Auftaktspektakel ohne Glanz
In einem zerfahrenen Eröffnungsspiel holt der Gastgeber mit wenig Aufwand ein Top-Ergebnis, weil ein spielerisch nettes, aber unkoordiniertes Saudi-Arabien viel anbietet.
Vor dem Turnierstart plagten das russische Team viele Zweifel und Probleme, über die sich nun vorerst die Euphorie des Kantersieges zum Auftakt gelegt hat. Saudi-Arabien hätte das Potential gehabt, den angeschlagenen Gastgeber zu ärgern, konnte dies aber nicht auf den Rasen bringen – und wirkte zu Beginn auch recht nervös(?). Zwar deuteten sie ihre spielerischen Möglichkeiten in kleinen, jedoch meist ineffektiven Seitenüberladungen und Ballstafetten an, deren taktische Einbindung nicht ganz passte. In systematischer Hinsicht lag das Hauptproblem für den Außenseiter letztlich darin, dass sie ihr positionelles Verhalten in mannschaftlichen Verbund gerade in Umschaltmomenten und beim Herausrücken nicht koordiniert bekamen und damit die Szenen nicht kontrollieren konnten.
Saudi-Arabien bietet Räume an
Unter diesen Umständen reichte Russland wenig Ballbesitz und geringer Aufwand für einen Erfolg, der sich bereits zur Halbzeit abzeichnete. Den Aufbau gestaltete der Gastgeber im Aufrückverhalten vorsichtig und gerade die Sechser boten im Freilaufverhalten eigentlich wenig an. So wurde häufig – teilweise gezielt, teilweise dann, wenn es ansonsten nicht weiter nach vorne ging – mit langen Bällen oder anderen Direktzuspielen operiert, meistens aus dem halbrechten Bereich ausgehend. Dieses typische Stilmittel des russischen Spiels wurde ergänzt von einigen unorthodoxen Mechanismen, anfangs etwa über Dzagoevs Zurückfallen, das in tief zugeschobenen Flügel-Staffelungen teilweise Otayf herausziehen und die gegnerische Restverteidigung für lange Bälle schwächen konnte.
Daneben fielen in der Anfangsphase ballferne Rückstöße von Golovin ohne wirklich direkte Möglichkeit zur Einbindung auf, mit denen die Saudis nicht so zurechtkamen und sich einige Male zu unvorsichtigen Anpassungen ihrer Anordnungen hinreißen ließen. Eigentlich ist das Team gut organisiert und leistete nicht zuletzt gegen die deutsche Mannschaft sehenswerte Arbeit, um die Halbräume aus dem 4-1-4-1 zu verschließen. Diesmal hatten sie jedoch gerade in ihrem halblinken Defensivbereich Probleme und waren dort nicht ideal aufgestellt. Gegen das teilweise zu forsche diagonale Herausrücken des dortigen Achters Al-Faraj fanden die Russen ein recht gutes Timing für die langen Schläge des Innenverteidigers oder lange diagonale Flachpässe von Mario Fernandes nach innen.
Im Vorhinein hatte man diese Problematik in etwas anderer Akzentuierung erwarten können: dass Saudi-Arabien nach guter Defensivarbeit sehr aggressiv auf erzwungene Rückpässe nachgepresst hätte und dann von weiten Bällen des Keepers auf dem falschen Fuß erwischt worden wäre. Nun traten solche Schwierigkeiten in der Restverteidigung innerhalb der ersten Pressingaktionen selbst auf. Die Saudis gingen in diesen Zusammenhängen etwas ungestüm zu Werke: Der Außenverteidiger musste häufig in riskante Mannorientierungen gehen, Otayf versuchte mit weiträumigen Nachrückbewegungen in den großen Raum hinter seinem Achter zu kommen und darum herum gab es recht viel Improvisation. In der Folge öffneten sich Räume vertikal hinter dem Mittelfeld.
Lange Zuspiele in oder an den Zwischenlinienraum
Darin bewegten sich die russischen Offensivakteure zwar recht individualisiert und nicht immer optimal. Für die verschiedenen Abprallerszenen waren sie aber personell einfach sehr präsent aufgestellt. Gerade Smolov, der zusammen mit Dzagoev in den ersten zehn Minuten noch für einen kleinen Linksfokus in der letzten Linie bei weiten Schlägen sorgte, schaltete sich aktiv in diesen Zonen ein. Bei den hohen Bällen kam noch hinzu, dass die Russen durch die körperliche Überlegenheit Kopfballduelle manchmal so „sauber“ gewannen, dass Weiterleitungen vergleichsweise kontrolliert erfolgen oder der beteiligte Spieler zumindest eine sehr effektive Anschlussbewegung starten konnte und für die nächste Aktion direkt als zusätzlicher Mann bereitstand, während sein Gegenspieler mit Dynamiknachteil aus der Szene „herausgenommen“ war.
Für die Einleitungen über Mario Fernandes wurde die Entstehung des 2:0 zum Paradebeispiel, als die gegnerische Defensive genau auf diese Weise aufgehebelt wurde. Überhaupt gab es im russischen Spiel einen leichten Rechtsfokus, der entscheidend mit den gruppentaktischen Qualitäten des Außenverteidigers zusammenzuhängen schien. Wenn die Sechser mit Diagonalläufen etwas mehr nach vorne machten, gingen sie meistens zu dieser Seite hinaus: Vor dem 3:0 beispielsweise gab es auf diese Weise eine simple Überladung nach einem Einwurf, die Golovin das Flanken ermöglichte. Der Linksfokus für lange Schläge aus der Tiefe mit einer Ballung an der letzten Linie wurde beim 4:0 wieder aufgenommen. Wenn der weite Ball dagegen sehr klar vom rechten Innenverteidiger in Richtung Zwischenlinienraum gezielt wurde, war auf der linken Seite das ballferne Aufrücken des Außenverteidigers für Präsenz ein interessanter Aspekt.
Schwaches Ausspielen von Direkangriffen
Auch wenn die zwei späten Tore das Ergebnis komfortabel in die Höhe schraubten: Die vielen Szenen, die das russische Team insbesondere nach zweiten Bällen im Zwischenlinienraum vorfand, spielten sie eigentlich nicht gut aus. Mit schlechter Entscheidungsfindung – vor allem hektischen Pässen – machten sie viel zu wenig aus diesen Möglichkeiten. Dazu trug andererseits das Mittelfeld der Saudis entscheidend bei, die mit gutem Rückzugsverhalten und geschickter Zugriffsfindung in der Dynamik eine Reihe von Bällen zügig zurückeroberte, nachdem sie zuvor überspielt worden waren.
Dass die Russen dementsprechend viele Bälle frühzeitig bei Schnellangriffen wieder hergaben, war auch ein Grund für ihre eher niedrigen Spielanteile. Längere und langsame Zirkulationsphasen hatte der Gastgeber hauptsächlich in den höheren Offensivzonen denn im Spielaufbau. Wenn sich Angriffsaktionen in den Flügelzonen festgefahren hatten und durch die durchschnittlichen Offensivstaffelungen in Strafraumnähe wenig Optionen vorhanden waren, nutzten die Gastgeber sehr konsequent Rückpässe zur Beruhigung. Insgesamt schalteten sich die beiden Sechser nur wenig ins letzte Drittel ein und boten sich im Rückraum an, um das Leder dort laufen zu lassen.
Saudi-Arabien ließ sich in Abwehrpressingphasen schließlich tief fallen, indem die offensiven Flügelspieler den russischen Außenverteidigern in diesen Kontexten häufiger mannorientiert an die letzte Linie folgten. Bei russischen Rückpässen büßten sie durch den kurzen dynamischen, aber ineffektiven Laufaufwand einige Kräfte ein. Zwar verhielten sie sich in Strafraumnähe bei der eigentlichen Defensivarbeit geschickt, jedoch fiel in diesen Szenen wiederum der koordinierte Zugriff schwer.
Spielstärke mit kleinen, schwerwiegenden Unsauberkeiten
Eine koordinative Problematik zeigte sich schließlich auch im Aufbauspiel, welches der Außenseiter mit Ambition anging: Sie agierten beweglich, flexibel in den Staffelungen und brachten in unterschiedlichen Konstellationen eigentlich viele Spieler in die zentralen Zonen. Gerade die offensiven Außenspieler des nominellen 4-1-4-1 banden sich präsent ein und aktiv ein: Zu Beginn tat dies hauptsächlich Al-Dawsari im Halbraum oder mit freiem Herumdriften durch die Übergangszonen, in typischer Weise. Später schaltete sich auch Al-Shehri zunehmend ein, in seinem Fall eher mit vertikalen Rückstößen in den Flügelzonen und tieferem Ankurbeln.
An diesen Stellen zeigten sich mit aber auch schon direkt die Probleme der Anlage. Positionsspiel und Auffächern geschahen etwas unsauber und inkonsequent, so dass manche sehr gute Elemente und Positionierungen von dazu unpassenden Ergänzungen geschwächt wurden. Teilweise tendierten die Spieler dazu, sich zu kleinräumig zu verhalten, sich so eher gegenseitig zuzustellen und gegnerischen Pressingdruck einzuladen. Die Spielweise der Russen passte in diesem Kontext ganz gut, indem sich die Stürmer und die Flügelspieler des 4-4-2 hauptsächlich auf die Grundkompaktheit fokussierten und sich ansonsten an den Sechsern ausrichteten.
Diese wiederum spielten sehr weiträumig und robust, waren für die meisten Herausrückbewegungen verantwortlich. In losen Mannorientierungen verfolgten sie die flexibel ins Aufbauspiel zurückfallenden Saudis und nutzten kleine individuelle Unaufmerksamkeiten oder unbedachte Pässe in kleinräumige, aber suboptimal verteilte Engstellen für den Zugriff. Die restlichen russischen Spieler zogen sich lose – ergänzend und unterstützend – um diesen Fokuspunkt zusammen.
In entsprechenden Szenen versuchten die beteiligten Spieler sich hektisch mit dynamischen, ambitionierten Kombinationen zu retten, schafften das teilweise auch ganz gut, aber verhedderten sich früher oder später in den Ballungen – und verloren somit tief das Leder. Auch auf diesem Wege entstanden also wiederum russische Umschaltsituationen – ebenfalls in vergleichsweise zentralen Positionen, diesmal als klassische Kontermöglichkeiten. Eine typische Problematik für die Saudis betraf das Timing bei der Einbindung eines einrückenden Flügelspielers in den Halbraum: Der Vertikalpass aus dem Aufbau auf diesen erfolgte häufig zu früh und/oder zu riskant in Situationen, wo (noch) zu wenig Unterstützung und keine erfolgsstabilen Anschlussoptionen oder keine wirklichen „Sicherheitsalternativen“ vorhanden waren.
Dies wiederum lag nicht an fehlender Zentrumspräsenz, vielmehr ging ihnen in diesen Zonen etwas die Sauberkeit und passende Synchronisation zueinander ab. Dadurch kamen auch potentielle Überzahlen hinter russischen Vorrückbewegungen im Pressing kaum zur Geltung – und so war es für den Gastgeber praktikabel, regelmäßig bei Rückpässen auf den saudischen Keeper nachzupressen. Diesen Mechanismus setzte die „Srbornaja“ mit den vier Angriffsspielern im 4-2-4 oder asymmetrischen 4-3-3 auch sehr gut um, die kleinen Schwächen in der Restverteidigung fielen weitgehend unter den Tisch.
Aufbau kommt nicht in Gang
Für Saudi-Arabien bewegte sich die Problematik zwischen der Konsequenz in der Entscheidungsfindung und den koordinativen Unsauberkeiten in einer eigentlich spielstarken, mit guten Mechanismen ausgestatteten Anlage. Bei den Innenverteidigern beispielsweise wurde das individuelle Thema der Entscheidungsfindung noch ergänzt um klare spielerische Schwächen – anders als ihre Mitspieler fielen sie tatsächlich etwas ab. Dies trug in manchen Spielphasen auch mal zu sehr einfachen Ballverlusten bei, wenn simple Verlagerungen in der letzten Linie nicht funktionierten und ohne Druck im Aus landeten – zumal wenn eben noch kleine Staffelungsunsauberkeiten mitspielten.
Wie in unserer WM-Vorschau ausgeführt, hat Saudi-Arabien also mit einem Unterschied zwischen Abwehr- und dem spielstarken Mittelfeldzentrum zu kämpfen. Letzteres musste also viele Bewegungen nach hinten zur Unterstützung der Innenverteidiger geben – und manchmal ließen sich Ungleichgewichte in der vertikalen Verteilung der Präsenz snicht vermeiden. Bei der Art und Weise, wie das Mittelfeld den tiefen Aufbau gestaltete, wurde schließlich die übliche Rollenverteilung aber zu einem Hindernis: Neben Otayf, der auch situativ abkippte, bindet sich Al-Faraj immer sehr ballfordernd tief ein. Das machte er spielerisch gut und hatte einige starke Pässe, ist für diese Einbindung mit hoher und konstanter Präsenz aber vielleicht etwas verspielt: Diesmal übertrieb und überfokussierte er kleine gruppentaktische Dreiecksbildungen mitunter sogar.
Demgegenüber rückte Schlüsselspieler Al-Jassim, sofern er nicht gerade direkt weit zurückfiel, noch weiter in die höheren Achterräume als sonst – diesmal oft so weit, dass er erst im Angriffsübergang wieder eingebunden hätte werden können. In den Zonen dazwischen wäre er wertvoll gewesen, aber in diese zogen primär die beiden Offensivspieler, deren Einbindung von den Timingproblemen gefährdet wurde. Wenn die Saudis schließlich in den vorderen Bereichen angelangt waren und dort das Leder laufen ließen, fehlte es für die Durchschlagskraft ebenfalls an der Klarheit in der Rollenverteilung, zumal sich Al-Jassims zu hohe Einbindung mit zu vielen Strafraumläufen negativ auswirkte. Insgesamt reichte es für Russland daher, sich in der – nicht optimalen – Abwehrarbeit auf ihre Horizontalkompaktheit in ballfernen Zonen zu konzentrieren.
Fazit
Der 5:0-Traumstart hilft Russland enorm, aber er sollte nicht täuschen: Das Team startete noch mit vielen Schwierigkeiten und einer eher durchschnittlichen Leistung, profitierte vor allem von einigen in diesem Ausmaß unerwarteten Schwächen des Gegners. Von ihren strategischen Schwerpunkten zeigte sich die russische Auswahl recht gut auf Saudi-Arabien eingestellt und nutzte lange Bälle in den verschiedenen Formen geschickt, aber die Rollenverteilung wirkte eher bieder und gerade in der Offensive blieb vieles noch Stückwerk.
Aus den Möglichkeiten im Zwischenlinienraum machten sie mit hektischem, improvisiertem Ausspielen wenig, dies sicherlich durch psychologische Faktoren (Erwartungshaltung etc.) mit bedingt. Die gruppentaktische Vorbereitung für solche Umschaltsituationen machte mit am meisten Eindruck und bildete einen der Lichtblicke – neben wahrscheinlich sogar der Defensivarbeit, die insgesamt zwar nicht gerade herausragte, in der man das Team aber schon mit deutlich lascherer Intensität gesehen hat als diesmal über die Rollen der Sechser.
Für Saudi-Arabien dürfte dieses klare Ergebnis schon eine zu große Hypothek für den weiteren Verlauf der Gruppe sein, auch wenn man davon ausgehen kann, dass sie in den folgenden Partien etwas weniger nervös auftreten und damit ihr Potential noch sauberer abrufen dürften. Selbst dieselbe Leistung könnte in einem anderen Kontext schon zu einem besseren Resultat führen, aber ob das noch für eine Chance aufs Weiterkommen reicht, ist fraglich. In dieser Begegnung blieb neben viel Licht viel Schatten, der sich stark auswirkte und in einem drastischen Endergebnis ausdrückte.
2 Kommentare Alle anzeigen
jonas.jungehuelsing 16. Juni 2018 um 16:19
Wir brauchen die antwort: Wer ist besser messi oder busquets?
(Oder doch Oliver Kirch?)
PS: wie Krieg ich momo akhondis Nummer?
Peda 15. Juni 2018 um 10:07
Es ist lange her, dass ich bei euch eine Analyse zu einem Spiel gelesen habe, das ich selbst über 90 Minuten lang aufmerksam verfolgt habe (inklusive Vorbereitung durch die Vorschau ;-)).
Ich kann mich TR in allen Punkten nur anschließen und möchte die für mich überraschenden und entscheidenden Punkte noch einmal betonen:
Tschertschessow hat seine Mannschaft (für mich überraschend) gut auf den Gegner eingestellt. Eine körperliche Überlegenheit war zwar zu erwarten, aber in diesem Ausmaß dann doch erschreckend. Artem Dzyuba hatte was von Deus ex machina.
Bei den Saudis war ich vor allem von der nicht vorhandenen Intensität (vielfach keine Reaktion in Umschaltszenen, sieht man so nur mehr selten) enttäuscht. Dazu kamen abseits der kleinräumigen Flügelkombinationen viele haarsträubende technische Mängel. Das betraf aber nicht nur den Aufbau in der ersten Linie, sondern auch die nicht vorhandene Raumbeherrschung des Torwarts (dafür traut sich Kahn seinen Namen hergeben?), die völlige Überforderung bei jeglichen Kopfbällen und die mit irritierender Zuverlässigkeit gespielten Fehlpässe aus den Flügelszenen heraus. Ich hatte beim Zusehen mehrfach den Gedanken, dass die Araber in der Vorbereitung nur Futsal gespielt haben.
Gott sei Dank fiel das Ergebnis zu hoch aus, dadurch hält sich der Schaden in den diversen Tippspielen noch in Grenzen. 😀
Und wie immer gilt: danke für eure Arbeit und diese Analyse!