Mexiko bei der Copa – Ein Lehrstück über das Scheitern

Vergesst die EM! Bei der Copa América Centenario tobt das Leben. Hier verlieren Teams, von denen man sich viel erwartet, 7:0 gegen Chile. Und das obwohl Jorge Sampaoli dort nicht einmal mehr Trainer ist. Das bedarf einer längeren Auseinandersetzung.

Manchmal muss man beim analytischen Schreiben nicht nur ein wenig pathetisch, sondern gleichfalls persönlich werden, um begreifbar zu machen, was gewisse Sachverhalte zu bedeuten. Oder wie Thomas Tuchel es nach dem verlorenen Pokalfinale treffend formulierte: „Ich fühle das gerade sehr inhaltlich“. Nach ein paar gesehenen Gruppenspielen erkor ich Mexiko sogleich zu einem der Turnierfavoriten, legte erste positive Überschriften zurecht, die wie üblich mit zweifelhaften Wortspielen verziert waren. Zu interessant schien das Team und seine gesamte Konstruktion. Das Maß an Fragilität konnte man da nur erahnen. Ebenso wie mögliche Gedankengänge des Trainers, an welchen taktisch-strategischen Stellschrauben es zu drehen gilt.
Jenes Mexiko also, das unter ihm von 10 Partien 9 gewann und erst beim letzten Gruppenspiel gegen Venezuela mit einem Unentschieden vorlieb nehmen musste, sollte Juan Carlos Osorio am Abend des 18. Juni zu folgenden Worten zwingen: „Ich möchte beim mexikanischen Volk um Vergebung bitten (…) Ich habe in allen Belangen Fehler gemacht“.

Der Beginn des Turniers...

Der Beginn des Turniers…

Die eingesetzten Spieler

Dabei verfügt El Tri fast schon traditionell über einen interessanten Kader, in dem sich gleichfalls der ein oder andere Routinier wiederfindet wie vielversprechende junge Akteure. Spieler aus der heimischen Liga MX, die Fußball-Philosoph und Sampaoli-Kompagnon Juanma Lillo jüngst in seiner schelmischen Art gar als die beste der Welt bezeichnete, mischen sich mit Akteuren bekannter europäischer Vereine.

Auf der Torwartposition bieten sich drei solide, wenngleich keineswegs herausragende Optionen, die in der Gruppenphase allesamt je einen Einsatz erhielten. Möglicherweise ein Indiz für die unkonventionelle Denkweise Osorios oder schlichtweg das Eingeständnis, dass jeder aufgrund der Ausgeglichenheit eine Chance verdient hat.
Der bekannteste jenes Trios dürfte, insbesondere dank hervorragender Auftritte bei der WM 2014, der mittlerweile fast 31-Jährige, wenngleich ewig jung wirkende, Guillermo Ochoa sein. Er besticht vor allem durch eine besondere Art der Geschmeidigkeit auf der Linie und zeigt teils sensationelle Reflexe. Seine Schwäche liegt, wie mit mehr oder weniger großen Abstrichen bei allen dreien, im aktiven Mitspielen. Diese fußballerischen Fähigkeiten dürften beim ältesten im Bunde, der auf den wohlklingenden Namen José de Jesús Corona hört, noch am ausgeprägtesten sein. Abgesehen von diesen Vorteilen repräsentiert er wie auch Alfredo Talavera und Ochoa schlichtweg ein klassisches Torwartspiel.

Zur Abwehr kann man zunächst einen großen Namen zählen: Mittlerweile 37-jährig gehört Rafa Márquez noch immer zu den Stützen des mexikanischen Kaders. Die Spielweise des ehemaligen Barca-Akteurs hat sich im Alter mehr oder weniger zu der eines Liberos gewandelt. Gerne steht der Stratege vor allem in Ballbesitz etwas tiefer als die anderen Verteidiger, um seine offensichtlichen Geschwindigkeitsdefizite im Notfall noch durch ein paar Meter Vorsprung und bloße Intelligenz zu kaschieren. Márquez ist das ruhige Element einer ansonsten zu Wildheit und eher hektischer Spielweise neigenden Mannschaft. Er kann den Rhythmus etwas herunterschrauben und kann auch im gehobenen Alter noch ein entscheidendes Mosaik im Mannschaftsgefüge sein – auch aufgrund seiner selbstsicheren, manchmal wie unangreifbar wirkenden Ausstrahlung. Diese lässt dann auch die ein oder andere unglücklichere Szene vergessen. Ein Libero eben.

Am ehesten mit jenem Altgedienten ist noch Diego Reyes zu vergleichen. Der 23-Jährige spielt für Real Sociedad in der spanischen Liga und besticht vor allem mit gutem, wenngleich nicht absolut erfolgsstabilem Passspiel, das aber aufgrund einer gewissen Übersicht und Abgeklärtheit ebenfalls Entspannung in den mexikanischen Aufbau bringen kann. Reyes erinnert das Team sozusagen von Zeit zu Zeit daran, dass auch Querpässe und ruhigere Zirkulation ihre Berechtigung haben. Er nimmt dabei wie Márquez eine Rolle zwischen Innenverteidiger und Sechser ein. Dabei stößt er durchaus auch einmal mit dem Ball am Fuß vor, wobei ihm allerdings die Dynamik etwas abgeht. In guten Momenten kompensiert er das mit gutem Timing, wenn er im letzten Moment unter Gegnerdruck noch präzise einen Mitspieler zwischen den gegnerischen Linien anspielen kann.

Ihrem Wesen nach eher Halbverteidiger sind sowohl Héctor Moreno von PSV Eindhoven als auch Néstor Araujo. Ersterer zeigt vor allem beim Andribbeln auch unter Druck immer wieder enorm starke Szenen und reagiert passend auf heranstürmende Gegenspieler – so etwa auch nach tiefen Balleroberungen. Oftmals rückt er links auch direkt wie ein Außenverteidiger auf und kann auch gegen den Ball diese Rolle übernehmen. Körperlich besticht er darüber hinaus durch Robustheit.

Araujo fällt hingegen noch mehr durch sein aggressives Verhalten im Herausrücken, insbesondere bei Kontern auf. Das kann oftmals recht improvisiert vonstattengehen, bei passender Absicherung jedoch eine Bereicherung sein. Insbesondere gegnerische Konter kann er so mit guter Antizipation und einer gewissen Grund-Aggressivität stoppen, bevor sie den eigenen Strafraum erreichen. Gegen zurückhaltendere Gegner rückt auch er häufiger mal mit Ball am Fuß auf und kann scharfe, diagonale Bälle auf die vorderen Akteure anbringen. Unter Druck sind diese Vorstöße jedoch nicht auf dem Niveau Morenos.

Als Alternative für eine zentralere Position wurde zusätzlich Yasser Corona eingesetzt, von dem es auf den ersten Blick wenig Spektakuläres zu berichten gibt. Paul Aguilar kann zusätzlich in einer Viererkette den Part des rechten Außenverteidigers übernehmen, den er mehr oder weniger stark einrückend interpretiert. Gerade im letzten Drittel und im Gegenpressing kann dies interessant sein. Kreative Impulse in tieferen Zonen kann er jedoch eher wenige setzen.
Weiterhin im Kader und mit absolut durchschnittlichem Auftritt gegen Venezuela: Jorge Torres.

...und das Ende.

…und das Ende.

Ein Spieler, der die vielzitierte Polyvalenz (oder für Liebhaber der deutschen Sprache: Vielseitigkeit) verkörpert, und beispielsweise als Außenverteidiger oder Wingback, aber auch als Achter, auflaufen kann, ist Miguel Layún. Gerade über Außen kann er beidseitig überaus druckvoll agieren und mit physischer Präsenz punkten. Das passendste Attribut wäre hierbei wohl „umtiriebig“. Achja: Einen ziemlich mörderischen Schuss hat der Mann auch noch.

Seinen letztjährigen Teamkollegen beim FC Porto, Héctor Herrera, könnte man grundsätzlich ganz ähnlich beschreiben, wenngleich dieser schon deutlich eher im Mittelfeld eingesetzt wird, vorzugsweise als Achter oder eine Art Zehner. Beeindruckend sind hierbei vor allem seine dynamisch nachstoßenden Läufe in die Spitze. Ansonsten neigt er an schwächeren Tagen dazu, überall rumzurennen, aber nirgendwo wirklich präsent zu sein. Technisch geht er oftmals unkonventionell vor, was im schlechten Fall unter Druck schnell zu schwer kontrollierbarer Unsauberkeit führt. Abräumen kann er aber grundsätzlich sehr gut, wenngleich hierbei mitunter die Bewusstheit fehlt.

In Jesús Dueñas gibt es darüber hinaus noch einen weiteren eher skurrilen Mix aus Sechser und Achter im Kader, der überaus gerne nach rechts ausweichend agiert, ohne dabei als besonders strategisch begabt aufzufallen. Gerne lässt er sich aber auch mal zwischen die Innenverteidiger zurückfallen. Was er da macht? Ich erinnere mich kaum. War wohl nichts Besonderes. Als rechter Achter wirkt er grundsätzlich am interessantesten. Konsequente Hybridrolle daraus und aus rechtem Flügelläufer wäre ganz interessant – könnte man dann „rechter Halb(raum)läufer“ oder so nennen.

Weiter zu einer Stütze des Kaders, Andrés Guardado. Zu ihm hat bereits TR bereits eine Kurzeinschätzung abgegeben, die ich hier einfach kurz zitiere: „Entscheidend ermöglicht wurde dies von Andrés Guardado, einem sehr wertvollen Neuzugang für die PSV. Der eigentliche Flügelallrounder, für Mexiko bei der WM als Achter im 5-3-2 unterwegs, gab dem Mittelfeld zusätzliche Spielstärke und Balance. Er ist sehr schwierig zu greifen, entzieht sich dem gegnerischen Pressing und kann auch in mannschaftlich suboptimalen Szenen Ansätze von gegnerischem Zugriff umschiffen. Manchmal driftete er riskant durch verschiedenste Bereiche, trieb an und rückte bis fast zu den vordersten Kombinationen nach, doch war der Mehrwert dessen größer als das Risiko, das durch seinen direkten eigenen Zugriff und die spezielle Form des Defensivspiels abgesichert wurde.“ Weiterhin sind Nadelspieler-Ansätze zu nennen. Das Gesamtpaket macht ihn zu einem potentiellen Key Player, von dessen genauer Rolle das gesamte Team abhängen kann.

Komplettiert wird der zentrale Mittelfeldbereich von Jesús Molina (Hach, diese mexikanischen Namen) und Carlos Peña (Aus der WM-Vorschau 2014: „Balancierender Mittelfeldspieler mit Spielverständnis“).

Vielversprechende Akteure finden sich auf der offensiven Außenbahn. Mit dem ehemals unter Paco Jémez bei Rayo spielenden Javier Aquino steht ein athletisch absolut überragender Mann im Kader, der gegenüber nahezu jedem Spieler auf der Welt Geschwindigkeitsvorteile haben sollte. Diese setzt er jedoch naturgemäß eher linear ein. Überraschende kleinräumigere Aktionen sind aufgrund seiner Wendigkeit jedoch nie auszuschließen.

Der wohl spektakulärste und momentan durch grandiose Dribblings am meisten Aufmerksamkeit genießende Spieler sollte Jesús Manuel Corona aus der Mexiko-Fraktion des FC Porto sein. Seit seiner Zeit in Holland bei Twente Enschede sollte er hier noch einen Schritt nach vorne gemacht haben. Am Ende der Saison 14/15 schrieb wiederum TR über ihn: „Corona ist ein vielseitiger, quirliger, technisch starker, diese Technik auch geschickt einsetzender und bewegungsintelligenter Offensivallrounder. In seinen Aktionen zeigt er eine vielseitige, dynamische, detailpräzise Ballführung und einige gute individualtaktische Moves, wie beispielsweise sein typisches Antäuschen einer Bewegung mit dem anderen Bein. Durch seine kombinative Ausrichtung und den effektiven, zielstrebigen Zug in der Ausführung von gruppentaktischen oder spontanen Abläufen erzielt Corona viel Wirksamkeit im Zusammenspiel. Manchmal ist er in diesem Drive jedoch wirr, überdreht, ungenau – wie auch generell etwas wechselhaft, in seinen Entscheidungen bisweilen seltsam ausbrechend aus seinen eigentlich sehr sauberen und gerichteten Haltungen und manchmal in zu klare Muster abdriftend.“

In der mexikanischen Nationalmannschaft neigt er häufig dazu, etwas klar als Flügelspieler eingesetzt zu werden und auf eine klassische Rolle beschränkt zu sein. Besser ist er entweder konsequent in den Halbraum einrückend oder gar als umherziehender Nadelspieler-Zehner einzusetzen. Hier hatte er auch viele seiner besten Momente – etwa beim famosen Treffer zum 1:1 gegen Venezuela.

Ein noch mal etwas jüngerer Spieler ist Hirving Lozano, der (noch) beim mexikanischen Meister CF Pachuca spielt und in einzelnen Szenen sein großes Talent unter Beweis stellen konnte. Am auffälligsten ist beim 1,77m großen Dribbler vor allem das gute Gespür für gegnerische Dynamiken. Er „liest“ die Bewegungen der Gegenspieler hervorragend und kann entgegen dieser seine eigenen Aktionen starten. Dabei fehlt ihm die letzte Sauberkeit von Corona, dribbeln kann er aufgrund dieser Eigenschaft aber ebenfalls und ist dazu durchaus kombinativ. Beispielhaft hier seine Einleitung des 2:0 gegen Jamaika: Entgegen der Orientierung der Verteidiger zum eigenen Tor hin spielte er nach einem Flügeldurchbruch auf links den Ball überraschend mit dem Außenrist in den Rückraum, von wo aus schließlich Oribe Peralta über den herumstolpernden Herrera an den Ball kam und vollenden konnte.

A propos Peralta. Zum Ende der Auflistung halte ich mich bei den Stürmern mal kurz, aber aussagekräftig: Eher älterer Stürmer, der wunderbar agil, kombinativ und überhaupt einfach bewegungsstark agiert und darüber hinaus noch abschlussstark ist. Einer, den man jederzeit einsetzen kann. Überspitzt: Einer von wenigen Akteuren, die man bei Rückstand tatsächlich als zusätzliche Spitze bringen kann, ohne die Bälle dann nur noch ideenlos lang schlagen zu müssen.

Raúl Jiménez kann alles, was man so braucht. Er ist ein teils sensationeller, atemberaubender Nadelspieler, der schon mal direkt nach seiner Auswechslung auf engstem Raum 4 Gegenspieler überwindet. Er ist dynamisch, während und nach solchen Aktionen nur schwer zu bremsen. Er ist schlau und weiß mit all dem auch noch umzugehen, es bewusst einzusetzen und mit den Mitspielern zu kombinieren. In der Nationalmannschaft wird er auch schon mal als simpler Außenspieler eingesetzt – ein unterkomplexes Umfeld für einen so begabten jungen Mann.

Die Rolle seines potentiell und von Zeit zu Zeit auch tatsächlich kongenialen Partners nimmt niemand geringeres als Chicharito ein. Den kennen wir. Da sage ich nichts zu. Das ist einer der bewegungsstärksten Stürmer überhaupt.

Vielversprechender Start gegen Uruguay

Grundformation gegen Uruguay

Grundformation gegen Uruguay

Wie bindet man die vielen besonderen Spielertypen nun optimal in Relation zueinander ein? Wie findet man die Balance, ohne die charakteristisch wilde Unberechenbarkeit einzubüßen?
An einer ersten Antwort versuchte sich Osorio bei dieser Sonderausgabe der Copa América auf unkonventionelle Art und Weise: Es gab eine Dreierkette mit Raute davor sowie drei Angreifern zu sehen. Ein in dieser konkreten Form eher selten genutztes System, bauen doch die meisten Dreierketten-Formationen auf nicht ganz so offensive Flügelrollen, die oftmals eher mit Defensivaufgaben bedacht werden.

Situativ konnte sich trotzdem mal einer der Außenspieler weit zurückfallen lassen. Dies geschah zumeist, um einen gegnerischen Spieler zu verfolgen. Ansonsten begann das Pressing aus einem 3-1-4-2 heraus, das von gewissen, in diesem Spiel recht flexibel ausgeführten, Mannorientierungen geprägt war. Hierbei konnte es zu verschiedenartigen Umformungen kommen. Mal ließ sich eben ein Flügelspieler (vor allem Aquino) tiefer fallen als der andere, sodass ein asymmetrisches 4-1-3-2 entstand. In anderen Fällen tendierte man wiederum durch entsprechende Anpassungen der Achter eher zu einem 3-2-4-1, bei dem man in der ersten Linie gerne auch mal risikoreich Mann gegen Mann verteidigte. In einer Szene gab es auch eine zentrumskompakte 3-2-2-Staffelung zu sehen, während die restlichen Akteure etwas höher blieben und zockten – ein ambivalent genutztes Merkmal dieser mexikanischen Mannschaft.

Die Abwehrkette konnte darüber hinaus auf unterschiedliche, vielfach improvisierte Weise, aber nicht rein aufgrund von Bewegungen der Gegenspieler, umgeformt werden. So ließ sich Reyes als gelernter Innenverteidiger häufiger einmal zurückfallen, um eine Viererkette in der ersten Linie zu erzeugen. Immer wieder tauschten Márquez und er auch einfach für längere Zeit die Position. Außerdem füllte der nominelle Achter Layún häufiger einmal Lücken auf halbrechts, ging tief mit nach hinten und unterstützte so auch Araujo bei der Flügelverteidigung. Klare Fünferketten gab es hingegen praktisch gar nicht zu sehen.

Mit Uruguay fand man trotz klangvoller Namen einen recht unambitionierten Gegner vor, der über wenig gute Strukturen verfügte und sich oft fast schon von selbst am Flügel oder anderswo isolierte. Die mannorientierte Spielweise erwies sich gegen die insgesamt starre Anlage als effektiv und wurde zusätzlich ansatzweise kollektiv auch sehr gut eingebunden. So ließ man manchmal bewusst Passoptionen (scheinbar) frei, nur um nach erfolgtem Abspiel den Raum um den Passempfänger direkt mit mehreren Spielern zu verengen. Auch darüber hinaus wurden die Mannorientierungen zugunsten des Raumdrucks immer wieder aufgelöst. Stattdessen nahm man dem Gegner in bestimmten Situationen die ballnahen Anspielmöglichkeiten, kesselte ihn regelrecht ein und nutzte zusätzlich die jeweiligen Deckungsschatten, um ihn endgültig der Optionen zu berauben.

Problematisch war am ehesten noch die wilde Strafraumverteidigung, eine phasenweise allgemein eher schwache Rückwärtsbewegung (Stichwort: Zocken) sowie vereinzelte Vernachlässigung des Sechserraums. Auch unabgesichertes Herausrücken oder allgemeine Koordinationsprobleme in der Verteidigungslinie wären mögliche Angriffspunkte für einen besseren Gegner gewesen.

Halbraumsperre durch Nutzung von Deckungsschatten

Halbraumsperre durch Nutzung von Deckungsschatten

In Ballbesitz fokussierte El Tri vor allem die eigene linke Seite und überlud diese gezielt. Guardado konnte zum Teil weit nach Außen rochieren, woraufhin Corona leicht einrückte oder in ein paar Szenen sogar bis in den Zehnerraum zog. Die frühe Führung zum 1:0 entstand genau durch eine solche Bewegung des nominellen Achters nach Außen und eine anschließende Flanke aus der Dynamik heraus auf den sich gewohnt geschickt im Strafraum zwischen den Verteidigern positionierenden Chicharito. Weiterhin konnte Moreno auf der linken Seite vorrücken und praktisch die Rolle eines Außenverteidigers einnehmen. Márquez schob im Gegenzug nach halblinks. Seine vorherige Position konnte somit Reyes einnehmen, während sich Guardado mehr in den Sechserraum bewegte.

Die jeweils auf den Halbpositionen der Dreierkette agierenden Spieler konnten gegen das überaus mannorientierte 4-4-2-Mittelfeldpressing von Uruguay immer wieder andribbeln und ein Herausrücken aus der Formation erzwingen. Die entstehenden Lücken im Zwischenlinienraum wurden bewusst fokussiert und oftmals von 3 Spielern besetzt (Beide Achter und Herrera/Corona, Layún und Herrera). Zusätzlich ließ sich Chicharito passend in entstehende Lücken zentral oder halblinks fallen und konnte schnelle Ablagen spielen. Herrera nutzte daraufhin seine Dynamik, um in die Tiefe zu starten. Problematisch war bei Ballbesitz der Halbverteidiger eher eine zu nahe Positionierung an der Seitenlinie, in der zu wenig Unterstützung vorhanden und eine Isolation zu leicht möglich war.

Pressingfalle aus mannorientierter Spielweise heraus

Pressingfalle aus mannorientierter Spielweise heraus

Ein gewisser Fokus lag darüber hinaus auf Verlagerungen und den Versuch, die schnellen Flügelspieler in 1 gegen 1/1 gegen 2-Situationen zu bringen sowie im Anschluss entweder direkt per Flanke in Richtung des Tores zu gelangen oder sich nochmals ins Zentrum hineinzuspielen. Bei letzterem gab es einige gut koordinierte diagonale Läufe im Zentrum samt schneller, ablagenfokussierter Kombinationen. Auch einige gegenläufige Bewegungen wurden beispielsweise für Lupfer genutzt, was durchaus auch mal mit Phasen ruhigeren Zusammenspiels vor dem gegnerischen Strafraum kombiniert wurde.

Insgesamt neigten die Staffelungen dazu, etwas flach zu werden und auch die Absicherung für den Fall des Ballverlustes stimmte nach guten ersten Szenen im Gegenpressing nicht immer. Mexiko litt darüber hinaus ein Stück weit an der aktuell bei England vorherrschenden Problematik: Sie konnten das Spiel zwar jederzeit dominieren, aber nie wirklich (strategisch) kontrollieren. Auch deswegen gab es gegen die starke Atlétco-Innenverteidigung von Uruguay zunächst wenige klare Durchbrüche. Neben grundsätzlichen Unsauberkeiten in allen Bereichen führte dies zu einem unruhigen Spiel, das nach Platzverweisen auf beiden Seiten zu einer eher wenig repräsentativen zweiten Halbzeit und einem 3:1-Erfolg führen sollte.

Verrückte erste Jamaika-Halbzeit

Gegen Jamaika setzte sich in der ersten Halbzeit zunächst der Trend aus dem ersten Gruppenspiel fort – zumindest was die Besonderheit der gewählten Startelf anging. Diese war in ihrer Grundform am ehesten als 3-2-2-3 zu bezeichnen, bei dem die Rollen der Flügelspieler abermals offensiv interpretiert wurden. Möglicherweise steckte planerisch abermals eine Raute mit variierenden Rollen dahinter. Die Zusammenarbeit der hinteren Akteure gegen den Ball veränderte sich hingegen. Reyes bekam dieses Mal keinen Platz in Team. Statt seiner spielte Yasser Corona, Márquez rückte initial eher in die Rolle eines zentralen Mittelfeldspielers. Neben ihm kam Dueñas für den gesperrten Guardado ins Team. Layún und Herrera gaben die beiden offensiveren Mittelfeldakteure. Als Rechtsaußen wurde dieses Mal Raúl Jiménez aufgeboten.

Was zunächst auffiel: Sowohl Mannorientierungen als auch Umformungen in der ersten Linie nahmen deutlich zu. Die Flügelspieler schalteten sich noch seltener hinten mit ein und blieben vermehrt höher. Vielmehr rekrutierte sich die Flügelverteidigung nun fast vollends aus den fünf hinteren Akteuren, unterstützt von Layún und Herrera. An sich eine interessante Idee, der ich nachfolgend einen bebilderten Exkurs über die Formierung von Formationen in der ersten Linie aus einer Dreierkette heraus widme.

Kette1

1. Der Klassiker: Tiefe Wingbacks lassen sich beidseitig neben die Dreierkette fallen und erzeugen so eine Fünferreihe mit zwei Sechsern davor.

2. Pendelnde Viererkette: Befindet sich der Ball im Zentrum, orientieren sich beide Wingbacks am Mittelfeld, die Dreierkette bleibt tiefer. Wird das Spiel nun auf eine Seite verlagert, attackiert der ballnahe Wingback, während sich sein ballfernes Pendant an die Dreierkette andockt.

2. Pendelnde Viererkette: Befindet sich der Ball im Zentrum, orientieren sich beide Wingbacks am Mittelfeld, die Dreierkette bleibt tiefer. Wird das Spiel nun auf eine Seite verlagert, attackiert der ballnahe Wingback, während sich sein ballfernes Pendant an die Dreierkette andockt.

3. An Mexiko angelehnte Variante: Die Halbverteidiger rücken zur Verteidigung des Flügels diagonal nach vorne, ihre Rollen neben dem zentralen Innenverteidiger werden von den beiden defensiven Mittelfeldspielern übernommen, während die offensiveren Mittelfeldspieler sich in Richtung des eigenen Sechserraums orientieren.

3. An Mexiko angelehnte Variante: Die Halbverteidiger rücken zur Verteidigung des Flügels diagonal nach vorne, ihre Rollen neben dem zentralen Innenverteidiger werden von den beiden defensiven Mittelfeldspielern übernommen, während die offensiveren Mittelfeldspieler sich in Richtung des eigenen Sechserraums orientieren.

4. In der mexikanischen Praxis noch häufiger zu sehen: Der linke Halbverteidiger Moreno rückt nach Außen heraus, Corona sichert seine Position, während Rafa Márquez ins Abwehrzentrum fällt. Auf rechts bleibt Araujo Halbverteidiger. Der zweite Sechser Dueñas rückt nach außen.

4. In der mexikanischen Praxis noch häufiger zu sehen: Der linke Halbverteidiger Moreno rückt nach Außen heraus, Corona sichert seine Position, während Rafa Márquez ins Abwehrzentrum fällt. Auf rechts bleibt Araujo Halbverteidiger. Der zweite Sechser Dueñas rückt nach außen.

5. Ähnliche Variante als Beispiel für mögliche Mischformen: Márquez bleibt höher und es entsteht ein 4-1-4-1

5. Ähnliche Variante als Beispiel für mögliche Mischformen: Márquez bleibt höher und es entsteht ein 4-1-4-1

Problematisch nun dabei: Auch (ja: gerade) diese Art der Flexibilität muss organisiert sein und gewissen Mustern folgen, die bei Mexiko keineswegs klar waren. Einerseits konnten sich derlei Staffelungen eben daraus ergeben, dass Gegenspieler mannorientiert verfolgt wurden. Aber eben beileibe nicht immer. Dueñas orientierte sich beispielsweise von sich aus vorzugsweise nach rechts und per se kaum in den Sechserraum. Márquez ließ sich seinerseits am ehesten mit nach hinten fallen. Es wirkte phasenweise so, dass jeder Spieler seinem individuell bevorzugten Bewegungsmuster folgte, was zu großer Wechselhaftigkeit und viel passiver Präsenz in der ersten Linie führte. Der Sechserraum verwaiste dabei oftmals, weil sich die zentralen Mittelfeldspieler nur wenig konsequent dorthin bewegten, um Lücken zu füllen.

Insgesamt fehlten bei dieser Vielzahl an Optionen schlichtweg Kettenmechanismen innerhalb der einzelnen Konstellationen. Dadurch ließ auch die konkrete Ballorientierung zu wünschen übrig. Gerade die Halbräume standen ein ums andere Mal offen, sodass der wie auch immer genau geartete Plan von Osorio kaum Früchte trug. Möglicherweise spielte hierbei die Besonderheit der Nationalmannschaft eine entscheidende Rolle, sodass die zunächst eher komplexen oder zumindest ungewohnten Mechanismen kaum gemeinsam erarbeitet werden können.

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Jamaika

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Jamaika

Etwas, das dem über 15 Jahre im Vereinsfußball tätigen Trainer sicherlich bewusst gewesen ist, aber mangels Erfahrungen möglicherweise doch unterschätzt wurde. Wechselnde Gegneranpassungen und Ausrichtungen bedürfen gerade auf dieser Ebene eines gemeinsamen Fundaments, das über einen längeren Zeitraum erarbeitet werden muss.

Mit Ball jedenfalls knüpfte man an einige Aspekte aus dem Eröffnungsspiel an. Dies betraf sowohl die grundsätzliche Weiträumigkeit, die gerade anfangs verfrüht gesucht wurde, als auch an und für sich gute Verbindungen in zentraleren Bereichen, die wiederum nicht konsequent genug genutzt wurden. Gegen einen von sich aus meist zurückhaltend agierenden Underdog war es erneut das Anliegen, diesen über allgemein hohe Präsenz zurückzudrängen und dabei den Zwischenlinienraum zu überladen.

Im Zentrum sowie bei Ansammlungen (halb-)links sollten Gegner gebunden werden, um andernorts Räume zu schaffen. Die genaue personelle Struktur variierte dabei zum Teil erheblich. Jiménez konnte beispielsweise diagonal in Richtung Zentrum rücken, Chicharito wich dadurch leicht nach links aus oder ließ sich auf die übliche Art und Weise zurückfallen. Den vakanten rechtsseitigen Raum füllten daraufhin entweder Dueñas oder Herrera, der sich grundsätzlich etwas höher als Layún aufhielt. Dieser konnte sich auch im Aufbau etwas zurückfallen lassen.
Zu einem späteren Zeitpunkt ging sogar Márquez konsequent in eine höhere Position auf halbrechts, während Dueñas den tiefen Sechser gab. Corona wiederum wechselte sich mit dem offensiv ausgerichteten Moreno beim Geben von Breite ab und tauchte auch immer wieder in zentraleren Bereichen auf. Blieb Moreno tiefer, waren wiederum Staffelungen der Sorte 3-Raute-3 wie im Spiel gegen Uruguay zu beobachten.

Woran es erneut mangelte, war schlussendlich die saubere Ausführungen dieser verschiedenen Abläufe, die vor allem improvisiert blieben und nicht derart konstant Gefahr erzeugen konnten, wie ansatzweise angedeutet. Beispiele dafür fanden sich etwa auch im Ausspielen von Kontern: So verpuffte eine effektive 6 gegen 4-Überzahlsituation durch voreilige Entscheidungen und hektische Bewegungen.

Halbraum defensiv anfällig.

Halbraum defensiv anfällig.

Zweite Jamaika-Halbzeit als Höhepunkt, Venezuela als Zwischenspiel

Zur zweiten Halbzeit ließ sich Osorio daher, trotz Führung durch Fußballgott Chicharito, etwas einfallen. Er stellte erstmals im Turnier konsequent auf eine Viererkette um. In dieser Art des 4-1-4-1 ergaben sich durch die entsprechenden Spielerrollen dann klarere Abläufe als noch zuvor bei gleichzeitig interessanter asymmetrischer Interpretation. Layún wechselte auf die Außenverteidigerposition, auf der er deutlich höher agierte als Moreno auf der gegenüberliegenden Seite. Dieser spielte im Grunde kaum anders als bereits zuvor. Allerdings nun eben klar von der Position des Außenverteidigers startend und auch gegen den Ball wie ein solcher agierend – ohne ständige Wechsel. Dies betraf ebenso die beiden Innenverteidiger sowie Rafa Márquez, welcher nun als tiefer Sechser agierte und im Spielaufbau vielseitig unterstützen konnte. Dueñas und Herrera gaben nun die Achter, was ihrer umtriebigen Art eher entgegenkam. Coronas Rolle blieb grundsätzlich ähnlich, ehe sie nach 63 Minuten von Lozano übernommen wurde.

Schön diagonal: Die Jiménez-Raute

Schön diagonal: Die Jiménez-Raute

Den größten Effekt hatte freilich die nunmehr starke Orientierung von Jiménez zum Zentrum hin. Er konnte zwar ebenso auf Außen agieren, zog jedoch vermehrt in den Zehnerraum und suchte den Kontakt zu Chicharito. Die beiden zuvor oft eher getrennt voneinander agierenden Kombinationsspieler konnten so endlich die zueinander nötige Synergie erzeugen. Beispielhaft hier eine wunderbare Szene: Jiménez bietet sich nach einer abgeprallten Ecke im linken Halbraum an, spielt mit dem ersten Kontakt einen seitlichen Hackenpass ins Zentrum zu Moreno, der den Doppelpass vollendet. Jiménez rutscht zwischendurch noch aus und spielt, als er wieder zum Stehen kommt, direkt den nächsten Hackenpass ins Zentrum zu Chicharito – im 2 gegen 5 auf engstem Raum. Der Leverkusener nimmt den Ball zunächst unsauber an, nutzt diesen Umstand jedoch wie allzu oft geschickt, legt schließlich in den Rückraum ab, von wo Yasser Corona zum Schuss kommt.

Grundformation in der zweiten Halbzeit gegen Jamaika

Grundformation in der zweiten Halbzeit gegen Jamaika

Prägend war hierbei vor allem der Aufbau über links. Wenn Moreno den Ball hatte, schob Layún häufig bis in die letzte Linie hoch und zog einen Gegenspieler mit sich. Jiménez rückte dafür praktisch auf die Zehnerposition und erzeugte eine Rautenstaffelung. Moreno konnte sowohl Marquez als auch Herrera und (je nachdem) beide Coronas anspielen oder in passenden Momenten die Verlagerung suchen, wenn Dueñas auswich oder Layún gerade einmal dynamisch aus der tieferen Position nach vorne lief.

Bei Ballbesitz auf der rechten Seite ließ sich wiederum eher Chicharito fallen, während Herrera sich in Richtung des Sturmzentrums bewegte. Insgesamt eine diagonale Spielanlage. Auch im gegnerischen Strafraum passten die Bewegungen zueinander immer besser. Räume füreinander wurden konsequenter freigezogen.
Später ersetzte dann Peralta Chicharito, sorgte für das 2:0 und reihte sich in ein nunmehr enorm spielfreudiges Team ein, das im Angesicht des Sieges spektakuläre (Lupfer-)Kombinationen oder weiträumige One-Touch-Kombinationen suchte. Da konnte Herrera auch mal hohe und ziemlich scharfe Rückpässe aus 30 Metern auf Ochoa schlagen: Das sah nach angenehmen Fußball aus. Darauf konnte man aufbauen.

Hätte man aufbauen können. Was auch bei mir so innerlich etwas in den Hintergrund geriet war die Instabilität gegen den Ball. Die Kompaktheit ließ insbesondere vertikal stark zu wünschen übrig und Abstimmungsprobleme blieben ebenso bestehen wie der Mangel an kollektiver Intensität beziehungsweise Bewusstheit im (Gegen-)Pressing.

Das 1:1 gegen die wiederum nahezu im Manndeckungs-4-4-2 spielenden Venezolaner markierte gefühlt nicht viel mehr als ein Zwischenspiel, das Mexiko wiederum grundsätzlich dominierte. Dieses Mal auch klar in Bezug auf die Expected Goals. Die Besetzung variierte hierbei erheblich, schien aber etwas losgelöst vom weiteren Turnierverlauf zu sein, außer dass es ein 4-1-4-1 zu sehen gab: Peralta, Lozano, Aguilar, Molina, Torres, Reyes, Aquino sowie der wieder einsetzbare Guardado kamen ins Team. Lediglich Moreno und Herrera blieben wie in den ersten beiden Spielen in der Startelf.

Gegen das anfangs höhere Pressing von Venezuela tat sich Mexiko einigermaßen schwer, effektiv vorzustoßen. Erst mit der Einwechslung Coronas für Aquino und durch konsequentes Einrücken in den Halbraum sowie zunehmend tieferes Verteidigen des Gegners wurden vermehrt Lücken angepeilt und auch gefunden. Zur Schlussphase brachte die Einwechslung von Chicharito für Molina noch mal 4-2-3-1/4-2-4-haftere Strukturen hervor. Für den späten 1:1-Ausgleich reichte das. Im Achtelfinale sollte eine andere Art von Spiel warten.

Bereits gegen Jamaika teilweise erschütternd: Der Mangel an vertikaler Kompaktheit.

Bereits gegen Jamaika teilweise erschütternd: Der Mangel an vertikaler Kompaktheit.

0:7

Juan Carlos Osorio hatte als Kolumbianer, der zu seinem Studium in die USA ging und zuvor nie in Mexiko wirkte von Beginn an einen schweren Stand. 10 Spiele lang ging alles gut. Dann kam dieser Abend des 18. Juni 2016, der nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird.

Von den ersten Minuten an merkte man: Auf eine gewisse Art und Weise war er konservativ geworden, was jedoch auf eine andere Art und Weise wie Extremismus wirkte. Welche Einflüsse da gewirkt haben, die eventuell auch jenseits seiner Person liegen, das wissen wir nicht. Können wir nicht wissen. Aber es schien so, als habe man an irgendeiner Stelle die falschen Schlüsse gezogen.
Die Raumorientierung gegen den Ball wurde ebenso Ad Acta gelegt wie die Versuche einer guten, zentrumsorientierten Aufteilung mit Ball. Taktik- bzw. strategiepsychologisch schien der Fokus klar auf Aggressivität zu liegen. Eng am Mann. Schnell nach vorne. Duelle auf Außen gewinnen. Dass man damit den Spielwitz der Mannschaft ebenso verleugnete und die ohnehin wechselhafte Balance völlig vernachlässigte, schien in diesem emotionalen Moment vor über 70.000 überwiegend mexikanischen Fans nebensächlich.

Chile hatte in der Post-Sampaoli-Ära selten wirklich überzeugt. Gegen Mexiko gab es Anfang des Monats unter dem neuen Trainer Juan Antonio Pizzi eine 1:0 Niederlage. Der Spielstil wandelte sich immer mehr in Richtung Vertikalität. Gegen Panama gab es beispielsweise einen überraschend hohen Fokus auf die letzte Linie. Doch die Kurve des Spaniers verlief anders als jene seines kolumbianischen Pendants: Pünktlich zum Viertelfinale hatte er seine besten Ideen. Schlüsselspieler Marcelo Diaz konnte auflaufen, während bei Mexiko Rafa Márquez verletzt fehlte.

Osorio entschied sich für ein 4-2-3-1/4-2-1-3 mit Guardado und Dueñas als Sechsern. Herrera gab eine Art Zehner, Layún wurde als linker Verteidiger eingesetzt, während Aguilar den Part auf der rechten Seite übernahm. Jiménez fehlte gänzlich in der Anfangsformation, dafür lief der junge Lozano von Beginn an auf. Auch der logische Márquez-Ersatz Reyes war zunächst nicht dabei. Bereits die ersten Szenen ließen wenig Gutes verheißen. Eine szenische Aufarbeitung (Ja, ich bin voll der visuelle Typ, schreibe ja auch nur in Bildern):

1. Araujo wird von Linksaußen Alexis Sanchez angelaufen, spielt weiter zum zurückfallenden Aguilar, der quasi bei der Ballannahme schon isoliert ist. Aufgrund dessen fußballerischen Limitierung kann das hohe Pressing nicht effektiv über Ochoa aufgelöst werden. Sanchez nimmt Araujo in den Deckungsschatten, Vidal tut selbiges mit Dueñas, während Vargas den Weg ins Zentrum sichert und Rechtsaußen Puch ballfern zurückfällt. Dueñas bewegt sich im Anschluss daran zur rechten Seite heraus und erhält den Ball. Da Lozano höher ebenfalls breit bleibt, stehen nun praktisch 3 Spieler auf der Seitenlinie. Chile kann die wenigen Optionen einfach zustellen, Mexiko kommt kaum voran.

1. Araujo wird von Linksaußen Alexis Sanchez angelaufen, spielt weiter zum zurückfallenden Aguilar, der quasi bei der Ballannahme schon isoliert ist. Aufgrund dessen fußballerischen Limitierung kann das hohe Pressing nicht effektiv über Ochoa aufgelöst werden. Sanchez nimmt Araujo in den Deckungsschatten, Vidal tut selbiges mit Dueñas, während Vargas den Weg ins Zentrum sichert und Rechtsaußen Puch ballfern zurückfällt. Dueñas bewegt sich im Anschluss daran zur rechten Seite heraus und erhält den Ball. Da Lozano höher ebenfalls breit bleibt, stehen nun praktisch 3 Spieler auf der Seitenlinie. Chile kann die wenigen Optionen einfach zustellen, Mexiko kommt kaum voran.

2. Das Bild auf der Gegenseite: Diaz kippt nach halblinks, quasi auf die Position des linken Innenverteidigers ab, während Jara diagonal zur Seite vorschiebt und der nominelle Linksverteidiger Beausejour sich in Richtung Mittellinie bewegt. Die Abwehr der Mexikaner wird von Chiles drei vorderen Akteuren gebunden und zurückgedrängt, während Guardado und Dueñas die Achter manndecken. Weiter vorne weiß Herrera nicht, wen er decken soll und schiebt lose in Richtung Jara. So öffnet er den Weg ins Zentrum. Darauf hat Diaz nur gewartet.

2. Das Bild auf der Gegenseite: Diaz kippt nach halblinks, quasi auf die Position des linken Innenverteidigers ab, während Jara diagonal zur Seite vorschiebt und der nominelle Linksverteidiger Beausejour sich in Richtung Mittellinie bewegt. Die Abwehr der Mexikaner wird von Chiles drei vorderen Akteuren gebunden und zurückgedrängt, während Guardado und Dueñas die Achter manndecken. Weiter vorne weiß Herrera nicht, wen er decken soll und schiebt lose in Richtung Jara. So öffnet er den Weg ins Zentrum. Darauf hat Diaz nur gewartet.

3. Das „U“: Gab es zuvor noch häufig einen hohen Fokus auf den Zwischenlinienraum, ordnet man sich nunmehr ohne wirkliche Möglichkeiten an, Corona wird in simpler Rolle am Flügel isoliert. Keine Präsenz für das Gegenpressing.

3. Das „U“: Gab es zuvor noch häufig einen hohen Fokus auf den Zwischenlinienraum, ordnet man sich nunmehr ohne wirkliche Möglichkeiten an, Corona wird in simpler Rolle am Flügel isoliert. Keine Präsenz für das Gegenpressing.

Zentrumsoffenheit Chile

4. Es ist ein altes Manndeckungs-Gesetz: Ist erst mal ein Duell verloren und ein Spieler aus dem Spiel genommen, dann fällt das gesamte Konstrukt in sich zusammen. Diaz schüttelt Herrera ab. Corona und Guardado müssen zur Hilfe eilen, sind allerdings zu spät. So öffnet sich ein gewaltiger Raum im Zentrum, der aufgrund der Mannorientierung in der Abwehrkette auch nicht geschlossen wird. Über einen Rückpass und anschließenden Vorstoß von Jara kann dieser Raum, wie in der Grafik dargestellt, angelaufen werden. Auf der rechten mexikanischen Seite sind wiederum Vidal und Beausejour anspielbar.

Die Probleme bei der vertikalen Kompaktheit verschlimmerten sich durch das gekonnte Herauslocken der Chilenen noch weiter. So griffen teilweise 5 Mexikaner ziellos vorne an und rissen ein großes Loch zur Abwehr. Diaz war dabei im chilenischen System ironischerweise genau jener strategische Spielertyp, der den Mexikanern ihrerseits fehlte. Der ultimative Verbindungsspieler. Vidal konnte sich trotz insgesamt guter Leistung sogar ein paar Schwächen in der Entscheidungsfindung erlauben.

Der fußballerisch herausragende Claudio Bravo machte derweil vor, wie wertvoll ein mitspielender Torhüter als Überzahlspieler gegen ein hohes Pressing sein kann.
Im Gegensatz zu Osorio wurde Pizzi auch darüber hinaus mutiger, indem er zwei sehr offensive Außenverteidiger aufbot, die üblicherweise eher eine Linie weiter vorne zu finden sind. Dies ermöglichte gut koordinierte Wechselspiele zwischen ihnen und den Akteuren in vorderster Front und ständig wechselnde Halbraumbesetzung, die besonders fokussiert wurde. Die mexikanischen Mannorientierungen konnten problemlos ausgehebelt werden: Sanchez holte sich den Ball zum Beispiel einige Male tief auf links, genau während Beausejour nach vorne durchsprintete, einen Gegenspieler mit sich zog und einem zweiten den Weg versperrte. Alexis hatte das Feld diagonal vor sich und konnte entweder das Zentrum oder die ballferne Seite erreichen.

Auf dieser zeigten sich sowohl Corona als auch Lozano einmal mehr nachlässig. Die halbherzige Mischung aus Zocken und passiv angedeutetem Zurückfallen wurde bestraft.
Durch verschiedenartige Positionswechsel verschärfte Chile solche Problematiken noch weiter und konnte Mexikos Verteidigung ein ums andere mal entblößen bis es in deren erster Linie 2 gegen 2-Situationen und ähnliches gab. In der Strafraumverteidigung wirkte El Tri gegen Sanchez, Vargas und Puch überfordert und vernachlässigte darüber hinaus den Rückraum. Genau diesen Umstand nutzte Diaz vor dem 0:1, als er von dort einen Schuss abfeuerte, dessen Abpraller Puch verwertete.

Mexiko musste anschließend gegen keineswegs fehlerfreie und mitunter ebenso mannorientierte Chilenen Lösungen aus dem Ballbesitzspiel heraus finden, scheiterte allerdings an den eigenen mangelhaften Strukturen und wurde anschließend von einer der besten Kontermannschaften der Welt überrannt. Auch Jiménez und Reyes konnten da nichts mehr retten. Das klingt alles sehr schlüssig – im Nachhinein.

Das hier wäre mit fittem Marquez eine Idee gewesen.

Das hier wäre mit fittem Marquez eine Idee gewesen.

Gibt es Zeit zum Lernen?

Für mich: Ja. Für Osorio hoffentlich auch. Vermutlich sogar in Mexiko. Der Kolumbianer wirkt wie ein kluger Mann und ließ in Ansätzen auch so Fußball spielen. Erkennt er die tatsächlich zugrundeliegenden Ursachen? Wird er wieder mutig und dabei weniger überambitioniert? Oder sieht er das strategische und psychologische Versagen nicht tatsächlich als solches an und hebt Nebensächlichkeiten hervor?
Schade wäre es jedenfalls, wenn nun die Hauptgründe für das Scheitern im mangelnden Willen und ähnlichem gesucht werden. Dies war eben nicht der Fall – vielmehr das genaue Gegenteil.

Egor Nazarov 26. Juni 2016 um 22:49

Will this article be translated in English? That’s very interesting and the great job was done, but it’s not alway clear after the use of Google Translate (

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Wasserkocher 26. Juni 2016 um 09:32

Danke für den gut erarbeiteten und sehr informativen Artikel, der auch sprachlich gelungen ist (bis auf ein paar modische Fußballwörter). mein Lieblingssatz ist dieser:
Zitat: „Er ist ein teils sensationeller, atemberaubender Nadelspieler, der schon mal direkt nach seiner Auswechslung auf engstem Raum 4 Gegenspieler überwindet.“
Nach der Auswechslung? Der musste aber wirklich schnell aufs Klo … 😉

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Truu 25. Juni 2016 um 15:46

1) Gratulation zum 2. Absatz, Fussball-Kultur/-Literatur vom Feinsten

2) Was mich bei Mexiko oft gestört hat, war das Verweisen der Zone 14 durch Reyes oder Duenas oder Marquez. Die Scwäche der 4-er kette ist, dass mit 4 Spielern zwar eine horizontale Kompaktheit hergestellt wird, das aber zu Lasten der vertikalen Kompaktheit einher gehen kann. Ajax hat 1995 dieses System perfekt gespielt, als Rijkaard als nomineller 6-er sich häufig in die Abwehr zurück fallen liess, wenn Blind selbst im Zentrum Hilfe benötigte, dafür Seedorf bzw. Davids sich in die Zone 14 bewegten. Auch finde ich es sehr schade, dass Systeme mit einem Libero hier nicht die nötige Anerkennung finden, denn gerade in manchen Situationen würde sich ein guter Libero in genau jenen verwaisten Raum bewegen.

3) Ich halte jene Verschiebungen, die ab „2. Pendelnde Viererkette: …“ beginnen, für sehr problematisch. In all diesen Ordnungen kommt es zu der Situationen, dass entweder Aussen- oder (halb-)zentrale Mittelfeldspieler plötzlich gegen Stürmer verteidigen müssen. Und genau dies gilt es mMn immer zu vermeiden, weil hier zum einen die (Gruppen-)Automatismen fehlen, zum anderen die (Individual-)Kompetenzen. Erfolgreicher agieren hier die Italienischen Teams, die in einem 3-5-1-1 oder 3-4-2-1 oder 3-1-4-2 die 3-er Kette zentral lässt und dafür das Mittelfeld im Verbund verschiebt. Ich sehe hier eine grössere Stabilität.

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savona 1. Juli 2016 um 09:07

Zu 1) Dem kann ich nur beipflichten. Auch ohne ein einziges dieser Spiele gesehen zu haben, eine spannende
Lektüre!

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RadicalEd 25. Juni 2016 um 13:56

Toller Artikel, schön das auch die Copa zumindest mal in einem Artikel berücksichtigt wurde, die Sendezeiten sind aber auch Mist für den deutschen Zuschauer. Mexico hat mir schon bei der WM gut gefallen und hat grundsätzlich wie hier geschildert einen sehr interessanten Kader, aber ähnliches lässt sich über Chile sagen.

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Tobi 24. Juni 2016 um 23:16

Kurze Frage:
Ist nicht ein 3-4-3 mit Raute für das Gegenpressing ideal. Bei Ballverlusten in der Mitte hat man eine Überzahl und kann so den Ball schnell zurückgewinnen, außerdem ist doch beim normalen Pressing eine massive Überzahl im Zentrum ideal, da der Gegner sofort auf die Außen geleitet wird. Sollten meine Überlegungen stimmen, wieso wird dann ein 3-4-3 mit Raute so selten genutzt?

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LM1895 25. Juni 2016 um 00:01

Das 3-Raute-3 ist natürlich von der Zentrums- und Halbraumpräsenz her ein absoluter Traum. Dass es so selten zu sehen ist würde ich aber darauf zurück führen, dass in diesem System zunächst einmal keine echten Flügelspieler vorhanden sind, was gerade im normalen Pressing dazu führt, dass die Verschiebemechanismen extrem perfektioniert sein müssen und sehr aufwendig sind, wenn man sauber am Flügel Drück machen will, ohne für Verlagerungen zu anfällig zu sein (Bandwurmsatz!). Also sehr trainingsintensiv und potentiell bei kleinen Fehlern schon brutal riskant. Aber trotzdem natürlich irgendwie hübsch 😉

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Tobi 25. Juni 2016 um 13:48

Danke für die Antwort, wenn ich allerdings die nominellen Flügelspieler in der Defnsive auf die Höhe der Achter spielen lasse, wäre im Pressing zumindest der Flügel besetzt, in Kombination mit den Achtern die sich in der Verteidigung in die letzte Linie fallen lassen, hätte ich im Pressing allerdings doch eine recht gute Breitenstaffelung und gleichzeitig eine gute Absicherung bei Verlagerungen von Flügel zu Flügel

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Dr. Acula 24. Juni 2016 um 19:04

wow, wahnsinns artikel. da hat jemand wirklich sauber gearbeitet!
TE meinte auf twitter, er verfolge die Copa wegen der EM kaum 🙁 meinst, du könntest vllt argentinien analysieren, ein spiel o.ä?

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ES 25. Juni 2016 um 09:59

Die Copa an sich habe ich auch eher nebenbei verfolgt. Nur auf Mexiko bin ich damals eben zufällig gestoßen, weil ich bei Twitter ein Bild von der 3-Raute-3-Formation sah.
Vorgestern habe ich aber die erste Halbzeit von Argentinien gegen die USA geguckt. Das wirkte schon sehr beeindruckend, wennglech die USA einfach gar nichts gemacht haben: Banega und Messi connecten ziemlich gut und sie sind eines der wenigen Teams beim Turnier, das wirklich konsequent raumverknappend verteidigt. Insbesondere im Gegenpressing war das teilweise enorm gut. Schade, dass dieses Jahr keine WM ist…
Das Finale werde ich mir sicherlich angucken. Kann dann (je nachdem, was das Spiel dann letztlich so hergibt) gut sein, dass es auch eine Analyse geben wird 🙂

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LM1895 24. Juni 2016 um 17:54

Ein herausragender Artikel! Sowohl sprachlich als auch inhaltlich! Mehr Ausrufezeichen!!!
Ich hatte Mexiko nur im ersten Gruppenspiel gegen Uruguay gesehen und fand sie wirklich klasse, taktisch interessant und tolle Spielertypen. Dann hab ich das Ergebnis gegen Chile gesehen und hab das für völlig unmöglich gehalten…jetzt kann ich das schon eher nachvollziehen. Also wie gesagt, toller Artikel, kann man gar nicht oft genug sagen 😉

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Marc 25. Juni 2016 um 03:04

Also ich finde der Autor hätte sich etwas mehr Mühe machen können…neh war nur Spaß…toller Artikel der sehr lesenswert und informativ ist. Klasse!

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HK 25. Juni 2016 um 13:51

Kann man nur beipflichten. Macht richtig Laune zu lesen.

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