Blick über den Tellerrand – Folge 44

Zur 44. Ausgabe bedarf es natürlich besonderer Themen mit viel Strahlkraft. Dafür ist aber einiges ausgesucht worden. Tagesaktueller Hinweis: Der Artikel enthält auch eine Analyse des Merseyside-Derbys zwischen Liverpool und Everton.

Aus der Historie: Bergkamp und Davids glänzen im „Klassieker“

Am Wochenende stand in der niederländischen Eredivisie wieder einmal der traditionsreiche „Klassieker“ zwischen Ajax und Feyenoord auf dem Programm. Wie so viele große Derbys hält auch diese Paarung einige denkwürdige Auflagen aus seiner Geschichte bereit: Dazu gehört etwa eine Partie vor fast genau 24 Jahren – im Halbfinale des Pokals, als Ajax dem späteren Meister eine krachende Niederlage zufügte. Es ist bis heute – zusammen mit drei anderen Partien – die höchste Heimpleite in dieser Derbygeschichte. Zudem hat seitdem auch kein Spieler des Auswärts-Teams mehr einen Hattrick in diesem Duell erzielt – damals der junge Edgar Davids mit einem starken Auftritt. Der zweite große Star des Abends war Dennis Bergkamp, der – nicht nur als Schütze der beiden anderen Tore – in seinem letzten „Klassieker“ noch einmal Glanzpunkte setzte.

Beide Mannschaften praktizierten eine Form des damals typischen niederländischen Systems (ob „Ajax-System“, „Cruijff-System“ o.ä. bezeichnet), einer Mischung aus 3-3-1-3 und 4-3-3, die durch die jeweiligen Bewegungen des „Switch-Innenverteidigers“ ausgestaltet wurde. Kleine Präferenz-Unterschiede gab es in der genauen Umsetzung: Während Ajax bei eigenem Ballbesitz diesmal überraschend häufig aus einer sauberen Viererkette eröffnete und Switch-Spieler Seedorf im defensiven Moment höher ins Mittelfeld schob, agierte Feyenoord Kapitän Metgod in den Aufbauszenen aufgerückt und zog sich für die defensive Verteidigungsphase zurück. In diesen Momenten übernahm der knapp vor der Abwehrreihe positionierte defensivste Mittelfeldmann Bergkamp, während sich die zwei Achter davor an Vink und Davids orientierten.

Auffällig war aber die generelle Überlegenheit Ajax´ in der Ausführung dieser theoretischen Systematik: Sie hatten die etwas schärferen und klareren Bewegungsmuster, zeigten sich gerade auf gruppentaktischer Ebene deutlich abgestimmter als die eher unfokussierte Spielweise des Gegners und die Einzelspieler agierten antizipativer in den Raum hinein. Der lange Ball, quasi zwischen die gegnerischen Reihen (eigentlich also in den Zwischenraum, de facto aber eher auf einzelne Freilaufbewegungen aus Mannorientierungen, weil umgekehrt auch fast überall so verteidigt wurde) gelupft, war damals in der niederländischen Liga – unterschwellig teilweise immer noch – von zentraler Bedeutung für die Spieleröffnung. Häufig erfolgte der Weg ins zweite Drittel also über die Ablage der Offensivkräfte.

Das Ajax jener Jahre war auch dank seiner Einzelspieler sehr stark darin, diesen Mechanismus mit gegenläufigen Bewegungsmustern zu füllen: Nach der Einbindung eines zurückfallenden Spielers sollte über den sogenannten „Wechselpass“ der dritte Mann eingebunden werden – per Verlagerung beispielsweise oder auch, wie hier wichtig, auf einen Tiefenlauf. Für Letzteres sorgte in dieser Partie im März 1993 vor allem Davids mit überraschenden Sprints nach vorne, aber auch Bergkamp. Insbesondere die beiden ersten wegweisenden Tore – einmal im Anschluss an einen verzögerten Umschaltmoment, einmal klarer aus einer Aufbauumgebung – illustrierten das Thema sehr gut:

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Im Verlauf des Konters hatte Bergkamp sich seitlich für einen langen Ball angeboten und dann um den Gegenspieler herum gedreht. Den Pass auf Mittelstürmer Pettersson ergänzt Davids mit einem starken Lauf zwischen den beiden zentralen Defensivspielern durch. Kapitän Metgod lässt hier den Abstand etwas zu groß und kann ihn dann nicht mehr schließen. So wird Davids´ Lauf aus dem Rücken des Mittelfelds und zwischen den Abwehrakteuren hindurch – als Spiel über den „dritten Mann“ – in diesem Kontext enorm wirkmächtig.

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Die Ausgangssituation vor dem 0:2: Hier geht der lange Ball nicht – wie sonst häufig angewandt – seitlich für eine absetzende Bewegung (grauer Pfeil), sondern zentraler. Bergkamp muss mit dem Kopf auf Pettersson verlängern, der sich geschickt bewegt. Bei Feyenoord zeigt sich jeweils mannorientiertes Verfolgen.

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In Weiterentwicklung der Szene kommt es wenige Sekunden später hierzu: Pettersson hat den Ball diagonal nach hinten mitgenommen, wogegen auch der nun ballnahe Zentrumsverteidiger auf ihn herausschiebt. Ronald de Boer hatte bereits vorher die Szene antizipiert (siehe vorige Grafik), war – mit aktiverer Orientierung im Raum – etwas eingerückt und kann nun den Ball von Pettersson übernehmen, der diesen quasi no-look-haft liegen lässt. Zu Recht hat van Gaal vom schwedischen Angreifer stets wegen seiner fußballerischen Klugheit und seines guten Movements geschwärmt. Da sich beide Defensivleute auf ihn konzentrieren, kann Pettersson nun das Verteidigungszentrum öffnen, wo wiederum Bergkamp aus der Tiefe hineinstößt. Die mannorientierte Grundlogik verhindert hier ein entscheidendes und effektives Absichern aus den seitlichen Bereichen der letzten Linie. Das Schema gilt hier sehr plakativ: Kurze Verlängerung (durch Bergkamp), kurze Ablage (durch Pettersson), längerer Wechselpass (durch Ronald de Boer).

Interessant zu beobachten: Tianjin Quanjian

Sich als Innenverteidiger den Weltfußballertitel zu sichern, ist eine seltene Leistung: Fabio Cannavaro wurde diese Ehre zuteil – nicht zu Unrecht, wie MR einmal ausgeführt hat. Einige Jahre nach seinem Karriereende beginnt Cannavaro nun seine Trainerlaufbahn. Seit Mitte vergangenen Jahres betreut er den chinesischen Klub Tianjin Quanjian. Nach dem Aufstieg aus der Zweiten Liga gelang nun zum Start der neuen Erstligasaison 2017 ein solider Auftakt für das Team, das zwar seine beiden brasilianischen Superstars abgeben musste, mit Alexandre Pato und Axel Witsel jedoch wieder zwei neue große Namen verpflichtete. Nachdem die Interpretation der 4-3-3-Formation in der ersten Partie nicht funktionierte und das Spiel an Optionen im Angriffsdrittel mangeln ließ, stellte Cannavaro noch innerhalb der Begegnung auf eine offensivere Mittelfeldausrichtung um, die er seitdem bevorzugt.

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Bewegungsmuster bei eigenem Aufbauspiel beispielhaft anhand der Partie bei Shanghai Shenhua: Halblinks gehören die verschiedenen Farben jeweils für ein mögliches Szenario zusammen

Viel läuft bei Tianjin Quanjian über die beiden quirligen und gruppentaktisch starken Außenverteidiger, die viele Bälle im Aufbau erhalten und Aktionen initiieren. Verstärkt wird das durch Aufrückbewegungen Witsels von der Doppel-Sechs, die nicht selten schon in frühen Phasen stattfinden. Daher sieht sich die Mannschaft zwischendurch aufgrund verringerter Präsenz im Sechserraum auch immer wieder zu längeren Bällen gezwungen, die sie zudem generell etwas zu häufig anwenden – und sich damit noch selbst beschränken. Ausgehend von den beiden Außenverteidigern entwickeln die Mannen aus Tianjin verschiedene konstruktive Abläufe im Übergang nach vorne. Auf der rechten Seite zeigten bisher gerade Geuvânio, Zhang Cheng und Wang Yongpo spielerisch sehr ansehnliche, dynamische und handlungsschnelle Dreiecksbildungen, um sich durch das zweite Drittel zu spielen.

Linksverteidiger Mi Haolun ist ruhig am Ball, nutzt kurze Dribblings oder kleine lockende Auftaktbewegungen und spielt scharfe Pässe in den Halbraum. Sein Vordermann agiert oftmals etwas breiter: Pato ballfordernd für einleitende Aktionen und Dribblings, Zheng Dalun eher raumschaffend. So weicht er beispielsweise aus, um Passwege auf den dann aus dem Sturmzentrum zurückfallenden Pato zu öffnen. Auch Witsel startet viele Rochaden in den Halbraum vor dem Linksverteidiger. Kippt der Belgier einmal selbst ankurbelnd zur Seite heraus, passt sich Cannavaros Team schnell und gut abgestimmt an, indem der jeweilige Linksaußen nun den offensiven Halbraum besetzt und der Angreifer – zumeist für das Erlaufen längerer Zuspiele – auf den Flügel ausweicht.

Allerdings ist das Spiel in seinem Angriffsfortgang dann auch stark auf die seitlichen Zonen festgelegt. Nach den ansehnlichen Momenten und Abläufen im zweiten Drittel folgt der Übergang in die strafraumnahen Bereiche vor allem über diese Kanäle. Entsprechend müssen die entscheidenden Aktionen oft aus breiten Positionen eingeleitet werden. Am Sechzehner besteht schnell wieder die Gefahr, in zu flache Staffelungen abzugleiten und vertikal zu wenige Optionen zu haben. Beispielsweise fährt sich Tianjin Quanjian dann in Pärchenbildungen aus Flügelakteur und in den ballnahen Halbraum zurückfallendem Zentrumsspieler fest, wodurch sie sich zu vergleichsweise vielen Flanken treiben lassen. Das bleibt bisher – neben den langen Bällen – ein Problem für die Mannschaft auf der Suche nach wirklich zuverlässig sauberer Durchschlagskraft.

blick über den tellerrand 44 tianjin quanjianWürde man das vereinfacht so zusammenfassen, dass gerade die mittlere Phase des Aufbau- und Offensivspiels die größte Stärke der Cannavaro-Truppe ist, wäre es bei Fortführung dieser grob gezeichneten Darstellung für die Arbeit gegen den Ball quasi umgekehrt: Die Mannschaft variiert Pressinghöhe und -struktur gut, überzeugt vor allem in höheren und tieferen Phasen. Aus der 4-1-4-1-Grundordnung mit gelegentlichen 4-4-1-1-Ausführugen gibt es verschiedene Heraus- und Nachrückbewegungen, von Wang Yongpo auch schon mal über die Höhe des Mittelstürmers hinaus. Teilweise versucht der Aufsteiger stärker auf die eigene rechte Seite zu leiten, wo der Außenspieler aggressiv auf den Innenverteidiger pressen kann, Wang Yongpo einklappend diagonal dahinter absichert und bei Bedarf Zheng Chang und/oder – der kurios van-Bommel-esque – Zhao Xuri riskant nachschieben.

Im Normalfall fokussieren sie sich aber auf Gleichmäßigkeit und – bis auf die Rolle Wang Yonpos und deren Auswirkungen – Symmetrie in ihrem System. Gewisse Probleme gibt es übergreifend noch mit der Abstimmung und dem Anschluss der Abwehrreihe an den vorderen Block: Bei höheren Nachrückbewegungen aus 4-4-2-Momenten agieren Sturm- und Mittelfeldlinie recht dynamisch und geschlossen, generell stellen sie etwa im Mittelfeldpressing eigentlich harmonische Staffelungen her, aber das funktioniert jeweils noch nicht so gut an die hinteren Kollegen angebunden. Dadurch kommt die solide Flexibilität der Mannschaft nicht mit letzter Effektivität zur Geltung:

Die Grundbewegungen sind sauber, Wang Yongpo pendelt vielseitig, Witsel reagiert auf herauskippende Aktionen des Gegners mit diagonalem Herausrücken, wodurch etwa Shanghai Shenhua über viele Phasen zu längeren Bällen gezwungen werden konnte. Diese höheren Bewegungen der Achter werden von den Flügelspielern dann eigentlich ganz gut, aber auch etwas inkonstant abgesichert. Nach dem Rückzug an den Strafraum agieren die Mannen von Cannavaro dann wieder geschlossener und kohärenter. Gerade die offensiven Außen doppeln sehr diszipliniert und kompakt, zudem schieben Zhao Xuri und Witsel horizontal sehr weiträumig in die Flügelzonen nach.

Spieler der Woche: Die Pogba-Zwillinge

Über Paul Pogba, den neuen französischen Superstar, wurde schon so einiges geschrieben. Verstärkt im Rampenlicht standen zuletzt auch seine beiden ansonsten nicht so bekannten älteren Brüder, die Zwillinge Mathias und Florentin. Für Letztgenannten hieß es kürzlich in der Europa League direktes Pogba-Duell mit Paul, Ersterer macht seit Februar in der Eredivisie von sich reden, wo er als Winterneuzugang für Aufsteiger Sparta Rotterdam in den vergangenen Spielen wertvoll war und mit einigen spektakulären Toren für Aufmerksamkeit sorgte. Die Karrieren der beiden Zwillinge haben bisher eher gegensätzliche Verläufe genommen:

Defensivallrounder Florentin präsentierte sich sehr konstant und ist nun schon seit mehreren Saisons unaufgeregt bei AS Saint-Etienne etabliert. Demgegenüber haftet Mittelstürmer Mathias der Ruf des rastlosen Wandervogels an, der bei seinen verschiedenen Stationen häufig eine umstrittene Figur war. Nach seiner Zeit in den Juniorenteams von Celta Vigo ging es für ihn über mehrere Teams aus der zweiten und dritten englischen Liga zwischenzeitlich kurz in die italienische Serie B und dann zu Partrick Thistle in Schottland, ehe es ihn nun kurz vor Schluss des Wintertransferfensters zu Sparta Rotterdam verschlug.

Grundsätzlich spielt Mathias Pogba in etwa ähnlich, wie man sich seinen berühmteren Bruder als Mittelstürmer erwarten würde – brachial, vereinzelt spektakulär, mit guter Ballsicherung. Er macht längere Zuspiele in vorderster Front recht gut fest und legt sie dann ab. Interessant ist zudem seine prinzipiell gute und geschickte Positionsfindung, die stark durch absetzende Bewegungsmuster geprägt wird. Nicht nur lauert der Angreifer häufig in ballfernen Zonen oder am zweiten Pfosten, er hat vor allem ein sehr gezieltes und bewusstes Timing, wann er sich nach ballnaher Einbindung vom Ball wegbewegen muss, um später gefährlich zu werden – und setzt das dann recht explosiv um.

Im Strafraum verfügt er über eine gute Kopfballtechnik, erzielte fast alle seiner bisherigen Tore für Sparta auch aus der Luft. Teilweise wird Mathias Pogba bei seinen ausweichenden Bewegungen jedoch zu extrem – bisweilen überambitioniert in schwierig einzubindende und/oder isolierte Räume. Überhaupt agiert er bei der Gewichtung seiner Präsenz und der Wahl seiner Dribblings und Pässe in tieferen Bereichen neben einigen gelungenen Momenten und sehr überraschenden, unorthodoxen Entscheidungen oft auch willkürlich.

Gerade in dieser Hinsicht besteht – was vielleicht der eine oder andere mit den angesprochenen Karriereverläufen in Zusammenhang bringen wird – ein großer Unterschied zu Zwillingsbruder Florentin. Der Innen- und Außenverteidiger – anders als die beiden anderen Pogbas übrigens Linksfuß – zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er kaum mal überambitionierte Aktionen wählt, sondern insgesamt solide Entscheidungen trifft. Häufiger sieht man beispielsweise, wie er – gerade seitlich in der Abwehrkette – Freilaufbewegungen noch einmal abbricht und sich kurzfristig wieder nach hinten absetzt. Insgesamt weiß er recht gut, wann er sich zurückhalten muss. Gelegentlich streut er auch mal ein recht konstruktiv angesetztes Diagonaldribbling ein.

Körperlich ist der Abwehrspieler unter den drei Brüdern übrigens nicht ganz so robust und brachial wie die beiden anderen. So wirkt er ebenfalls explosiv, leicht agiler, am Ball aber auch etwas unstetig. Florentin Pogba verteidigt nicht unbedingt so, dass er vor allem direkte Zweikämpfe suchen und seine Physis stark einsetzen würde. Auch in diesen Momenten verhält er sich zunächst eher vorsichtig bis zurückhaltend, will plötzlichen, kurzfristigen und dynamischen Zugriff herstellen, beispielsweise durch einzelne aktive Herausrückbewegungen. Nicht unerwähnt bleiben soll beim Thema Defensivarbeit das – nicht voll ausgeschöpfte – Potential von Mathias Pogba im Pressing. Möglicherweise kann der Stürmer, nachdem Florentin in der Ligue 1 sehr konstant agiert, nun über die Station Sparta Rotterdam seiner sportlichen Laufbahn neuen Schwung verleihen.

Spiel der Woche: Liverpool – Everton 3:1

Langsam aber sicher kommt Jürgen Klopps Liverpool an im neuen Jahr 2017, das bisher kein gutes Pflaster für die „Reds“ war. Ein Sieg im Merseyside-Derby gegen das zuletzt in guter Form befindliche Everton wirkte da wie Balsam. Bei dieser spannungsgeladenen Partie an der Anfield Road herrschte auf dem Feld ein eher unfokussierter und phasenweise fast ruhiger Rhythmus, so dass trotz einzelner Unsauberkeiten beide Teams recht kontrolliert agierten, aber letztlich Dominanz kaum eine tragende Rolle für die Kräfteverhältnisse spielte. So hatte Liverpool beispielsweise viel vom Ball, konnte sich immer mal Freiräume erarbeiten, aber ließ auch einiges an Potential liegen gegen die Mannorientierungen der Gäste.

Diese nahmen für Everton diesmal eine zentrale Rolle ein, nachdem Coach Ronald Koeman zwischenzeitlich – speziell bei seiner vorigen Station Southampton – stärker davon abgewichen war. In einer nominellen 3-4-3/5-2-3(-0)/5-2-1-2-Formation setzte man auf eine Spiegelung der gegnerischen Anordnung: auf manchen Positionen mehr, auf anderen weniger deutlich. Liverpool agierte im Aufbau mit Lucas Leiva zwischen den Innenverteidigern tief und Coutinho im Mittelfeld tief. Die erste Linie Evertons formierte sich in genauer Anpassung an das gegnerische Aufbautrio recht variabel, beschränkte sich aber auf loses Zustellen und schob durch Barkleys Pendelrolle die Kollegen in eher breite Positionen.

Dadurch wurden beispielsweise Lukakus Pressingqualitäten nicht so sehr abgerufen, war der Angreifer entweder ballfern absichernd aufgestellt oder zu kleinräumig für seine verteidigenden Bewegungen positioniert. Einzelne lange Bälle konnten sie über höheres Aufrücken aber provozieren. Dahinter gab die Formation viel Defensivpräsenz, Everton staffelte sich aber vergleichsweise flach. Vor der Fünferkette und dem Mittelfeld entstand zu den weniger angebundenen Angreifern Raum, den Liverpool mal gut nutzte, aber oft genug auch nicht fand. Die Gastgeber versuchten zum Ausspielen dieser Szenen vor allem Coutinho zu betonen, der sich viele Bälle aus dem Halbraum am Übergang zum vorderen Drittel abholte.

Gegen die Mannorientierungen auf den Sechserpositionen bei Everton hielten sich Liverpools Allround-Achter geschickterweise oft etwas passiver, gerade Wijnaldum, der phasenweise fast nur raumöffnende Aufgaben zu erfüllen schien. Einige Male konnte er Gueye wegziehen oder zumindest zusätzlich flach nahe zur Abwehrreihe drücken, so dass Coutinho mehr Raum zum Andribbeln erhielt und sich Everton mit der Zugriffsorganisation schwerer tat. Vor dem 2:1 kamen die Gäste überhaupt nicht damit zurecht, ihn im Bereich zwischen Mittelfeld und Sturmreihe aufzunehmen. Von der anderen Achterposition schaltete sich Can auch mal aggressiver ein, indem er mehrmals mit gegenläufig rochierenden Diagonalläufen verschiedene Abläufe ankurbelte.

blick über den tellerrand 44 liverpool-evertonJedoch band Liverpool vor diesem Hintergrund die Achter phasenweise zu prominent ein, speziell dann in unpassenden Situationen. Bei manchen ausweichenden Bewegungen etwa versuchten sie dann umständlich, die Mittelfeldakteure bei diesen Läufen anzuspielen, was gegen die verschiedenen Mannorientierungen zwar zunächst aufgehen konnte, aber – zumal gegen die flexible Defensivinterpretation – der Flügelläufer Evertons wenig kontrolliert war. Demgegenüber traten noch manche Momente auf, in denen die vorderen Akteure ignoriert wurden: Bei Coutinho war dies in tieferen Zonen der Fall, wo ihn die Kollegen teilweise übersahen. Generell geringe Präsenz hatte Mané, der sich zusammen mit Firmino gut im Zwischenlinienraum positionierte, dort aber nur wenig klare Synergien und gerade bei stärkerem Coutinho-Fokus keine ganz scharfe Einbindung entwickelte.

Stellte der brasilianische Zentrumsspieler einen ablegenden Fokuspunkt für seinen Landsmann dar, hielt sich Mané in solchen Szenen irgendwo im rechten Halbraum, ohne dass dies aber weitgehend ausdefiniert schien. Auch Diagonalsprints wirkten nicht gezielt und explizit vorgesehen. Möglicherweise wollten die „Reds“ etwas passiver in ihren Positionen bleiben, so auch der gegnerischen Defensive die Dynamik nehmen und damit Dribblings vereinfachen. Generell zeigte sich Liverpool auch im letzten Drittel noch etwas unfokussiert: Sie tendierten immer mal dazu, nur noch die zwei, drei ballnächsten Akteure konsequent am Ausspielen zu beteiligen, und rutschten dann gelegentlich in unausgewogene Staffelungen.

So hatten sie Szenen mit den Ballführenden im Halbraum, dann einer kompakten, aber eher flach gestaffelten Offensive weiter vorne in Strafraumnähe und einen zurückgefallenen Angreifer, der aus tiefer, wahlloser, aber potentiell sehr vielversprechender Position nicht aktiv und nicht konsequent einbezogen wurde. Auch in solchen Situationen erfolgten nicht selten ambitionierte, von den „Werkzeugen“ her gute, aber konkret gerade weniger erfolgsversprechende Zuspiele nach vorne. So entstand eine von Inkonstanz und etwas Unklarheit geprägte Anlage mit einigen Glanzmomenten, die kein scharfes Bild abgab. Das wurde durch Evertons mannorientierte Umsetzung verstärkt, in der die Flügelläufer sich immer mal zu den gegnerischen Außenverteidigern orientierten oder so kurz herausrücken und dadurch die Dynamik verzerrend beeinflussten.

Das war auch etwas kurios angesichts der Tatsache, dass eigentlich durch Evertons direkte Mannorientierungen von Gegner zu Gegner sehr klare Zuordnungen auf dem Feld gesetzt wurden – in den Synergien und folgenden Abläufen schlug es sich aber mit etwas anderem, offenerem Effekt nieder. Wesentlich definierter gestaltete sich das „Geschehen“ in die andere Richtung, im Pressing Liverpools gegen Evertons Ballbesitzmomente. Dafür hatten Klopps Mannen mit ihrer 4-3-3-Formation erst einmal gute Voraussetzungen, überhaupt mit dem Block durch die Achter dahinter gegen die gegnerische Doppel-Sechs. Liverpool interpretierte die Defensivarbeit mit starkem Fokus auf zentrale Kompaktheit und einer insgesamt nicht allzu hohen Intensität.

Daraus ergab sich, dass Everton immer mal Freiräume zum Aufrücken über die Flügel fand. Schon nach dem eröffnenden Pass auf Holgate bzw. Baines hatten sie etwas Platz und nutzten diesen – wenn keine Verlagerung erfolgte – mit recht gezielten, aggressiven Abläufen nach vorne. Direkt über den Flügelläufer oder kurz über einen sich nach hinten absetzenden Sechser suchte Everton dann Pässe auf das Offensivtrio, das sich jeweils vergleichsweise eng staffelte und eigentlich gut positionierte. Über den gleichförmigen Rhythmus und die unspezifische Rollenverteilung untereinander konnten sie aus diesen Engenbildungen aber kaum Effekt ableiten. Die gruppentaktisch recht anpassungsfähigen „Reds“ achteten auch darauf, gerade Lukaku durch Lucas Leiva beidseitig zu doppeln, so dass sich schnell Zugriff auf zurückspringende Abpraller herstellen ließ.

Mehr Dynamik entwickelte sich bei Everton durch das Spiel den Flügel entlang. Wenn sie über Verlagerungen und/oder die Rückzirkulation etwas längere Ballpassagen aufzogen, war das vielversprechend: Liverpool bekam die Schnittstellen zwischen Flügelstürmern und Achtern nicht so richtig dicht, da Erstere auch auf situative Pressingbewegungen gegen die Halbverteidiger lauerten und sich das Mittelfeldtrio eher etwas enger gegen die Offensive der „Toffees“ orientierte. Aus den Lücken war es für die Gäste dann möglich, die Bälle schnell auf die aufrückenden Flügelläufer weiterzuleiten. Von diesen Positionen aus gelangten sie gerade im mittigen Teil der ersten Halbzeit eigentlich schnell und einfach zu Aufrückmomenten in die Angriffszonen.

Durch das wiederum hektische Ausspielen dauerten die Szenen aber kaum länger an, so dass sich trotzdem keine nachhaltige Offensivpräsenz herausbildete – zumindest genug für ein Eckentor zum zwischenzeitlichen 1:1. Zumal hielt Liverpool grundsätzlich den Stabilitätsfokus gut aufrecht und hatte im Verschieben immer mal gute Momente, gerade über die Rollenverteilung im Mittelfeld, wo sich abwechselnd ein Spieler auf weiträumigere Horizontalbewegungen zur Seite zu fokussieren schien. Dass die Hausherren im Pressing aggressiver wurden und dies über weiteres ballnahes Herausschieben der Außenverteidiger gegen die Flügelläufer konstant umsetzten, geschah erst im weiteren Verlauf. Über Milner, der horizontale Dribblingversuche nach innen in seiner inversen Aufstellung gut aufnehmen konnte, brachte das letztlich sogar die Einleitung zum vorentscheidenden 3:1.

Schorsch 10. April 2017 um 19:34

Ich bedanke mich ausdrücklich bei TR für die exzellente „Klassieker“-Analyse des Pokal-Halbfinalspiels von 1993 und zolle ihm meinen Respekt für diese detaillierte Arbeit!

Erst gestern abend habe ich sie entdeckt, mit umso mehr Interesse, aber auch mit ein wenig Wehmut habe ich sie gelesen. Wo sind all die taktischen Varianten des niederländischen Fußballs hin? Warum gibt es keine Spieler wie Davids, Bergkamp, Seedorf, Overmars oder die de Boers mehr? Tempi passati… 🙁

Im deutschen ‚Klassiker‘ (wenn diese Bezeichnung denn stimmig sein sollte und man sie benutzen möchte) am letzten Samstag gab es jedenfalls einen Niederländer von Weltklasseformat zu bewundern. Der hat aber auch schon sein Alter…

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