet darauf hin, dass es für viele Teams einfacher war, in die Nähe des gegnerischen Tores zu gelangen, ohne jedoch außergewöhnliche Offensivfähigkeiten zum Einsatz bringen zu müssen. Stattdessen war der Widerstand der verteidigenden Mannschaft im Durchschnitt geringer, was Vorstöße erleichterte.

Der Expected-Goals-Wert aus dem Spiel heraus stieg von 1,06 auf 1,13 pro Mannschaft pro Partie. Die durchschnittliche Anzahl an Schüssen sank derweil von 13,12 auf 12,32, was eine Verringerung der Schüsse nach hohem Pressing (3,03 auf 2,45) und nach Konterattacken (1,29 auf 1,12) einschloss.

Insgesamt stieg also die offensive Produktivität trotz sinkender defensiver Intensität nicht. In den vergangenen Wochen gab es schlichtweg weniger direkte Interaktionen zwischen Spielern, insbesondere weniger Eins-gegen-Eins-Situationen, was es Mannschaften ermöglichte durch defensive Strukturen hindurchzuspielen, ohne die gewöhnliche Gegenwehr zu erfahren. Ob der geringe Widerstand der verteidigenden Mannschaften mit einer Abstinenz von Fans zu tun hatte, die ansonsten Spieler dazu getrieben hätten, physischer vorzugehen, mehr Druck auszuüben und Balleroberungen zu forcieren, bleibt diskutabel, denn ein eindeutiger Beweis existiert nicht.

Johannes 7. Juli 2020 um 11:14

Wenn ich das richtig verstanden habe, werden werden (Mittel-)Werte aus den 9 Spielen vor und aus denen nach der Pause verglichen. Ist es denn normalerweise so, dass diese Werte sonst konstant bleiben oder sich gegensätzlich zum zweiten Abschnitt entwickeln? Denn sonst wäre m.E. nicht klar, dass die Werte der zweiten neun Spiele eine besondere Abweichung darstellen, die auf die neuen Umstände zurückzuführen wäre.

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Koom 2. Juli 2020 um 14:52

Auch wenn die Belastbarkeit der Zahlen natürlich nicht soo gut ist, sind sie trotzdem interessant. Gerade der Aspekt, das quasi weniger „intensiv“ der Zugriff war bei der Defensive, ist interessant. Da wäre die Frage, warum das so ist?

Um eine Theorie abzuwerfen: Für viele Teams ging es recht schnell um nichts mehr. Bayern hat früh klargestellt, dass man Meister wird. Dortmund wiederum früh den CL-Platz gesichert. Unten lösten sich die Abstiegskandidaten auch relativ schnell auf, wodurch dann kaum eine Handvoll Mannschaften blieb, für die es noch um was ging. Selbst EL oder CL-Plätze schienen nicht so heiß zu sein, vielleicht auch weil im Hinterkopf spukt, dass man nicht weiss, ob das überhaupt weiter geht nächste Saison.

Und was auch ein Faktor sein dürfte, sind die englischen Wochen, die vermutlich auch sehr an den Kräften dann gezehrt haben.

Und zuguterletzt: Ein paar Trainer haben gewechselt. Martin Schmidt bei Augsburg ist ein großer Fan von tiefstehenden Abwehrreihen, Herrlich nicht so sehr. Ähnlich dürfte es auch mit Hertha (Klinsmann/Labbadia) gewesen sein. Da kommt der ein oder andere cm in der Statistik wohl her. 😉

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