Türchen 13: Norbert Eder
Bei Bayerns furiosem 4:1 gegen Real Madrid im Landesmeister-Pokal 1987 lieferte Norbert Eder eine herausragende Partie als Aufbauspieler.
Etwas ungewöhnlich sieht sie aus, die Nationalmannschaftskarriere des Norbert Eder. Neun Einsätze mit dem Adler auf der Brust stehen für ihn zu Buche, allesamt in ein und demselben Kalenderjahr. Bei der WM 1986, als die Auswahl von Teamchef Franz Beckenbauer das Finale erreichte, war er Stammspieler und bestritt alle Partien von Beginn an, darüber hinaus lief er aber nur zwei weitere Male für den DFB auf. Das Endspiel bei jenem Turnier in Mexiko blieb sein letzter Auftritt im Nationaltrikot.
Gegen Argentinien wurde er da im defensiven Mittelfeld aufgeboten, in einigen anderen Partien als Verteidiger. Zu jener Zeit stand Eder bei den Münchener Bayern unter Vertrag, in der Bundesliga war er hauptsächlich als Abwehrspieler bekannt. Hatte er bei seinen WM-Einsätzen meistens in einer eher zurückhaltenden, ergänzenden bis dezent-raumfüllenden Einbindung agiert, ergab sich in der Saison nach diesem Turnier auf Vereinsebene die Situation, dass Eder aus der Abwehrposition heraus eine Rolle mit mehr Präsenz einnehmen konnte. In dieser Ausrichtung machte er eines der wohl besten Spiele seiner Karriere, im Halbfinale des Landesmeister-Wettbewerbs 1986/87 vor heimischer Kulisse gegen Real Madrid.
Spiel gegen die Mannorientierungen
Die Madrilenen liefen an diesem Abend in München mit einer grundsätzlichen 4-3-3-Ausrichtung auf. Da auch Bayern nominell in einem 4-3-3 agierte, hatte Trainer Leo Beenhakker die Umsetzung sehr mannorientiert bis fast manndeckend eingestellt, insbesondere im Mittelfeld: Bei den Münchenern bildete Lothar Matthäus tendenziell den zentralen Punkt, auf den Halbpositionen spielten Andreas Brehme und Hans Dorfner, der in der Anfangsphase häufiger noch mit Linksaußen Michael Rummenigge rochierte.
So agierte er im Vergleich mit seinen beiden Partnern etwas offensiver, streifte emsig durch die Räume und forderte auch in unterschiedlichen Umgebungen Bälle. Dass es seinem positionellen Gespür an Klarheit mangelte, fiel in dieser Konstellation nicht so ins Gewicht: Wenn er vom Flügel zurück ins Zentrum rückte und sein Gegenspieler nicht durchgehend hatte folgen wollen bzw. zwischenzeitlich durch andere Gegebenheiten gebunden worden war, wurde Dorfner gelegentlich mal frei.
Zudem schien sich Udo Lattek auf der Bayern-Bank noch einen speziellen Ablauf überlegt zu haben, um die gegnerischen Deckungen gezielt aufzureißen. Von der Rechtsverteidigerposition rückte Nachtweih einige Male früher auf, diese wurde dann durch einen Mittelfeldspieler besetzt – der Funktion nach quasi wie ein Herauskippen. Kleine Unterstützungsbewegungen aus dem Defensivzentrum oder zurückkehrende kurze Rückstöße von Nachtweih selbst sollten dann ermöglichen, dass der ballführende Akteur gegen einen etwaigen Gegenspieler rechts weiter aufrücken konnte, wo(für) Wohlfarth mit hohem Einrücken den Raum öffnete.
Raumöffnung und Raumnutzung: Die Ausgangslage
In manchen Momenten versuchten die Madrilenen mehr Präsenz in die vorderste Reihe zu bringen, wofür sich Butragueno von der Linksaußenposition neben den Mittelstürmer einreihte. Gerade bei den tieferen seitlichen Positionen eines bayerischen Mittelfeldakteurs kam dies vor. Bei Real wiederum musste in diesen Fällen jemand aus dem Mittelfeld den Flügel übernehmen, dort wurden sie jedoch zügig mit zwei Spielern nach hinten gedrängt, da Bayern in solchen Szenen die ansonsten oft eher nachträglich nachstoßenden Außenverteidiger noch weiter vorrücken lassen konnte.
Während die Mannorientierung auf den anderen Münchener Mittelfeldspieler beibehalten wurde, hatten die Gäste – je nach genauer Situation in der ersten Aufbaulinie – entweder noch einen Spieler weiter vorne, der dort über dem Halbraum gegen den ballführenden Münchener Druck machen sollte, oder weiter hinten, wo dieser sich hinter den verschiedenen Mannorientierungen tief als Absicherung ins Mittelfeld zurückzog. Beide Szenarien bedeuteten bei von halbrechts ausgehenden Aktionen, dass eine saubere Ausführung der ersten Aktionen beispielsweise Dorfner – als in jenem Fall potentiell freiem Mann – im ballfernen Halbraum würde bedienen können.
Speziell nach eigenen Abstößen oder auch anderen Ausbällen nach schnellen gegnerischen Angriffszügen waren die Münchener sehr fokussiert um eine möglichst direkte Spielfortsetzung bemüht. Sie schienen derartige Konstellationen fokussieren zu wollen, dass Real noch nicht in die 4-3-3-Ordnung zurückgekehrt war und die eigenen Anordnungen anpassen musste. Vor allem gab es in diesen Szenen mit einem konsequenten, raumgreifenden Dribbling – in einen noch nicht wieder besetzten Raum – vergleichsweise einfach die Möglichkeit, eine Linie überspielen und sofort Druck auf die anderen mannorientierten Akteure ausüben zu können.
Vorstöße aus dem Abwehrzentrum
Entscheidend, um diese verschiedenen Elemente überhaupt einzusetzen, war schließlich Eder im Verbund mit Kapitän Klaus Augenthaler aus dem Defensivzentrum. Sie zeichneten für den Aufbau verantwortlich und hatten primär zwei größere Möglichkeiten, jenes Potential des Münchener Spiels gegen die Mannorientierungen in Gang zu bringen und damit zu „aktivieren“: Zum einen ging es darum, in und um die erste Aufbaulinie gute Konstellationen zu schaffen, um eine der zahlreichen flexiblen Bewegungen des eigenen Mittelfelds in den Raum frei zu bringen. Zum anderen war es möglich, selbst durch vorstoßende Aktionen jene Bereiche zu bespielen, die die Vorderleute mit ihren verschiedenen Rochaden frei machten.
Abwechselnd sorgten sie für Vorrückbewegungen in eine höhere Linie. Mehrmals geschah das schon zu Beginn der Aufbaumomente, also quasi bereits als initiale Veränderung der Ausgangsstruktur. In diesen Fällen bildete sich dann – sofern gerade Matthäus oder Brehme nicht zurückfielen – eine engere Dreierkette mit einem verbleibenden „Libero“ und den noch tieferen Außenverteidigern. Gewissermaßen rautenförmig davor bewegte sich der aufgerückte zentrale Verteidiger als zusätzlicher Mann im defensiven Mittelfeldbereich. Alternativ fanden die Vorstöße im Zuge der Zirkulation aus der Bewegung heraus statt.
Das waren nicht nur schon mit Ball begonnene Läufe beispielsweise nach Verlagerungen, sondern auch solche ohne Ball in Räume hinein. Wiederum trat die Wechselwirkung mit tieferen, engeren Positionierungen der Außenverteidiger hervor: Als Reaktion darauf boten sich vertikale Vorwärtsbewegungen zentral an. Eder fand in diesem Spiel gute Zeitpunkte für insgesamt recht viele weitläufige Momente in seinem Freilaufverhalten. Bei der Umsetzung halfen ihm seine generell sehr agilen Auftaktbewegungen.
Verbindungen füllen mit Raumgefühl: Eder als Aufbauspieler
Besonders stark waren sein Raumgefühl und sein sauberes Timing. Beides kam auch bei einigen guten Diagonalpässen in Freiräume nach vorigem Andribbeln zur Geltung. Hier verhielt sich Eder mehrmals clever, in der Dynamik beispielsweise doch noch mal kurz zu warten oder diese situativ für einen überraschenden Abspielzeitpunkt zu nutzen. Noch wichtiger waren die zwei Aspekte aber für die Vorstöße in den freien Raum. Wenn einer der zentralen Münchener Defensivakteure so hinter die erste Reihe brach, musste Real diese Dynamikaufnahme mit eigenem Personal auffangen und dafür einen Mittelfeldakteur von seinem Gegenspieler dorthin herausrücken lassen.
Aus diesen verschiedenen Faktoren ergab sich insgesamt eine starke erste Halbzeit der Bayern, mit vielen sehenswerten Spielzügen. Nach einer Viertelstunde waren sie durch den ins Angriffsdrittel aufgerückten Augenthaler in Führung gegangen, nach einer halben Stunde hatte Matthäus per – nach einem schnellen Durchbruch gegen die Mannorientierungen entstandenen, jedoch umstrittenen – Elfmeter erhöht. In der 37. Minute dann, beim dritten Treffer für die Münchener, kam endgültig der große Moment des Norbert Eder auch in der unmittelbaren, konkreten Vorbereitung:
Insgesamt hatte Eder in diesem Konstrukt eine für ihn sehr passende Rolle als potentiell aufrückender Defensivmann in einer auch etwas weiträumigeren Umgebung. Dazu zeigte er noch eine besonders gelungene Umsetzung dieser Spielweise in jenem Halbfinale gegen Real. Man merkte ihm an, dass er darin aufblühen konnte, aber ebenso, dass diese Einbindung und Spielweise nicht ganz neu und ungewohnt waren. Vor allem die zwischen den strukturellen Einzelelementen – wie Nachtweihs vorbereitenden Aktionen – verbindende, ausgeglichene Charakteristik in der Wahl seiner Vorstöße wirkte sehr wohltuend, während Augenthaler in den Kombinationsaktionen noch aggressiver und antreibender agierte. Eder diente als Raumfüller dort, wo mannschaftlich eine solche „Ergänzung“ nötig war (siehe nicht zuletzt oben die Szene aus der 24. Minute).
Auch aufmerksam in der (Tiefen-)Absicherung
Auch den Defensivaufgaben als Innenverteidiger begegnete er ganz gut. Tatsächlich agierten die Münchener gegen den Ball fast wirklich in einer Viererkette bzw. Viererreihe, mit Eder und Augenthaler nebeneinander. Das Gebilde der vier hinteren Spieler war – ausgenommen die auch auf den Außenverteidigerpositionen zu findenden Mannorientierungen – sehr straff organisiert und in der Folge oft eng gestaffelt, verhielt sich auch zumeist als Gruppe, wenngleich nur nicht ganz nach kettenartigen Mechanismen. Damit gestalteten sich die Voraussetzungen anders als in den meisten, normalerweise sowohl für Verteidiger als auch für Sechser von Präsenz geprägten Defensivkonstrukten der 80er-Jahre.
Zwar war Eders Timing im Herausrückverhalten nicht auf höchstem Level, so dass er in einigen Situationen zu einfach reagierend verfolgte und überspielt wurde, ohne dass dies aber letztlich so weit geführt hätte, eine herausragende Einzelspielerleistung zu schmälern. Dazu gehören auch mal schwächere Phasen oder Gewichtungen: So tendierte Eder im Laufe der Partie und vor allem dann zu Anfang der zweiten Halbzeit aus seinen aufrückenden, raumnutzenden Bewegungen heraus zunehmend häufiger zu überambitionierten oder situativ unpassenden langen Diagonalbällen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Bayern nach einem Platzverweis bereits in Überzahl, was möglicherweise die Neigung zu verlagernden Bällen verstärkte.
Passte auch das Herausrückverhalten nicht optimal, machte Eder dafür in der defensiven Positionsfindung – insbesondere für die (Tiefen-)Absicherung in der Rest- bzw. Konterverteidigung – ein sehr starkes Spiel. Wiederum bewegte er sich recht sauber, vor allem risikobewusst in der grundsätzlichen Einschätzung des Spielgeschehens und kam von dieser konzentrierten Haltung aus zu einer hier oft umsichtigen Raumbesetzung. Das war auch eminent wichtig in einer Konstellation, in der beide Außenverteidiger in späten Angriffsphasen weit aufrückten, in der die Mittelfeldakteure trotz vieler Zurückfallbewegungen weiträumig wie umtriebig agierten und in der auch der jeweils andere Abwehrmann oft mit nach vorne ging.
Über weite Strecken der Partie bildete Eder ein ganz einfaches Musterbeispiel, wie grundlegend wichtig sorgsame, mannschaftsdienliche Aufmerksamkeit für das Spiel ist. Jenes defensive Abwägen im Raum rundete zudem eine starke Leistung ab, in der Eder sich nachhaltig – und ungewohnt (?) spektakulär – als agiler Aufbauspieler hervortat.
1 Kommentar Alle anzeigen
HK 13. Dezember 2018 um 09:53
Klasse, Norbert Eder.
Einer der ungewöhnlichsten und besten Bayerntransfers ever. Gerade auch mit Hinblick auf das Preis-Leistungsverhältnis.
Er kam im schon vorgerückten Alter (war glaub ich 28) für 75.000 € vom Absteiger Nürnberg, die kein Interesse mehr an ihm hatten. Ein Jahr später war er Stammspieler bei der WM und Vizeweltmeister.
Der Legende nach kam Hoeneß auf diesen Transfer indem er seine Stürmer befragte wer denn so ihre unangenehmsten Gegenspieler waren. Er war dann verblüfft sehr oft den Namen Eder zu hören und begann sich für ihn zu interessieren.
Vielleicht sollte der Hoeneß des Jahres 2018 auch mal wieder eine kleine Umfrage in der Mannschaft starten.