Türchen 6: Lothar Matthäus

An Lothar Matthäus scheiden sich bekanntlich die Geister. Für die einen ist er ein Held der 1990er-Generation und in einer Reihe mit Fritz Walter und Franz Beckenbauer zu sehen. Für die anderen ist er ein Aufgeber und überschätzter Ballschlepper. Manche sehen in ihm vor allem den gescheiterten Trainer. Andere den volksnahen TV-Experten. In jedem Fall war und ist Matthäus wandelbar.

Diese Wandlungsfähigkeit spiegelte sich gerade in seiner aktiven Laufbahn wieder. Die Hochzeit von Matthäus war gewiss die WM 1990. Der gebürtige Franke war ein wichtiges Puzzlestück in der Nationalmannschaft von Franz Beckenbauer. Zu jener Zeit spielte Matthäus bereits bei seiner dritten großen Vereinsstation. Nach Borussia Mönchengladbach und Bayern München stand er nun bei Internazionale unter Vertrag und machte in der damals führenden Serie A von sich Reden.

Es passte schlichtweg alles zusammen. 1989 holten die Mailänder nach neun Jahren endlich wieder einen Scudetto gerade dank Matthäus. Neben ihm gab es in der Serie A nur noch Napolis Diego Maradona, der Matthäus überstrahlte – wenn dem überhaupt so war. Und zu allem Überfluss fand die Weltmeisterschaft auch noch in Italien statt. Dieser Höhepunkt – das Finale gegen Argentinien im Olimpico, der Pass von Matthäus auf Rudi Völler vorm Elfer, der deutsche Sommer mit nahender Wiedervereinigung – sollte für den „Loddar“ noch ein wenig anhalten.

Er gewann 1991 den UEFA-Cup, wurde zum ersten offiziellen Weltfußballer gekrönt und hatte sich mittlerweile als einer der besten Zehner seiner Generation etabliert. Doch das Unschöne an Höhepunkten ist, dass nach ihnen gerne der Abschwung kommt. So auch für Matthäus, der sich eigentlich schon mit Juventus über einen Wechsel einig war, bis er sich das Kreuzband in einem Ligaspiel riss, die anstehende EM absagen und viel Zeit bei der Reha verbringen musste. Das Verletzungspech sollte ihm auch später treu bleiben und mehrfach aus der Bahn werfen.

Als 1992 der erste große Knick kam, ging Matthäus zurück an alte Wirkungsstätte – nämlich zum FC Bayern. Sein Status als Spieler war mittlerweile ein anderer als vor seinem Wechsel nach Mailand 1988. Matthäus war ein gestandener Weltstar, während sich die nächste Garde an technisch versierten Spielern aufdrängte. In der Nationalmannschaft hatte Bundestrainer Berti Vogts das Luxusproblem, dass er auf Matthäus setzen musste, aber zugleich den jungen Andreas Möller ins Team integrieren wollte. Bei den Bayern ergab sich mit Mehmet Scholl wenig später eine ähnliche Situation. Also wurde Matthäus umfunktioniert.

Zum Libero

Die Idee der Umfunktionierung geht wohl auf Vogts zurück, der zumindest als Erster Matthäus als Libero aufbot. Die Bayern zogen anschließend nach. Matthäus war über viele Jahre hinweg ein offensiver Mittelfeldspieler – einer, der direkt hinter den Spitzen, aber noch viel häufiger etwas hängend aus dem Zentrum spielte und von dort die Angriffe seiner Mannschaft ankurbelte.

Matthäus war nie der eleganteste Zehner, sondern vielmehr ein ackernder Kreativspieler. Seine Pässe schienen zumeist mit Leichtigkeit anzukommen. Sein Laufstil zeigte ihn eher ein wenig gedrungen und angespannt, nicht etwa elegant und allzu schwebend, wie das bei manch anderem Pass- und Taktgeber der Fall war.

Auf seiner neuen Position agierte er oftmals wie ein klassischer Libero der 1990er. Defensiv stand er klar zwischen den Zentralverteidigern und konnte unterstützend Flanken sowie Pässe aus dem Halbfeld abwehren. Bei eigenem Ballbesitz genoss Matthäus hingegen alle Freiheiten. Häufig unternahm er die typischen Läufe für Liberos oder generell Spieler mit Freirollen in jener Zeit: Nach einem kurzen Pass nach vorn oder zum Nebenmann sprintete er in die Spitze, wobei sich die Gegenspieler entscheiden mussten, ihn entweder zu verfolgen oder seinen Lauf weitestgehend zu missachten.

Grundformation im Hinspiel des UEFA-Cup-Endspiels zwischen Bayern und Girondins de Bordeaux.

Größeren Einfluss auf das Offensivspiel der Bayern hatte Matthäus hingegen im klassischen Spielaufbau. Meist orientierte er sich entweder nach halblinks und halbrechts, während seine Nebenmänner entsprechend ihre Position in der ersten Linie anpassten. Gerade mit einem Dreiermittelfeld, das sich zumeist auch recht flexibel verhielt, ergab sich ein gutes Zusammenspiel mit Abkippbewegungen und Ablagepässen.

Matthäus-typisch waren jedoch auch die langen Bälle in die vorderen Zonen der Außenbahn. Er spielte diese Bälle zumeist mit einem gewissen Vollspann-Anteil und damit sehr vertikal – und eben nicht seitlich mit Unterschnitt. Die Bayern hatten Mitte der 1990er ihr Angriffsspiel sowieso darauf ausgelegt, dass die laufstarken Flügelläufer – oder situativ auch ein Offensivakteur wie Scholl – mit viel Dynamik in die hohen Flügelzonen vordrangen und kurz vor der Abseitslinie angespielt wurden, um entsprechend mit Dynamik am gegnerischen Außenverteidiger vorbeizuziehen und zur Grundlinie durchzubrechen.

Die Wahrnehmung

Als Matthäus zum Libero umfunktioniert wurde, veränderte er sich auch als Spieler. Er wirkte nicht mehr so athletisch wie noch in seinen jungen Jahren, was wohl auch mit den erlittenen Kreuzband- und Achillessehnenrissen zu tun hatte. Matthäus unternahm natürlich immer noch Dribblings und suchte die Pässe durch die gegnerische Linie, während er vielleicht um 1990 noch eher das Zuspiel durch die letzte Schnittstelle probierte, weil er wenigstens eine Reihe weiter vorn spielte.

Gleichzeitig betätigte er sich auch als Defensivorganisator seiner Mannschaft. Er fiel durch Kommandos und Anweisungen an seine Mitspieler hinsichtlich der Deckungsarbeit auf. Selbst hatte er auch ein starkes Timing für Tacklings und Balleroberungen und sich somit zumindest am Boden zu einem veritablen Verteidiger entwickelt.

Was auffällt, wenn Matthäus analytisch über heutige Teams spricht, dass er zumeist recht simple Lösungsansätze propagiert – was für den Zuhörer verständlich ist und in einer etwaigen Umsetzung auch praktikabel wäre. Matthäus denkt zumeist in nummerischen Konstellationen und bewertet die defensive Zuordnung. So verhielt er sich auch schon als Abwehrchef, wo ihm diese Art der Auffassungsgabe gewiss weiterhalf.

Dass Matthäus und seine Rolle als Libero gerne mal mit einer dunklen Zeit des deutschen Fußballs in Verbindung gebracht wird, hat viel mit der EM 2000 zu tun, als er mittlerweile in der Major League Soccer spielte, aber von Erich Ribbeck ein letztes Mal berufen wurde. Matthäus wurde 1999 zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt und hatte einen wichtigen Anteil an der starken Champions-League-Saison der Bayern. In der Öffentlichkeit kritisierten viele jedoch seinen Wechsel in die USA im Frühjahr 2000 und sahen darin ein Indiz für einen rapiden Leistungsabbau bis zur Europameisterschaft.

Gleichzeitig stand die „altmodische“ Position des Liberos ganz generell in der Kritik, weil sie als Beleg für die Rückständigkeit des deutschen Fußballs herhalten musste. Der „alte“ Matthäus war da nur die geeignete Personifizierung für diesen Verriss, wird aber seiner generellen Leistung als Libero überhaupt nicht gerecht.

physeter 26. Dezember 2019 um 15:24

Noch keine Kommentare? Wahrscheinlich eine zu offensichtliche Wahl. Ich dachte allerdings bislang nicht, dass es Zweifel an Matthäus‘ fußballerischen Fähigkeiten gibt. Auch wenn er nicht der klassische Spielmacher war, sprechen doch mindestens seine zwei aufeinander folgenden Weltfußballerauszeichnungen für ihn – in Zeiten von Maradona und Baggio!
Heute wäre er vermutlich ein 8er, um auch seine defensiven Qualitäten zu nutzen.
Matthäus war vielleicht der beste Box-to-Box-Player, den es je gab.

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tobit 29. Dezember 2019 um 13:39

Ich kann zum Spieler Matthäus nichts sagen. Dafür bin ich zu jung.
Ich kenne nur den „Experten“ und Reality-Star Loddar. Und zu dem will ich mich nichts sagen.

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Koom 29. Dezember 2019 um 18:24

Dann ist dir durchaus was entgangen. Matthäus war schon ein absoluter Sahnespieler, definitv in der Top Ten der besten Fußballer aller Zeiten.

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CE 30. Dezember 2019 um 09:34

Ich finde einige seiner Anmerkungen als Experte schon sehr interessant – natürlich nicht auf dem Niveau von Beckenbauer, als dieser noch ein starker Experte war. Man darf sich von der Rhetorik nicht blenden lassen.

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Koom 1. Januar 2020 um 14:20

Beckenbauer fand ich als Experte nicht schlecht. Sicherlich war er das auch zu etwas „simpleren“ Zeiten, aber seine kurzen, relativ einfach gestrickten Sätze kamen sehr auf den Punkt. Er drückte sich in Fußballersprache sehr präzise und klar aus. Man versteht schon, warum der Mann auf so vielen Ebenen Erfolg hatte.

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