Türchen 20: Niederlande – Italien 2000
In einem modernen Match fuhren die Niederländer einen rationalen Sturmlauf auf das 5-3-2 und später 4-4-1 der Italiener. Oranje fand auch seine Möglichkeiten in diesem Gefecht, verpasste sie aber alle.
Rationales Topspiel endet als Nerven-Drama
29.06.2000, EM-Halbfinale
Bei der EM 2000, die hinsichtlich der fußballerischen Gesamtqualität einen guten Ruf genießt, trafen sich der niederländische Co-Gastgeber und der Defensivspezialist Italien zum Halbfinale. Oranje ging – insbesondere nach dem furiosen 6:1 gegen Jugoslawien im Viertelfinale – mit großen Hoffnungen in dieses wichtige Spiel, sollte aber wieder einmal scheitern – diesmal noch tragischer als sonst.
Das zentrale Thema
Die Hauptfrage des Spiels wurde die, die man erwartet hätte: Würde es den Niederländern gut genug gelingen, in die gegnerische Defensivformation einzudringen. Italiens Trainer Dino Zoff ließ einen massierten Zentrumsblock in 5-3-2-Ordnung aufbauen, der im Verschieben nach außen schon recht modern daherkam. Gegen tiefe Zuspiele zum Flügel rückte der jeweils ballnahe Achter heraus, gegen die niederländischen Außenstürmer lösten sich entsprechend Zambrotta bzw. Maldini aus der Abwehrreihe. Vereinzelt wurde die Formation durch del Pieros Zurückfallen auf links zum 5-4-1 ergänzt.
Potentielle Schlüsselspieler zur Beantwortung jener Frage waren die beiden Außenverteidiger – die gegen das 5-3-2 nominell freien Kräfte. Es ging um die diagonalen Wege in zentrale Bereiche. Mit Bosvelt und van Bronckhorst gab es dort eine solide, defensivstarke Besetzung – beide Akteure sollten mit der Zeit aber in diese Aufgabe hinein wachsen. Erstgenannter etwa glänzte im Passspiel, mit Entscheidungsfindung und punktuell Ideenreichtum. Links ergaben sich durch das tiefere Zurückfallen Zendens gelegentlich zusätzliche Möglichkeiten – und sei es nur, dass die italienische Abwehrreihe zu mehr Aktivität gedrängt wurde.
Auf dieser Seite wirkten die Azzuri etwas instabiler, da die generell zu konstatierenden, kleineren Nachlässigkeiten des Mittelfelds im horizontalen Nachschieben hier häufiger mal auftraten. Zumal gab es keine optionale Zusatzpräsenz, wie sie durch del Pieros Zurückfallen auf der anderen Außenbahn entstehen konnte. So waren zu Beginn einige diagonale Zuspiele möglich, für die sich Kluivert fokussiert – oft leicht zurückfallend – im ballnahen Halbraum anbot. Demgegenüber endeten die Versuche über den anderen Flügel zunächst eher in Einzelaktionen, zumal Bosvelt kaum unterstützend nachrückte. So lief sich Overmars bei Dribblingversuchen gegen Maldini und Co. mehrmals isoliert fest.
Auch Rijkaard wählt das 4-4-2
Kurioserweise vertraute der junge Bondscoach Frank Rijkaard in vielen Facetten der Ausrichtung und besonders auch beim Personal auf das, was sich schon unter Vorgänger Guus Hiddink im Verlaufe der WM 1998 herausgebildet hatte. Gerade die zentralen Korsettstangen – von van der Sar, über Kapitän Frank de Boer bis nach ganz vorne – sorgten im 4-4-2/4-4-1-1 (gegen die Sacchi-Orientierung half auch Louis nicht) für Kontinuität. Änderungen gab es eher auf den Flügeln: Rechts wurde einfach das Pärchen ausgetauscht, als Linksverteidiger kam van Bronckhorst neu ins Team. Dies hing mit der gewichtigsten Veränderung zusammen: Allrounder Cocu wechselte anstelle von Jonk auf die Doppel-Sechs.
So komplett und mächtig dort das neue Duo aus Davids und Cocu auch zu sein versprach, in den ersten Aufbauphasen kamen die niederländischen Sechser kaum ins Spiel. Weiterhin fehlte es, wenngleich sich bei den Übergängen nach vorne Fortschritte entwickelt hatten, an einer scharfen Rollenverteilung. Das erschwerte die Einflussnahme auf den Aufbau und die strukturierte Reaktion auf unangenehmes Zustellen seitens der Italiener: Versuchten sich die Sechser zwischen den Stürmern des 5-3-2 einzubinden, rückte häufig sogar di Biagio heraus – und damit musste die Einbindung von Davids oder Cocu dann vorerst wieder beendet werden.
Aufgrund der 5-3-2-Struktur Italiens ging die niederländische Ballverteilung ohnehin im Normalfall nach außen, gelegentlich wurden bessere Positionen der Sechser aber auch übersehen. Wenn sie über den Umweg eines Querpasses der Außenverteidiger zwischen gegnerischer Mittelfeld- und Sturmlinie gefunden werden konnten, war es gegen den verbleibenden Dreierblock schwierig, sich harmonisch aus einer horizontalen Linie heraus zu lösen, so dass oft einfach nur die Zirkulation weitergeführt wurde. Auch im weiteren Verlauf unterstützten sie nur in Ausnahmen die vordere Präsenz.
Stärken und Schwächen des italienischen Mittelfelds
Angeführt von Routinier Albertini konnte das Mittelfeld der italienischen Mannschaft wichtige Qualitäten auf sich vereinen. Neben solider Balance beim vertikalen Herausrücken zeigte das Mittelfeldtrio zwischendurch immer mal eindrucksvolle Staffelungen, etwa mit Lokalkompaktheiten. Wenn Bergkamp sich ausweichender im äußeren rechten Halbraum für Vorwärtspässe anbot, schoben sie kompakt und sauber hinüber, so dass der Niederländer die ballsichernde Drehung nach innen wählen musste. Daraus sprach auch eine grundsätzlich gut ausgeprägte Anpassungsfähigkeit.
Strukturell ergaben sich jedoch auch Schwächen, vor allem an zwei Stellen: Die eine betraf, wie erwähnt, das konstante Absichern der Achter beim Verschieben nach außen. Daran schlossen sich die beiden Kollegen nicht immer ganz konsequent an. Die zweite hing – stärker strategischer Natur – mit Antizipations- und Risikobereitschaft zusammen, wenngleich hinsichtlich der Orientierung jene individuell durchsetzten Muster ebenso hineinspielten. Am konkreten Beispiel lässt sich das gut reduzieren und auf einfache, eindrückliche Weise festmachen:
Beim Verschieben auf den ballführenden Außenverteidiger rückten die beiden ballferneren Akteure – hauptsächlich di Biagio – bei kurzen Rückzugsbewegungen der niederländischen Sechser, die dann bloß auf Ballhöhe oder gar dahinter waren, manchmal ebenfalls leicht hinterher. Der Gedanke dahinter war aggressivere Zugriffsmöglichkeit bei Querpässen, das hätte bei manchen Szenen aber nicht funktioniert und schwächte letztlich die Absicherung. Hier ließen sich die Italiener gewissermaßen von den untereinander eher undifferenzierten, teils tiefen Sechsern der Niederländer also locken.
Von rechts auf Bergkamp in den Zwischenlinienraum
Die diagonale Staffelung hinter dem herausrückenden Achterkollegen wurde zu flach, der Zwischenlinienraum entsprechend vergrößert. Diese Öffnung bot Passmöglichkeiten für den ballführenden Außenverteidiger. Weil Cocu sich häufiger in jener ballnahen Position neben Bosvelt aufhielt als Davids links, geschah das eher auf rechts. Naheliegende Anspielstation für die Pässe war Bergkamp, der sich zwischen Abwehr und Mittelfeld anbot. Letzteres rückte dann wieder nach hinten und kam so für gewöhnlich in Überzahl, ohne dass aber schon ein durchgehend modernes Zugriffsverhalten bei dieser Rückzugsbewegung geherrscht hätte.
Gelegentlich konnte sich Bergkamp also aus scheinbarer Isolation gefährlich durchsetzen. Rückte etwa Iuliano als ballnaher Halbverteidiger heraus, hörte di Biagio vereinzelt einfach mit der Verteidigung auf – schließlich kümmerte sich bereits ein Mitspieler um die Situation. Dabei war er selbst wieder sehr nahe an Bergkamp dran und hätte ohne großen Aufwand zumindest den Zugriffsversuch starten können. So aber boten sich im Zuge dieser geringen Intensität kleinere Lücken zwischen den vielen Gegnern, durch die sich der Niederländer mit der richtigen Orientierung einfach „hindurch schieben“ konnte, zumal Iulianos individuelle Endverteidigung nicht an Cannavaro, Nesta und Maldini herankam.
Auf diese Weise entstand die beste Torchance des ersten Durchgangs, als sich Bergkamp quasi alleine und nur über Ballführung aus dem halbrechten Zwischenraum einen freien Abschluss im Sechzehner erarbeitete – einen Pfostentreffer. Das konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei Zuspielen von außen auf Bergkamp wie auf Kluivert die Folgeeinbindung keineswegs optimal, sondern eine sehr ambivalente Angelegenheit war. Gerade halbrechts wurde deutlich, dass es an Unterstützung aus den tieferen Zonen mangelte – so blieb Bergkamp oft tatsächlich nur die Einzelaktion oder die Ballsicherung zum Flügel(spieler) übrig.
Anschlussaktionen zwischen Präsenzproblemen und Abläufen
Für die Sechser schien es keine so richtig klaren Zuständigkeiten für helfendes Nachrücken in diesen Konstellationen zu geben – eine Folge ihrer etwas zu gleichmäßigen Einteilung. Gut war, wie sich auf halbrechts Kluivert gelegentlich mit einband, indem er horizontal weit hinüber schob. Das ging zumeist einher mit klaren Abläufen und Mechanismen: Bergkamp wich diagonal auf den Flügel, öffnete so Raum für den Diagonalpass auf Kluivert und ermöglichte gleichzeitig Overmars ein horizontales Einrücken, welcher wiederum dann die Ablage des Mittelstürmers erhalten konnte. Daran ließen sich oft aber nur neue Verlagerungen anschließen.
Aufs Ganze gesehen blieb die Einbindung der beiden Flügelstürmer – trotz einzelner solcher Muster – eher simpel und linear. Das wurde auf links mit der Zeit variantenreicher genutzt als gegenüber und erweiterte bei Pässen in den Block auf Kluivert die Anschlussoptionen. Eine Möglichkeit bestand für den Neuner ohnehin darin, den Ball kurz auf Bergkamp zurück ins Zentrum tropfen zu lassen. Dieser versuchte anspruchsvolle Diagonalpässe nach halbrechts hinter die Abwehr. Nicht nur Overmars startete dort in die Tiefe, auch Cocu sorgte ein oder zwei Mal für aggressive Zwischenläufe durch den Halbraumkanal, die in der Anfangsphase einmal fast einen Durchbruch gebracht hätten.
Daneben entfaltete sich bei Rijkaards Team eine interessante Struktur zwischen Zenden, van Bronckhorst und punktuell Davids. Auf die breite und potentiell tiefe Position des Flügelstürmers antwortete der Linksverteidiger zunehmend mit diagonalen, quasi vorderlaufenden Bewegungen. Sein Passspiel auf Kluivert wurde ambitionierter und in der Entscheidungsfindung besser, zudem ging er den Zuspielen anschließend öfter nach, um sich wieder für eine Ablage anzubieten. Aus diesen engen Halbraumvorstößen erwuchsen einige gruppentaktische Ansätze, die Davids vereinzelt ergänzte. In der Gesamtbetrachtung reichte das aber nur selten, um schließlich die starke Abwehrlinie der Italiener zu schlagen.
Italien spielt lange Bälle und bleibt ungefährlich
Das italienische Offensivbemühen war von einem sehr vertikalen Ansatz geprägt. Wenn sie aus dem zweiten Drittel heraus das Zusammenspiel starteten, ging der erste Pass fast immer auf einen der Stürmer. Diese sollten dynamisch ins Mittelfeld ablegen, von wo aus erneut das frühzeitige Zuspiel in die Spitze – zumeist schon direkt hinter die Abwehr – gesucht wurde. Dieses Muster funktionierte bei den seltenen Umschaltaktionen deutlich besser als nach „ausgewogenen“ Ballwechselphasen im Mittelfeld. Aus der Defensivformation heraus hatten die Angreifer noch eine tiefere Grundposition, so dass die vertikalen Abstände kleiner und dieses Linienspiel daher etwas erfolgsstabiler war.
Eigentlich ergaben sich diese italienischen Versuche nur auf halbrechts, wo del Piero sich mehrmals mit aggressiven Diagonalbewegungen zusätzlich anbot. Außerdem passte das besser zur Verteilung der beiden Achter: Albertini konnte sich hier tiefer auf das Passspiel fokussieren, Fiore durfte für vertikale Vorstöße im ballfernen Halbraum sorgen. Das Ausspielen gestaltete sich jedoch oft hektisch. Als die Italiener später in Unterzahl waren, sollte dieses taktische Muster im Übrigen ihre Vorlage bleiben: Eine 3-2-Stuktur vor der Abwehr, mit del Piero und Inzaghi halbrechts, dahinter der unterschiedlichen Rollenverteilung für Albertini und Fiore, insgesamt auf Rechtsüberladungen ausgerichtet.
Um überhaupt erst einmal in jene Mittelfeldzonen zu kommen, wo sich die Abläufe einsetzen ließen, nutzten die Italiener fast nur lange Bälle. Ein kontrolliertes, ballbesitz-affines Aufbauspiel über die Abwehr in die zweite Linie hinein gab es kaum. Gelegentlich landeten Abpraller nach den langen Schlägen in den eigenen Reihen, so dass die angesprochenen Abläufe gestartet wurden. Quantitativ geschah das aber selten, denn wirklich hochwertiger Art waren die Eroberungen zweiter Bälle nicht. Dass die Italiener nicht zu konstanterer „Offensiv“-Kontrolle im zweiten Drittel kamen, lag auch an der Spielweise der Niederländer gegen den Ball.
Hier hatte sich Rijkaard für eine abwartende Interpretation der Mannorientierungen entschieden – eine passende Wahl. So machten Zenden und Overmars nur selten Druck auf die Halbverteidiger. Vielmehr zogen sie sich in enger Staffelung an den Block zurück. Bei Bedarf hatten sie kurze Wege, um von hinten gegen die Flügelverteidiger zu helfen, deren Deckung zu übernehmen oder Passwege dorthin zu versperren. Ansonsten verdichteten sie die Mitte. Gegen die auf Stabilität bedachten Italiener und deren Vermeidung zu aggressiver Vorrückbewegungen machte das Sinn. Umgekehrt strahlten diese zwar gar keine Gefahr aus, konnten ihren Gesamtansatz aber über jene Stabilität begründen: Schon die vielen langen Bälle im Aufbau ließen sie vor tiefen Ballverlusten gefeit sein.
Im Grunde genommen waren fast alle längeren Ballbesitzmomente, die die Azzuri im vorderen Drittel hatten, Produkte entweder von Direktangriffen (meist im Umschalten über die Methodik halbrechts oder nach Ballgewinnen Maldinis mit anschließendem Flügellauf und Verlagerung) oder von durchgerutschten langen Bällen, die irgendwie geklärt oder ins Aus verlängert worden waren. Sie begannen daher eigentlich stets mit Einwürfen, teils mit Freistößen. Dabei wusste das italienische Angriffsspiel nicht wirklich zu überzeugen: Stürmer und Flügelverteidiger bewegten sich oft sehr hoch, das Mittelfeld agierte – bis auf vereinzelte Bewegungen Albertinis nach rechts – wenig unterstützend.
Unterzahl Italien: Umstellung auf 4-4-1
Auch wenn die niederländischen Flügelstürmer eher simpel eingebunden waren: Mit guter Dribblignutzung setzten sie ihre direkten Gegenspieler unter Druck. Zenden konnte gegen Zambrotta einige Fouls ziehen und sorgte so – passenderweise aus der Halbraumposition im Defensivmoment heraus – für dessen Gelb-Rote Karte nach etwas mehr als einer halben Stunde. Daraufhin stellte Zoff – für ein, zwei Minuten hatte es noch nach einem 4-3-2 ausgesehen – auf 4-4-1 um: del Piero füllte den Flügel rechts und interpretierte das mit beeindruckender, dauerhaft disziplinierter Workrate häufig tief, Cannavaro verteidigte hinter ihm.
Für die Niederländer wurden die Mannorientierungen der Außenverteidiger in der neuen italienischen Viererkette nun zum vielleicht wichtigsten Angriffspunkt: Overmars rückte gelegentlich kurz ein, um dann wieder nach außen zu starten und so die Schnittstellen für längere Zuspiele auf Kluivert oder Bergkamp zu öffnen. Halblinks intensivierte Davids seine diagonalen Läufe nach außen, die gegen die verringerte Absicherung beim seitlichen Herausrücken aus der letzten Linie an Wirkung zunahmen. Umgekehrt gab die personell verstärkte Mittelfeldreihe den Italienern nun sogar etwas mehr Möglichkeiten für das Handling von Vorwärtsbewegungen, insbesondere jener di Biagios.
Das – teilweise weite – Herausrücken des ballnahen Sechsers geschah unter guter Dreiecksbildung der beiden anliegenden Kollegen. Da die Niederländer gruppentaktisch sehenswert dagegenhielten, entstanden einige eindrucksvolle Duell-Szenen. Oranje fokussierte sich in dieser Konstellation auf raumöffnende Aktionen in der Zirkulation: Mit Wechselpässen sollte die numerische Überzahl ausgespielt werden. Dafür zeigten die Sechser einige dynamische Ablagen füreinander, während Bergkamp häufiger und tiefer zurückfiel. Das italienische Mittelfeld war so beim engen Zusammenziehen stärker gefordert und musste auf den Flügeln etwas kürzer treten.
Wechselhafte Entwicklungen nach der Pause
Zur zweiten Halbzeit schienen die zentralen Mittelfeldakteure bei Oranje spezifischer bestimmte Bewegungsmuster zu verfolgen. Vor allem Cocu zeigte bei Aufbauaktionen über Frank de Boer nun regelmäßig diagonale Rückstöße im ballfernen Halbraum, durch die er sich dann sauber vor der Mittelfeldreihe in Position bringen konnte. Zudem schien Bergkamp konstanter die Schnittstellen zwischen italienischem Sechser und Außenspieler zu suchen, um gruppentaktische Aktionen zu initiieren oder über Ballsicherungen das mannschaftliche Aufrücken zu organisieren.
Da die Azzuri in ihrer Orientierung – möglicherweise psychologisch durch die so geringen Ballbesitzzeiten bedingt – zwischenzeitlich stärker auf die einzelnen Gegenspieler abzielten, schlichen sich gewisse Unsauberkeiten in die Defensivarbeit ein. Solche Balanceprobleme hätten den Niederländern nun Möglichkeiten geboten. Jedoch wurden andererseits diese selbst hektischer und teilweise übervertikal im Vorwärtsspiel aus der eigenen Grunddominanz. Von hinten heraus gab es nun häufiger längere Zuspiele in die Spitze, nicht nur auf Bergkamp und Kluivert. Gerade die Flügelstürmer boten sich mit frühzeitigen Vorstößen an der Linie entlang in die Tiefe an.
Die Hektik war auch schädlich für die Zwischenraumaktionen, die weiterhin immer mal auftraten, wobei die Niederländer gerade Mitte des zweiten Durchgangs auch wieder eine deutlich ruhigere Phasen hatten. Temporär wurden dann die Bereiche zwischen gegnerischer Abwehr und Mittelfeld also wieder besser besetzt: Die Flügelstürmer und van Bronckhorst rückten mehr ein. Abwechselnd arbeiteten die Sechser vertikaler nach vorne, Cocu mit spontanem und teils wildem Nachpressen, Davids mit weiten Aufrückbewegungen halblinks fast bis in die letzte Linie. Dorthin leitete ihm teilweise der zurückfallende Kluivert die Bälle aus Zwischenräumen weiter, die nun mit scharfen Direktpässen gefüttert wurden. Ein solcher Angriff über Davids brachte einen Strafstoß, der aber – wie schon einer in Halbzeit eins – vergeben wurde.
Auf italienischer Seite zeigte sich die Pressingarbeit über die weitere Spielzeit wechselhaft. Gerade gegen diagonales Eindringen von außen hinter das Mittelfeld verloren sie an Intensität. Andererseits waren aber – speziell im Verteidigen vertikaler Passoptionen – auch immer wieder einzelne enge Horizontalstaffelungen oder gute Abfangbewegungen dabei. Gerade Albertini schloss mehrmals noch im richtigen Moment Passwege auf dynamische Weise. Selbst wenn den Niederländern das Bespielen des Zwischenlinienraums gelang, blieb weiter die Abwehrkette ein Hindernis. Mit dem Verzögern der italienischen Verteidiger kam Oranje letztlich nie abschließend zurecht.
Wie eine Verlängerung sein sollte
Viel veränderte sich – gerade taktisch – in der Verlängerung nicht. Bei den Niederländern wechselten die Flügelstürmer die Seiten, während der für Bergkamp eingewechselte Seedorf mit aufgedrehtem Herumrochieren einzelne Überraschungsmomente erzeugte. Normalerweise sind solche Feststellungen eher ein Beleg dafür, dass die Extra-Zeit wenig Fruchtbares mehr abwarf und nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Das galt hier nicht: Dass sich nicht so viel veränderte, war vielmehr gerade das Beeindruckende. Denn auch wenn taktische Anpassungen weitgehend ausblieben: Das Gesamtniveau und auch die Intensität hielten sich gleichförmig, der Zuschauer wurde weiter elektrisiert.
Das lag vor allem an den Niederländern: Sie ließen den Ball durchgehend konstruktiv laufen, hielten aus einer sehr kontrollierten Anlage den Druck konstant hoch und spielten das alles handwerklich sehr gut, wenngleich ohne die letzte Kreativität. Neben Bällen in die Breite erhielten auch kombinationsorientierte Anspiele gegen den 4-4-Block ins Zentrum hinein ausreichend Beachtung, immer wieder gab es gute Momente im Dribbling und im Mittelfeldspiel. Vor allem Davids riss nun die Partie an sich und drehte endgültig auf. Ebenso wie Stam und Kluivert brachte er einige starke Pässe in die Schnittstellen der vorderen italienischen Defensivlinie.
Regelmäßig drängte Rijkaards Team den Gegner dann auch so weit zurück und schob den Block so stark umher, dass sich irgendwann ordentliche Schusspositionen ergaben, zumal noch ganz gute Chancen nach kleinen gruppentaktischen Aktionen hinzukamen. In der Gesamtbetrachtung wären also – zumal zwei verschossener Elfmeter – genügend Möglichkeiten für den Sieg vorhanden gewesen. Italien versuchte über lange Bälle zu kontern, was in der Verlängerung zumindest noch eine gefährliche Szene brachte. Ihre Hoffnung richtete sich mittlerweile schon länger auf das Elfmeterschießen – und sie sollte letztlich aufgehen. Am Ende war es ein Elfmeter-Trauma in Oranje.
Schlusswort
Abschließend kann man – auch wenn etwa Rollenverteilung und offensives Ausspielen bei den Niederländern, Ballbesitzmomente bei den Italienern kritisch betrachtet wurden – doch eine sehr positive Würdigung dieses Halbfinals aussprechen. Vor allem war es eine schon sehr systematische, insgesamt recht logisch geführte Partie, was sich beispielhaft auch an den oftmals rationalen Passentscheidungen zeigte. Darüber hinaus lag die Betonung zu diesem Zeitpunkt bereits überdurchschnittlich stark auf dem mannschaftlichen Aspekt und einer kollektiven Funktionsweise, auch wenn die Ausführung etwa in Sachen Kompaktheit in letzter Instanz natürlich noch zu wünschen übrig ließ. Es ist als Kompliment für das Spiel zu sehen, dass man es prinzipiell mit heutigen Maßstäben betrachten kann und dass es wohl auch als eine Partie der frühen 2010er-Jahre durchgehen würde.
2 Kommentare Alle anzeigen
Izi 20. Dezember 2016 um 15:07
Ein schöner Artikel zu einem packenden Spiel! 🙂
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich fassungslos vor dem Fernseher saß und nicht begreifen konnte, wie die Niederländer dieses Spiel noch verlieren konnten… Ein Gefühl, dass ich seitdem nur noch beim „Drama dahoam“ hatte…
Damals schien dies nach dem weniger eindrucksvollen Spiel Frankreichs (diese Rezeption habe ich kedenfalls im Hinterkopf) im Nachhinein wie ein vorgezogenes Finale.
Schorsch 21. Dezember 2016 um 00:11
Ein österreichischer Kollege von mir pflegte bei solchen Spielen immer zu sagen: ‚Netzen musst schon‘. Womit er nicht ganz so Unrecht hatte. Elfmeterschießen ist dann halt wieder Elfmeterschießen… 😉
Im Finale waren die Italiener dann ‚unlucky‘. Hätte ich auch nicht gedacht, dass dieses italienische Team so kurz vor Schluss noch den Ausgleich kassiert. Das war der entscheidende ‚Wirkungstreffer‘, wie man im Boxsport sagen würde.
Danke an TR für die Auswahl dieses Spiels und die sehr gute Analyse!