Mit angezogener Handbremse ins Viertelfinale
Ein wildes Hin und Her. Ein Haufen Tore. Schlussendlich ein unterhaltsames Spiel. Aber auch eine recht klare Sache für den Favoriten.
Frankreich ist dem Titel wieder ein Stück näher gekommen. Nach einem durchaus kurzweiligen Spiel gegen Argentinien, das die Mannschaft von Didier Deschamps über die komplette Spieldauer im Griff hatte, steht der Weltmeister von 1998 im Viertelfinale. Das Wesentliche zur Partie vorab im Überblick:
- Argentinien nutzte Überladungen der tiefen Halbräume, um aus dem Aufbauspiel in die sichere Ballzirkulation zu kommen. Aus dem Übergangsspiel kamen die Südamerikaner dann aber nicht sauber ins Angriffsspiel.
- Frankreich nutzte im Spiel mit Ball eine asymmetrische 4-4-2-Grundordnung mit Matuidi auf der nominellen linken Flügelposition und verschaffte sich so Luft und Stabilität im Zentrum.
- Gegen den Ball wählten die Franzosen einen passiven und tiefen Ansatz
Frankreich im Spiel mit dem Ball: Drei Zentrale vor der Abwehr / Umschalten / Fokus auf individuelle Qualitäten im Angriffsspiel
Frankreich agierte in der Offensive aus einer asymmetrischen 4-4-2-Grundordnung heraus. Darin bekleidete Matuidi die Position des linken Flügelspielers, rückte mit Ball aber meist als dritter Sechser ins Zentrum ein. Entsprechend früh schob Außenverteidiger Hernandez nach vorne. Auf der rechten Seite agierte sein Gegenüber Pavard ebenfalls weit nach vorne geschoben, denn auch Mbappe orientierte sich wenn möglich in die Halbspur und nahm situativ die Position von Griezmann als rechter Stürmer ein. Er tat dies nicht nur dann, wenn der Atletico-Star sich bei Angriffen der Argentinier über deren rechte Seite anstelle Mbappes zurückorientierte, sondern auch, wenn Griezmann im Übergangs- oder Aufbauspiel aus der Spitze zurückfiel.
Im Spiel gegen den Ball agierten die Argentinier aus einer 4-1-4-1-Grundordnung heraus. Die Mannschaft Sampaolis nutzte dabei genauso wie die Franzosen über weite Strecken der Partie ein Mittelfeldpressing. Der Schachzug Deschamps Matuidi gegen diese Spielweise als linken Flügelspieler auflaufen zu lassen, hatte zur Folge, dass die Franzosen im zentralen Mittelfeld in den Phasen des Aufbauspiels und des Übergangsspiels numerisch im Vorteil waren und Kante fast durchgehend als freier Mann in der Mitte agieren konnte. Auf diese Art und Weise gelang es den Franzosen den Raum sowohl tief und breit aufzuteilen, ohne dass dies zu Stabilitätsproblemen in der Ballzirkulation oder im Moment des defensiven Umschaltens geführt hätte.
Frankreich im Spiel gegen den Ball: Alles relativ passiv
Gegen den Ball blieb die 4-4-2-Grundordnung bestehen, wobei die Asymmetrie aus dem Spiel mit Ball keine Rolle spielte. Die Grundordnung wurde als tiefes Mittelfeldpressing interpretiert. Griezmann und Giroud spielten im frühen argentinischen Aufbau auf einer Höhe, später orientierte sich Griezmann immer wieder am tiefen, zentralen Sechser Mascherano.
Matuidi und Mbappe agierten zunächst eingerückt und hielten die Bindung an die beiden Sechser. Nach Anspielen auf die Flügel liefen Matuidi und Mbappe ihre Gegenspieler zumeist so an, dass Passwege zur Mitte versperrt wurden, auch wenn so kein maximaler Druck auf den Ball zustande kam. Das führte dazu, dass Argentinien Frankreich nach längeren Ballbesitzphasen an den eigenen Strafraum drängen konnte, wobei sich die entstehenden Grundstaffelungen am ehesten als 4-4-0-2 einordnen lassen.
Argentinien im Spiel mit dem Ball: Überladungen der tiefen Halbräume / wenig Durchschlagskraft nach Rechtsüberladungen
Die Argentinier liefen im Spiel mit Ball in einer 4-1-4-1-Grundordnung auf. Im Aufbauspiel agierten Tagliafico und Mercado auf den beiden Außenverteidigerpositionen extrem tief und fast durchgehend auf einer Höhe mit den beiden Innenverteidigern oder nur etwas nach vorne gerückt. In die Räume vor den Außenverteidigern kippten Perez und Banega heraus. Auf der rechten Seite konnte Perez so Platz im Halbraum für den nach halbrechts zurückfallenden Messi schaffen.
Auf der anderen Seite blieb Banega auch häufig im Halbraum eingerückt und spielte deutlich vertikaler als sein Gegenüber. Er fiel im tiefen Aufbau durchaus weit nach hinten, wobei er sich aus dem gegnerischen Defensivbock heraus löste, und zeigte immer wieder aufrückende Läufe im Halbraum, wobei er sogar in die Spitze nachstieß. Mascherano agierte in der Regel hinter der Schnittstelle, die zwischen den beiden französischen Stürmern bestand, während sich die beiden Flügelspieler in der Regel im Bereich der Halbräume in die letzte Linie orientierten und so für die Tiefe im Spiel sorgten, wobei di Maria auf der linken Seite auch immer wieder auf dem Flügel zu finden war.
Frankreich besser, aber plötzlich Argentinien in Front
Im Wesentlichen begann die Partie für die Franzosen gleich relativ gut: In der neunten Minuten traf Griezmann nach einem Freistoß die Latte. Bereits zwei Minuten später foulte Rojo Mbappe nach einem Konter in einer 5-gegen-2 Überzahlsituation elfmeterreif. Den fälligen Strafstoß konnte Griezmann verwandeln.
Die Führung der Franzosen und die generellen Herangehensweisen beider Mannschaften führten dazu, dass Argentinien zwar phasenweise um die 70 % Ballbesitz verbuchen konnte, selbst aber kaum zu Torchancen kam und gegen die zockenden Giroud und Mbappe Probleme im Umschalten nach hinten hatten.
Nachdem die Franzosen in der ersten Halbzeit als bessere Mannschaft auftraten, gelang den Argentiniern kurz vor der Pause der Ausgleich. Mit dem ersten Torschuss des Teams glückte di Maria im Anschluss an einen Einwurf ein sensationeller Weitschusstreffer. Mit dem zweiten Torschuss direkt nach der Halbzeit gelang dann sogar die Führung: Nach einem Freistoß fälschte Mercado einen Linksschuss von Messi unhaltbar für Lloris ab.
Änderung der Spieldynamik nach der argentinischen Führung
In der Phase nach dem Führungstreffer Argentiniens schoben die Franzosen Hernandez und Pavard im eigenen Ballbesitz bis in die letzte Linie nach vorne. Sie sollten die Tiefe und Breite im Spiel herstellen. Im Zentrum belegten jeweils zwei Akteure des Trios aus Griezmann, Mbappe und Giroud die Viererkette, während Giroud und Griezmann auch immer wieder in den Zwischenlinienraum zurückfielen. Matuidi und Pogba rückten im Zentrum häufiger nach vorne und zogen so ihre direkten Gegenspieler weg von Kante und den beiden Innenverteidigern, die ihre Grundposition im Sinne einer etwas dominanteren Herangehensweise im Spiel mit Ball nach vorne verlagerten.
Frankreich kam auf diese Art und Weise besser in eine druckvolle Ballzirkulation und schaffte es die nachstoßenden Außenspieler auf Außen freizuspielen. Kurios: Nach einem Flankenball von Hernandez stand Pavard am anderen Ende des Strafraums bereit und verwandelte die Hereingabe sehenswert Volley. Gute zehn Minuten später war es wieder Pavard, der auf der linken Seite durchbrach – und Mbappe derjenige, der zur erneuten Führung der Franzosen traf. In der 68. Minute nutzten die Franzosen schließlich ein wenig kompaktes Durchpressen Argentiniens bis zum Torhüter aus und brachten nach dem folgenden Schnellangriff Mbappe in Stellung, der seinen zweiten Treffer markieren konnte. Das späte Tor in der Nachspielzeit von Aguero zum 4:3 änderte nichts mehr.
Fazit
Die Leistung der Franzosen über die komplette Spieldauer war letztlich deutlich überzeugender, als man es am Ergebnis ablesen könnte. Dass die Partie in der ersten Stunde so eng war, lag schlicht und einfach daran, dass Argentinien aus zwei Chancen zwei Tore erzielte. Grundsätzlich profitierten die Franzosen dabei aber von der Spieldynamik: Dass Argentinien die Mannschaft mit mehr Ballbesitz war, kam Frankreich entgegen. Vor diesem Hintergrund und mit Rückblick auf die Vorrundenpartien wird das anstehende Viertelfinale gegen Uruguay sicher zur bisher größten Aufgabe für die Mannschaft von Didier Deschamps.
8 Kommentare Alle anzeigen
Aliou Bob Marley Cisse 7. Juli 2018 um 19:15
Nachdem weder der lasche Ballbesitzfußball von Argentinien, noch die Defensivtaktik von Uruguay Frankreich ins Wanken bringen konnte…Traut ihr überhaupt einer Mannschaft, die noch im Turnier ist Frankreich zu schlagen? Ich traue es nicht einmal den „Zweitbesten“ Belgiern zu. Eine Mannschaft wie Portugal 2016 ist nicht mehr im Turnier. Bei den Spielanlagen von England und Kroatien werden sich wohl wieder goldene Räume für Speedy Mbappe und Griezmann Gonzalez ergeben…
August Bebel 6. Juli 2018 um 11:52
Dass Argentinien lange Zeit ohne echten Mittelstürmer gespielt hat, hat ihrem Spiel meines Erachtens nicht gut getan. Mercado, Perez und Pavon standen sich an der rechten Außenlinie auf den Füßen und oft kam auch noch Messi dazu, während die Mitte ziemlich verwaist war. (Matuidi war natürlich die perfekte Antwort darauf.) Zudem haben sich (wie schon in vorigen Spielen) die meisten Argentinier aufs erfürchtige Zusehen beschränkt, wenn Messi am Ball war. Dass Dybala wieder nicht zum Einsatz kam, kann ich mir nur mit irgendwelchen persönlichen Animositäten erklären.
Ich bin auch sehr gespannt, wie sich die Franzosen heute gegen Uruguay schlagen. Sich die meiste Zeit aufs Kontern beschränken zu können, kam ihnen gegen Argentinien sehr entgegen. Den Gefallen wird Uruguay ihnen sicherlich nicht tun.
kompottclown 6. Juli 2018 um 11:24
Vielen Dank für den Artikel. Natürlich habe ich das Spiel verpasst, aber trotzdem einige Fragen und Anmerkungen:
– Zur Grafik: Ich nehme an, der zentrale Sechser heißt Kanté und nicht Keita?
– zu Mbappé: Die Medien haben sich nach dem Spiel überschlagen und den nächsten, zwingend kommenden Wetffussballer auserkoren, zumal er erst 19 ist – hat er dem Spiel abgesehen von den 2 Toren wirklich den Stempel aufgedrückt und/oder ist er einfach nur eine der individuell überragenden Offensiv-Waffen in diesem Kader? Die Tore sahen gut aus, er ist blitzschnell und vollendet sehr sauber, er spiel gut mit – aber manchmal denke ich: ja, technisch sauber, sehr schnell, guter Abschluss, Entscheidungsfindung wird mit den jungen Jahren besser werden…aber wird er der nächste Große ODER ist er es sogar schon?
– zu Messi: Es gibt auf SV einen schönen Artikel, wie man ihn gut und schlecht einbindet – täusche ich mich damit, dass Sampaoli es trotz seiner unbestrittenen Qualität es nicht geschafft hat, ihn gut einzubinden oder hat Frankreich das mit der 3x6er vor der Abwehr gut verteidigt/entschärft? Und warum ist er dann nicht auf Außen gefallen, um den Raum vor der Abwehr etwas zu entzerren? Oder ist dies passiert, aber ohne Erfolg?
– warum hat Sampaoli diesmal die Varinate mit Messi „als Zehn“ und di Maria auf Außen gewählt – oder war es mglw. gar nicht seine Entscheidung (man hat ja einiges gelesen, dass er entmachtet worden sei und die Mannschaft sich selbst aufgestellt hat)?
Aliou Bob Marley Cisse 7. Juli 2018 um 19:05
Di Maria hätte ich mit meinem bescheidenen Verständnis gerne auf einer 8-er-Position gesehen.
Peda 6. Juli 2018 um 11:21
In die Aufstellungsgrafik haben sich auf französischer Seite zwei Fehler eingeschlichen : Hernández und Kanté sind falsch.
Aber zum Inhaltlichen: ich bin wirklich sehr gespannt, wie sich Frankreich nach den eher lockeren Partien bisher gegen Uruguay schlägt. Australien nahm man aus meiner Sicht nicht ganz ernst, gegen Peru ging es nach der Führung im Schongang, Dänemark war ein Nichtangriffspakt und gegen Argentinien zog man sich ni Führung stets soweit zurück, bis man wieder eins kassierte.
Die bisherigen Aufeinandertreffen zwischen Frankreich und Uruguay sprechen übrigens auch nicht für ein Torfestival. Im neuen Jahrtausend gab es in fünf Begegnungen nur ein Tor.
Aliou Bob Marley Cisse 7. Juli 2018 um 19:11
Man sieht was mit Uruguay passiert, wenn es in Rückstand gerät. Bei Schweden war es nach meinem Empfinden ähnlich. Gelingt nicht in einem der nächsten Angriffe der Ausgleich sind 50% Arbeit für den Gegner erledigt. Allerdings lässt sich wohl auch in Rückstand geraten irgendwie geraten, oder? Wenn der Spielverlauf immer auf meiner Seite sein muss, hat dies auch mit einer mangelnden Qualität zu tun.
Genau wegen dem, was du ansprichst bin ich kein Fan von Frankreich. Sie wissen immer wieviel genau reicht, um die Partie knapp zu gewinnen. Wenn Deschamps diese Mannschaft von der Leine lässt spielt es Hollywood.
Aliou Bob Marley Cisse 7. Juli 2018 um 19:12
trainieren meinte ich…(Rückstand)
tobit 6. Juli 2018 um 09:34
Mit Keita meinst du in der Aufstellungsgrafik bestimmt Kanté.
Warum spielt Mascherano eigentlich immer noch auf der Sechs? Er trägt im Aufbau außer Fehlpässen nichts bei, kommt kaum mal wirklich gut ins Gegenpressing und braucht viel zu viele Fouls bei gegnerischen Kontern. Dazu wirkte er auf mich absolut übermotiviert und nicht mehr so klar und abgebrüht wie früher. Den Aufbau macht ja sowieso Banega, warum dann nicht Lo Celso als Achter dazu, der auch mal einen Ball sinnvoll verarbeiten und kreativ weitergeben kann.