Zwischen Gala und Taumel

1:1

Frankfurt liefert wieder viele Kostproben des eigenen Stils. Besondere Dynamiken durch breite Halbverteidiger, Chelseas spätere, aber wirkungsvolle Anpassungen gegen Mannorientierungen und eine 3-4-1-2-Umstellung kurz vor dem Platzen des Kessels markieren die Stationen einer oft rasanten Fahrt. Die Analyse in vier Schlüsselaspekten.

Frankfurts Intensität

Auch im Halbfinale setzte Eintracht Frankfurt die Reihe eindrucksvoller Europa-League-Auftritte geballter Intensität und Dynamik fort. Der gewohnt kraftvolle Stil der Mannschaft von Adi Hütter wurde durch eine veränderte Grundanordnung nicht gemindert, sondern punktuell noch aufgeschaukelt, mit der die Hessen auf personelle Engpässe reagierten. Im Vergleich zur sonst oft üblichen Ausrichtung spielte Hasebe nicht aus der Zentralverteidigerposition heraus seine flexible Rolle, agierte vielmehr davor als Teil des Mittelfelds, da vorne mit Jovic vorne nur eine echte Spitze aufgeboten war.

Trotzdem konnte sich Hasebe gelegentlich wiederum in die Abwehr zurückfallen lassen, hauptsächlich bei Ballbesitz. Bei 3-1-Strukturen bedeutet das eigentlich ein unübliches Verfahren, da der Raum unmittelbar hinter dem Sechser bereits besetzt ist und solche Bewegungen daher notwendig asymmetrisch vonstatten gehen müssen. Die Eintracht ließ die nominellen Halbverteidiger verhältnismäßig breiter und höher spielen, Hasebe füllte dann pendelnd Bereiche um Hinteregger herum. Die aufgefächerte, aufgerückte Position der Halbverteidiger ergänzte die im Aufbau hohe Einbindung der Flügelläufer, die Chelseas Viererkette beschäftigen sollten.

Dadurch hatte Frankfurt insgesamt eine unorthodox hergestellte doppelte Flügelbesetzung. Von diesem großen Reservoir an Personal in der Breite aus konnten sie über das Nachrückverhalten in einigen Phasen sogar stark dominieren. Im Ballbesitzspiel und nicht nur im Gegenpressing speziell, sondern auch bei zweiten Bällen allgemein wurde Chelsea so zurückgedrängt. Die hinteren Bewegungsmuster im Frankfurter Aufbau veränderten erst einmal die klaren Orientierungspunkte für die drei gegnerischen Stürmer im Anlaufen.

Prinzipiell können daraus nutzbringende wie problematische Folgeeffekte resultieren, in diesem Fall reagierten Chelseas Flügelstürmer mit früheren Rückzugstendenzen in die tiefen 4-3-3- oder 4-5-1-Anordnungen. Hasebe hatte aus den so vergrößerten Diagonalbereichen zwischen Außen- und Mittelstürmer einige Möglichkeiten zum Ankurbeln. Insgesamt wich Chelsea etwas zurück und auf dieser Basis kam das starke Nachrückverhalten der Eintracht zum Tragen: Besonders über die Rollen der breiten Halbverteidiger konnte es gerade in der zweiten Welle jeweils viel Potential in Situationen nachlegen und immer mal plötzliche, unerwartete Wendungen der Dynamik durch eine in der Form ungewohnte, unorthodoxe Ergänzungsbewegung nach sich ziehen.

Nachschieben zum Flügel

Vertikale, herausrückende Momente auf den Außenbahnen prägten das Spiel der Eintracht. Die Flügelläufer etwa wurden auch im Pressing hoch eingebunden. Grundsätzlich bewegten sie sich auf Mittelfeldhöhe, staffelten sich oft jedoch noch etwas weiter vorne als die Zentrumsspieler und bildeten fast schon mit Jovic eine Dreierreihe gegen die Viererkette Chelseas. Diese begann zunächst mit vorsichtigem, flachem Aufrückverhalten. Gelegentlich wechselte Frankfurt klassisch zum Modell einer pendelnden Viererkette: Der ballnahe Flügel rückte sehr weiträumig ins Pressing auf Azpilicueta oder Emerson heraus, dahinter verblieben der Abwehr noch jeweils vier Mann gegen drei Stürmer.

Prinzipiell funktionierte Frankfurts Spiel aufgrund ihrer grundsätzlichen Mannorientierungen unter anderem nach genau solchen Zuteilungen mit numerischen Prägungen. Den nominell freien Spieler gab es im Mittelfeld, wo Gacinovic als Zehner und dahinter die beiden Achter sich lose am zentralen Trio der Londoner orientierten: So blieb Hasebe als Absicherung gewissermaßen übrig. Gegen diese Konstellation kam Chelsea in der Mitte zunächst einmal nicht so gut zum Zuge: Das Bewegungsspiel dort gestaltete sich recht vorsichtig, Einbindungen wurden daher vor allem über einzelne zusätzliche Rückstöße gesucht. In Verbindung mit der anfangs ebenfalls noch tieferen Abwehrkette bedeutete das eher geringe Offensivpräsenz.

In den ersten Phasen der Partie hatte es Chelsea stärker über Direktpässe auf Giroud versucht, der sich kurz zurückfallen ließ. Die Zuspiele dafür ergaben sich vor allem in Situationen, in denen Frankfurt die Flügelläufer doch tiefer hielt. Breite Positionierungen von Chelseas Außenstürmern banden diese in jenen Momenten außen, so dass sich fast horizontale Zwischenlücken im Anschluss nach innen ergeben konnten. Dorthin wären Läufe entweder des ballnahen Außenverteidigers oder des Achters möglich gewesen, wurden auch einige Male umgesetzt, aber die eine Ergänzungsoption blieb letztlich oft etwas zu wenig.

Neben der Absicherung im Mittelfeld konnte Hasebe potentiell in späteren Phasen der Rückzugsbewegung die Abwehr auffüllen, sofern sich dort akut wirklich größere Lücken ergaben. Numerisch gesehen hatte Frankfurt dort eigentlich nur eine Gleichzahl: Tatsächlich rückten die drei Verteidiger zumindest sehr weiträumig und aggressiv selbst gegen die wendigen Willian und Pedro heraus. Daher war es für Chelsea nicht ganz unpassend, dass sie über weite Strecken der ersten Hälfte so stark über attackierende Diagonaleröffnungen aus dem Abwehrzentrum heraus eröffneten, um die trickreichen Außenspieler in Dribblings gegen ihre direkten Gegenspieler zu bringen – um bzw. oft neben der letzten Reihe der Eintracht.

Daraus entstanden einige Ansätze für die Gäste, zunächst fing die enorme Dynamik in der Frankfurter Rückzugsbewegung einen großen Anteil davon auf. Später fand Chelsea häufiger die Momente, um nach solchen Einleitungen gezielt in eine höhere Ballzirkulation überzugehen. Insgesamt verteidigte Frankfurt Flügelangriffe gut: Vor allem die Art und Weise, wie der jeweils ballnahe Sechser seine Mannorientierung einstellte und – oft flüssig aus der laufenden Dynamik heraus – über den Halbraum zum Doppeln nach außen durch schob, geschah vom Timing und vom Raumgefühl herausragend. Die gute Umsetzung solcher Momente, wann bei einem Zonenwechsel nicht unbedingt der direkt dort positionierte, sondern auch der zuvor ballnahe Spieler attackiert bzw. das Attackieren fortsetzt, ermöglichte die stärksten Glanzszenen wichtiger Überzahlbildung.

Sarris Anpassungen: Willian als Ausgangspunkt

Der furiose Auftritt der Frankfurter erstreckte sich nicht über das gesamte Spiel, verbuchte als seine Paradephase etwa die erste halbe Stunde. Was zunächst als erste etwas längere Beruhigungspause für Chelsea mit mehr Ballbesitz begann, setzte sich in der zweiten Halbzeit zu einer wirklichen Phase fort, einer für die Eintracht kritischen Phase. Verschiedene Faktoren trugen zu diesen Entwicklungen bei, an wichtiger und einleitender Stelle darunter die Anpassungen seitens Maurizio Sarri: Diese nahmen ihren Ausgangspunkt von der Einbindung Willians und weiter vom linken Halbraum, erfassten insgesamt die Bereiche darum herum.

Der Linksaußen rückte häufiger und weiter ein, in Verbindung mit weiteren Bewegungsmustern sollten dadurch die prinzipiellen Mannorientierungen gezielter bespielt werden. Beispielsweise wich Loftus-Cheek während des Aufbaus nun häufiger seitlich aus, um dadurch Gelson Fernandes aus der Grundstaffelung heraus zu ziehen und der Zirkulation Passwege durch den Halbraum zu öffnen, in den sich Willian begeben konnte. Alternativ holte sich dieser auch einige Bälle tiefer im halblinken Bereich vor der gegnerischen Mittelfeldreihe ab. Das bot erst einmal weitere Ballsicherheit und Möglichkeiten zum Andribbeln.

Wenn schließlich von Frankfurter Seite dagegen ein Achter weiter herauszuschieben versuchte, konnte Chelsea darauf setzen, dass der eigene Halbspieler – normalerweise also Loftus-Cheek – frei würde. Dann blieb noch die Frage, wie gut sich dies über einen engen Außenverteidiger als Umleitungsstation gegen Nachschieben und Deckungsschattennutzung bei der Eintracht einsetzen ließe, aber es generierte in jedem Fall nochmals weitere Präsenz. Auf dem anderen Flügel lief sich Kanté bei Ballbesitz Azpilicuetas häufiger – in Halbzeit zwei bei etwaigen Folgeaktionen sehr wendig und technisch fein – horizontal nach außen hinter Kostic frei, worauf Frankfurt ebenfalls reagieren musste, mit breitem Durchsichern durch Hasebe hinter Rode dafür aber auch eine gute Alternative hatte.

Als die Eintracht sich strategisch etwas zurücknahm, ergaben sich für Chelsea aber doch die Voraussetzungen, mit angepassten Bewegungsmustern den Mannorientierungen den Zugriff zu entziehen. Auch wenn die Gastgeber situativ gut reagierten, mussten sie dadurch hohen Aufwand betreiben und mit vielen Läufen dagegen halten, während Chelsea „nur“ jeweils Ballsicherung umzusetzen benötigte. Verschiedene Rochaden im Dreieck zwischen den zwei Flügelspielern einer Seite und dem jeweiligen Achter in Kombination oder im Wechsel mit Dribblings (Willian sehr sauber, Loftus-Cheek sehr kraftvoll) hatten gegen die Mannorientierungen das Potential, kurz raumöffnend zu wirken, als Auftaktaktion zu fungieren und kleine Ballstafetten zwischen den beteiligten Akteuren zu ermöglichen.

Durchhänger, Durchhalten, Schlussspurt

Insofern wurden nun in dieser Phase das mannorientierte Verfolgen der Verteidiger und – je länger Chelsea, unter anderem davon ausgehend, zirkulieren konnte – auch der anderen Positionen zu einer Last für die Frankfurter. Sie wurden stärker in individuelles Verteidigen verwickelt, mussten sehr viel hinterher laufen und in beiden Fällen einiges an Ressourcen lassen. Die Kraftfrage mag also mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit ihre Rolle bei den Verschiebungen der Verhältnisse gespielt haben, dürfte aber vor diesem Hintergrund weniger als gleichförmiger, einfacher Dauerfaktor denn in spezifischer Form zu veranschlagen sein – nicht generell-strukturell, stattdessen zunächst temporal und punktuell, später taktisch geformt.

Nach dem kleinen Wahnsinn der ersten halben Stunde wurde die „Power“ zunächst für eine kurze Phase weniger, diesen natürlichen Rückgang nutzte Chelsea strategisch effektiv. Später vervielfachte die veränderte taktische Gemengelage den physischen Verschleiß bei der Eintracht, der erst in dieser spezifischen Umgebung so stark zutage trat und sich daher trotz der numerisch eigentlich noch höheren Pflichtspieleanzahl der Gäste entsprechend bemerkbar machen konnte. Auch Entlastung fiel den eigentlich umschaltstarken Frankfurtern in dieser Phase schwer: Bei mannorientiertem Verfolgen mussten nicht nur lange Defensivwege zurückgelegt werden, die Kraft raubten, sondern konnten schnell auch Ausgangslagen mit vergleichsweise langen Vorwärtswegen entstehen.

In diesem Zusammenhang war es für die Eintracht gegen den zunehmenden Druck Chelseas unglücklich, dass aus dem starken Angriffstrio nur ein Stürmer zur Verfügung stand, um als Anspielstation nach Ballgewinnen zu dienen. Dies wiederum bedeutete eine wichtige Facette der Einwechslung Paciencias, mit der Hütter genau die betroffenen Zonen stärkte. In der letzten Phase der Partie konnte sich die Eintracht schließlich noch einmal neue Präsenz erarbeiten, auch häufiger Bälle festmachen. Für die starken letzten zehn Minuten wurden verfügbare Restreserven mobilisiert, unter dem Einfluss diverser Faktoren, wahrscheinlich von Atmosphäre, über Coaching bis hin zur Wechselwirkung von Gruppendynamik und Wahrnehmung der Eigendynamik des Spiels.

Ebenso können spezifische taktische Faktoren eine solche „zweite Luft“ (mit)aktivieren, indem sie neue Orientierungspunkte schaffen. Auf der formativen Ebene bedeutete die Einwechslung Paciencias die Umstellung auf 3-4-1-2 und andere Zuordnungen im Pressing: Frankfurt konnte so auch in der ersten Linie hoch in Gleichzahl zustellen, statt eines freien Spielers auf der Sechserposition. Mit dieser Struktur als Vorlage konnte ein Signal gesetzt werden, tatsächlich noch einmal geschlossen herauszurücken und wieder über gewisse Phasen ganz vorne „drauf“ zu gehen.

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