Türchen 3: Thiago Silva
Viele herausragende Einzelspielerleistungen in Thiago Silvas Karriere waren begleitet von einer Dichte spektakulärer Defensivaktionen. Gegen Mexiko bei der letzten WM stand die stimmige Ausgewogenheit ganz im Zentrum.
Im Teilnehmerfeld der vergangenen Weltmeisterschaft in Russland machte die brasilianische Mannschaft mit den stärksten Eindruck. Das Ausscheiden im „Spiel des Turniers“ gegen Belgien lief auch etwas unglücklich. Eine der tragenden Säulen der Seleção bildete Thiago Silva in der Innenverteidigung. Mit 33 Jahren spielte er nochmals eine starke Endrunde und gehörte über die Wochen des Turniers durchgehend zu den besten Spielern des Teams. Eigentlich zeichnete sich seine WM durch Konstanz auf gutem Niveau aus. Als die brasilianische Mannschaft insgesamt ihren stärksten Auftritt bei diesem Turnier hinlegte, beim 2:0 im Achtelfinale gegen Mexiko, zeigte auch er seine individuell beste von fünf Partien, wie in Relation einige seiner Mitspieler – beides konnte bei diesem Team gut zusammengehen.
Zu Beginn jenes Spiels gegen die Mittelamerikaner sah es für Brasilien noch gar nicht so günstig aus. Einen Schlüsselaspekt bildeten dafür die Rollen der mexikanischen Flügelstürmer: Diese bewegten sich auch bei gegnerischem Ballbesitz oft breit, konnten gelegentlich nach innen pressen, vor allem aber als offensiver Anspielpunkt im Umschalten dienen. Nach attackierenden Diagonalbällen entwickelten Mexiko in diesen Zonen anfangs viel Tempo.
In dieser brenzligen Phase betätigte sich Thiago Silva vor allem als Organisator. Er bewegte sich umsichtig in der letzten Verteidigungslinie, hielt dort eher die Tiefe und die stabile Zentrumsbesetzung aufrecht, blieb mit etwaigen Herausrückbewegungen also sparsam. Mit seinem aufmerksamem defensivem Bewegungsspiel verschaffte er den Mitspielern bessere Konstellationen, damit diese aus der gemeinsamen Restverteidigung im entscheidenden Moment aggressiver in die Zugriffssuche übergehen konnten. Vereinzelt hielt er sich etwa in dieser Phase beispielsweise aber auch ein wenig zu zurückhaltend.
Ruhige, aufmerksame Situationseinschätzung
Die Ausrichtung der Mexikaner war in dieser Partie sehr vertikal angelegt, auch als die Schnellangriffe über die Flügelstürmer nicht mehr so betont daherkamen wie in der furiosen Startphase. Aus dieser Charakteristik ergaben sich vergleichsweise viele Abpraller und lose Bälle im Mittelfeldbereich, nach denen eine der Mannschaften dann Ruhe ins Spiel zu bringen versuchte oder die Szenen sich in mehrfache Umschaltaktionen weiterentwickeln konnten. Daher fanden Ballbesitzwechsel zugunsten der Brasilianer – sofern nicht aus der Rest- bzw. Strafraumverteidigung heraus, während das Gesamtspiel in den Anschlüssen daran noch gestreckt stand – zumeist in dynamischen „Hin-und-Her“-Konstellationen im zweiten Drittel statt.
Zum einen bedeutete dies, dass die eigene Abwehrreihe vergleichsweise hoch stand. Zum anderen bestand für Mexiko die Möglichkeit, eine vorige Umschaltsituation potentiell nahtlos in ein Gegenpressing hinein weiterzuführen. Derartiges Nachsetzen läuft dann zumeist wechselhafter und unbeständiger als „klassisches“ Gegenpressing aus strukturierteren Vorsituationen, ist schwieriger abzuschätzen einerseits für die unter Druck gesetzten und andererseits für die im ballnahen Umkreis absichernden Spieler, potentiell also ebenfalls sehr wirksam und umgekehrt etwas verwundbarer. Die Akteure der Mexikaner führten so ihre Gegenpressingmomente nur selten mit letzter Intensität aus bzw. zu Ende, sondern drosselten ihre Bewegungen – teilweise auch etwas inkonsequent – und gingen in lauernde Haltungen über.
Ähnlich verhielten sie sich bei brasilianischen Rückpässen aus dem Spiel heraus, rückten systematisch und hier auch nochmal geschlossener wieder ein Stück nach vorne. In diesen Situationen war Thiago Silva für die brasilianische Mannschaft sehr wichtig, da er die Szenen enorm ruhig anging – strategisch noch etwas zurückhaltender als er sich sonst unter hohem Druck verhält. So fand er eine gute Ausgewogenheit in seinen Entscheidungen. Vor allem nutzte er kurze Verzögerungen und andeutende Bewegungen, um so – jeweils nur innerhalb von mehreren Augenblicken – besser abschätzen zu können, wie sich das Verhalten der jeweiligen mexikanischen Spieler in seiner Nähe weiterentwickeln würde. In der Lösungsfindung griff er besonders oft zu kleinräumigen Ansätzen, deren Einsatz in solchen Gesamtkonstellationen von angedeutetem Druckaufbau und eher raumgreifenden Anschlusstaffelungen gut passte.
Bei der konkreten Umsetzung ließ sich das stringente Repertoire an typischen taktischen Mechanismen der Mannschaft zunutze machen. So gehörte beispielsweise das tiefe Anbieten Willians zu den gängigen Orientierungsmustern im Aufbauspiel und damit den Momenten in Ballbesitz. Auch bei mannschaftlicher Neuorientierung nach Rückpässen aus dynamischen Mittelfeldszenen rief der Rechtsaußen das häufiger ab. Unter Druck blieb Thiago Silva sehr aufmerksam gegenüber dem Umfeld – wahrscheinlich auch beobachtend, ob Willian diese Bewegung wieder anbieten würde. In einer Szene wurde recht deutlich, dass der Innenverteidiger diese Lösungsmöglichkeit speziell abgewartet hatte: Er nutzte eigens eine kurze Stafette verzögernder Ballführung, bis Willian den anschließenden Raum erreichte und dort stabil eingesetzt werden konnte.
Der Einzelspieler in unterschiedlichen Ausrichtungen
Nicht nur hier harmonisierte er seinen Stil gut mit dem Charakter des Teams. Unter Tite waren und sind die Brasilianer eine gleichförmig organisierte Mannschaft mit guter Raumaufteilung. Gegen das offensive mexikanische Aufrückverhalten am Flügel kamen sie nach der furiosen Anfangsphase immer besser durch die Rückzugsbewegung der zweiten Linie ins Doppeln, speziell nach der Umstellung auf eine klarere 4-4-2-Defensivformation. Die Sechser unterstützen recht zuverlässig zum Strafraum hin. Insgesamt bildete die saubere Absicherung in dieser Partie das defensive Kerngeschäft der Innenverteidiger.
In der Strafraumverteidigung kamen Thiago Silva und Miranda gut zurecht, zumal die Neigung der Mexikaner zu ungeduldigen Bewegungsmustern in den attackierenden Dribblings oder Überladungen zu weniger hochwertigen Vorbereitungs- und Abschlusspositionen führte, deren zügige Finalisierung diese häufig zudem vorzogen. An dieser Stelle waren für die brasilianische Innenverteidiger ganz andere Verhaltensmuster gefragt und schwerpunktmäßig andere Fähigkeiten primär gefordert, als etwa bei den Partien der Weltmeisterschaft vier Jahre zuvor. Vergleicht man diese Leistung Thiago Silvas mit jener vom Viertelfinale 2014 gegen Kolumbien, zeigen sich die Glanzpunkte der zwei jeweils starken Partien sehr unterschiedlich.
Bei der Ausrichtung von 2018 ging es noch mehr um Sauberkeit und Gleichmäßigkeit des Bewegungsspiels und der Entscheidungsfindung sowie bei den Umschaltmomenten um das Funktionieren der Abläufe in der Kette. In einem intensiven Duell zwischen dem teilweise wilden Stil der brasilianischen Auswahl von 2014 mit der laufstarken Pékerman-Truppe gab es viele Szenen, die deutlich raumgreifender bestritten werden mussten. Nicht nur hinter den Außenverteidigern waren die Anschlussräume zu füllen, auch die Sechser schossen jagend oft weiträumig nach vorne. Da Kolumbien phasenweise mit dem athletischen Linksaußen Ibarbo einrückend das Sturmzentrum zusätzlich besetzte, wurden auch dagegen häufigere Herausrückbewegungen nötig.
Den Zugriff auf die nahen Angreifer, auf etwaige Lücken im Sechserraum und das Balancieren von möglichen Risikoentscheidungen seines Nebenmannes David Luiz miteinander zur richtigen Bewegung im Raum zu koordinieren, bedeutete für Thiago Silva mitunter einen Drahtseilakt. Spektakulär war eine Szene, als er einen 1gegen3- bzw. dann 1gegen2-Konter stoppen konnte, zunächst fast zu stark auf den Passweg nach innen ging, bei der Anschlussbewegung nach außen aber durch einen bogenartigen Laufweg – auf Kosten der kleinen Chance auf ein Abseitsstellen – den Querpasswinkel erheblich erschwerte. Mit dem kleinen Makel der Gelben Karte, die die schmerzliche Sperre für das Halbfinale bedeuten würde, zeigte er eine herausragende Einzelspielerleistung, hatte – aus den strukturellen Gegebenheiten heraus – zwischenzeitlich auch recht viele Möglichkeiten, den Aufbau anzukurbeln.
Ausgereiftes Abwägen für stabile Entscheidungen
Sein Spiel mit Ball glänzte gegen Mexiko im Achtelfinale 2018 vor allem in Sachen Rhythmussteuerung. Aus einer eher defensiven Grundhaltung heraus war beeindruckend, wie ausgereift er die jeweilige Erfolgsstabilität von verschiedenen Optionen abschätzte. So kam Thiago Silva zu entsprechend vorausschauenden, umfassenden Abwägungen. Nahezu vollständig unterblieben in dieser Partie zu riskante Pässe bzw. überhaupt Entscheidungen – in dieser Form doch außergewöhnlich, fast eine Art Selbstdisziplinierung auf vorsichtige und stabile Aktionen, aber stets sehr nah an der bestmöglichen Grenze zu möglichst hoher Konstruktivität. Von dieser Bewusstheit in der Entscheidungsfindung war es eines seiner besten Spiele überhaupt.
Erst in der Schlussphase bzw. langsam zunehmend im Verlauf nach der Führung und dann im zweiten Teil der zweiten Halbzeit rückte die Endverteidigung wirklich ins Zentrum. Während Brasilien sich weiter zurückzog, wurden die Mexikaner naturgemäß offensiver. Sie griffen sehr weiträumig an, setzten das gezielt um und die Südamerikaner gerieten etwas mehr unter Druck. Auch wenn mal das weiträumig herausrückende Verfolgen der Außenverteidiger überspielt wurde oder Mexiko dynamischer hinter die Sechser kam und so situativ größere Abstände entstanden, blieb Brasilien aber grundsätzlich gut organisiert, hatte im zweiten Fall noch die Viererkette recht sauber hinter dem Ball.
Wiederum musste das mit der nötigen Ausgewogenheit genutzt werden: Überstürzte Heraus- bzw. Nachrückbewegungen drohten in jenem Kontext besonders teuer zu werden. In derartigen Momenten waren es kaum mal spektakuläre oder besonders brillante Abwehrtaten, die Thiago Silva hier aus der Restverteidigung heraus vollbrachte, sondern logische Aktionen, aber konzentriert und konsequent umgesetzt. Er fand eine gute Dosierung, wie weit er herausrücken konnte, wie aggressiv er den Gegner stellen oder attackieren und wie lange er abwarten musste. Kleinere Schwierigkeiten entstanden mal beim seitlichen Nachrücken hinter den Außenverteidigern gegen Chicharitos Bewegungen. Das Timing für den Übergang in kurze weiträumige Zugriffsaktionen aus tiefer Position war zuverlässig auf sehr hohem Niveau.
Ein wenig seltsam fühlt es sich eigentlich schon an, für ein Thiago-Silva-Kalendertürchen gerade ein Spiel gewählt zu haben, in dem Rettungstaten und herausragende Antizipations-Ballgewinne keine so ganz prägende Rolle spielten, wenn man es mit anderen fast absurden Partien vergleicht. Aber die Ruhe, Ausgewogenheit und Überlegtheit in den Entscheidungsprozessen und Verhaltensabwägungen kam in dieser Begegnung einfach in eine sehr stimmige Position. Auf diese Weise war es eine herausragende Einzelspielerleistung. Sie bestimmte sich durch ihre Komplettheit, während bei vielen anderen Spielern, die in dieser Partie einen sehr starken Auftritt hinlegten, der außergewöhnliche „impact“ gerade über spezifische Aktionsteilbereiche ausgeübt wurde: Die beiden markantesten Beispiele stellten Willian mit seiner Dribblingnutzung sowie Gabriel Jesus mit seiner übermäßigen (Defensiv-)Arbeitsrate dar.
3 Kommentare Alle anzeigen
TR 8. Dezember 2018 um 15:04
Danke für die Kommentare. Das Spiel gegen Barca 2013 war in der Tat beeindruckend, unter anderem noch mit einigen starken Szenen in der Spieleröffnung. Anfangs gehörte die Partie auch zur Auswahl bei der Frage nach dem zu analysierenden Spiel. Ein zügiges Argument dagegen war aber, dass die Partie vor dem Spielerporträt lag. Ob man jenes nochmal hier veröffentlicht, müsste man mal schauen. Kennst du den Artikel nicht oder welches Interesse läge dem zugrunde?
JL 4. Dezember 2018 um 01:23
Super Artikel zu einem meiner Lieblingsverteidiger. Das Spiel gegen Barca 2013 als er quasi im Alleingang die Offensive der Blaugrana bremste und seine spektakuläre Leistung noch fast mit einem Tor krönte wird mir dabei immer in Erinnerung bleiben.
Etwas schade dass ihm die ganz großen Titel (CL/WM) fehlen um auch öffentlich zu den besten zu zählen. Für mich die Nummer eins seiner Generation und durchaus auch einer der Besten aller Zeiten.
PS: Könnte man denn das Spielerportrait von 2014 nochmal hier veröffentlichen?
studdi 3. Dezember 2018 um 10:34
Einer meiner absoluten Lieblingsverteidiger, der in der öffentlichen Wahrnehmung aber leider oftmals nicht als erster genannt wird wenn es um den besten Innenverteidiger geht.
Für mich wurde seine Herausragende stärke in dem erwähnte spiel von 2014 in Zusammenhang mit dem 7:1, in welchem er eben nicht spielte, deutlich.