„Ich bin auf mehr Gewalt eingestellt“

Bisher macht die Europameisterschaft nicht nur mit spannenden Partien und überraschenden Ergebnissen auf sich aufmerksam. Abseits des grünen Rasens sind es vor allem Hooligan-Gruppen, die für Aufsehen sorgen. Insbesondere Russen und Engländer lieferten sich bereits wahre Straßenschlachten in Frankreich. Nach dem Spiel zwischen beiden Nationalteams kam es auch im Stade Vélodrome zu Auseinandersetzungen. Bereits für unser EM-Heft sprachen wir mit Manuel Veth, dem Chefredakteur der Seite Futbolgrad.com, über die Lage des russischen Fußballs. Wir trafen uns nach den aktuellen Ereignissen für ein zweites Gespräch.

Manuel, die Sbornaja errang in den ersten beiden Partien lediglich einen Punkt. Aber eigentlich ist das eher durchwachsene Abschneiden der Nationalmannschaft im Moment kein Gesprächsthema. Vielmehr machen russische Hooligans von sich Reden. Geradeheraus gefragt: Wer sind diese Typen und wo kommen sie her?

Eigentlich sind es die gleichen Typen, die schon wegen Rassismus, Rechtsextremismus und Homophobie Schlagzeilen im Westen gemacht haben. Dass diese „Fans“ dazu noch extrem aggressiv und wie Kampfverbände organisiert sind, ging dabei früher ein wenig unter. Dieses aggressive Element wird jetzt bei der EM insbesondere deutlich. In Russland treffen sich diese Gruppen aber regelmäßig, um gegeneinander zu kämpfen. Das ist dann quasi der Wettkampf zweier Vereine außerhalb des Stadions.

Und diesen Wettkampf möchten sie jetzt international fortführen, ihre eigene EM auf der Straße veranstalten?

Es geht vor allem darum, etwas zu beweisen, und zwar, dass Russlands Hooligans die härtesten sind. Ein Kommentar, den ich von einem russischen Hooligan gelesen habe, lautete: „Die britischen Hooligans wurden immer als die besten dargestellt, aber wir haben jetzt gezeigt, dass wir härter sind.“ In den russischen Medien wird auch von der „Euro neben der Euro“ gesprochen. Die Russen sind also quasi Europameister…

A Russia supporter gestures during the Euro 2016 group B football match between England and Russia at the Stade Velodrome in Marseille on June 11, 2016. / AFP / BERTRAND LANGLOIS (Photo credit should read BERTRAND LANGLOIS/AFP/Getty Images)

Bertrand Langlois/AFP/Getty Images

Auffällig war dabei, dass die russischen Hooligans organisiert und entsprechend ausgestattet waren. Haben wir es hier mit einer Form von „professionellem Hooliganismus“ zu tun?

Ja, das ist für viele, die ein traditionelles Bild von Hooligans haben, neu. Russische Hooligans trinken oder rauchen oftmals nicht. Dazu trainieren russische Hools, um bessere Kämpfer zu werden. Da kann man schon von professionellen Hooligans oder Kämpfern sprechen.

In einer Analyse auf deiner Seite schreibst du über ein Bündnis von Moskauer Fans, das es 2010 nach einer Attacke auf einen Spartak-Fan gab. Existiert ein solches vereinsübergreifendes Bündnis gegen den „gemeinsamen Feind“ auch jetzt?

Ich habe vor ein paar Tagen eine Karte gesehen, die Frankreich zwischen den Fangruppen der großen Moskauer Klubs aufteilt. Dabei gab es auch eine neutrale Zone für alle Fangruppen. In Marseille waren es wohl Lokomotiv-Moskau-Fans, die für die Probleme verantwortlich waren. Aber es wurde auch beobachtet, dass Fangruppen von anderen Vereinen beteiligt waren. Von daher gibt es Ähnlichkeiten zwischen 2010 und dem, was jetzt passiert. Das liegt vor allem daran, dass die Gruppe von russischen Fans sehr klein ist und deshalb auch vereinsübergreifend organisiert ist. In Marseille zum Beispiel spricht die Polizei von 150 Personen.

Diese Personen sind aber zur EM erst nach Frankreich gereist oder leben manche bereits in Westeuropa?

Ja, anscheinend waren in Marseille auch Russen aktiv, die dort leben. Wie viele das waren, wurde aber nicht deutlich.

Gingen alle Auseinandersetzungen von russischen Fans aus?

Nein. Vor allem die englischen Medien haben sich jetzt auf die Russen eingeschossen und versuchen ein Bild zu malen, das ihre Fans als unschuldig darstellt – die einzige Ausnahme ist der Guardian. Dieses Bild ist aber verfälscht, da es Ausschreitungen gab, bevor russische Fans in Marseille eintrafen. Dazu gibt es Berichte aus anderen Städten, wo englische Fans Gewalt provoziert haben sollen. Das war wohl zum Teil auch in Marseille der Fall. Von daher sind englische Fans mindestens mitverantwortlich. Außerdem waren auch Fans von mehreren französischen Vereinen beteiligt.

MARSEILLE, FRANCE - JUNE 11: Rubbish lines the streets as England fans gather, cheer and clash with police ahead of the game against Russia later today on June 11, 2016 in Marseille, France. Football fans from around Europe have descended on France for the UEFA Euro 2016 football tournament. (Photo by Carl Court/Getty Images)

Carl Court/Getty Images

Wie reagierten die russischen Medien und die russische Politik auf die Geschehnisse?

Das ist gespalten. Viele rechtsgerichtete Politiker haben die Hooligans oder „Fans“ verteidigt oder sogar gefeiert. Die Lebedev-Tweets stehen dafür stellvertretend. Es wurde wohl auch versucht, die Geschehnisse in den Medien ein wenig zu verfälschen oder herunterzuspielen. Allerdings haben sich viele Politiker auch negativ geäußert und an die Fans appelliert, sich zu benehmen.

Wie ernst nimmt man den angedrohten Turnierausschluss, sollten sich russische Fans nochmals innerhalb eines Stadions gewalttätig verhalten?

Ich glaube, dass die UEFA das durchaus ernst meint mit dem Turnierausschluss. Alles andere wäre inkonsequent, und zwar nicht nur gegen Russland. Ich glaube, wir waren einer Disqualifikation wegen Fan-Ausschreitungen noch nie so nahe wie heute.

Also existieren keine Verbindungen zum staatlichen oder politischen Betrieb in Moskau? Manche sehen sich ja angeblich selbst als Soldaten des Kremls.

Naja, „Soldaten des Kremls“ ist übertrieben. Aber es gibt durchaus Verbindungen zwischen staatlichen Organen und rechts gerichteten Hooligans. Der Fanvorstand Aleksandr Shprygin zum Beispiel hat eine sehr rechte Gesinnung und kann auch als Neo-Nazi beschrieben werden. Er wurde jetzt in Frankreich verhaftet, was zur Folge hatte, dass der Kreml den französischen Botschafter einbestellte.

Die russischen Hooligans kämpfen aber nicht etwa gegen die westliche Lebensweise oder die Russlandpolitik der EU? Wollten sie den „verweichlichten Westeuropäern“ nur mal zeigen, wie richtige Kerle kämpfen?

Solche Aussagen gab es von rechten Politikern in Russland. Ob die Hooligans so tief denken, wage ich mal zu bezweifeln. Denen geht es darum zu beweisen, dass sie die härtesten Typen sind.

Was erwartet uns noch in den kommenden Tagen?

Ich habe mitbekommen, dass sich russische Fans zurückhalten wollen, so lange sie nicht provoziert werden. Ob sie sich daran halten, oder was sie als Provokation werten, bleibt dabei fraglich. Ich bin daher auf mehr Gewalt eingestellt.

savona 18. Juni 2016 um 00:36

Zu den Besonderheiten des russischen Auftretens dieser aktuelle Artikel aus Spiegel Online. Immerhin wird hier das Rätsel um die Rechtfertigung der Aggressionen möglicherweise gelöst: „patriotische Notwehr“.

Die Ausschreitungen während der Europameisterschaft werden verharmlost oder anderen in die Schuhe geschoben: englischen Fans, weil sie die Russen gereizt hätten, oder der französischen Polizei, weil die unfähig sei. Sogar Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich ein und nahm die Schläger in Schutz. Er habe „empörende Aufnahmen gesehen, auf denen die russische Fahne mit Füßen getreten wurde und Beleidigungen an die Adresse von Russlands Führung geschrien wurden“ – als hätten die russischen Hooligans aus patriotischer Notwehr gar nicht anders gekonnt, als ihre englischen Rivalen auf die Intensivstation zu prügeln.

Kein Grund, sich zu entschuldigen

Die Nachrichtenagentur Ria Nowosti ging noch einen Schritt weiter. Das Unternehmen gehört seit 2014 zur Staatsholding „Russland Heute“ gehört und wird von dem Propagandisten Dmitrij Kisseljow geführt, der schon darüber räsonierte, Russland könnte die USA in „radioaktive Asche“ verwandeln. Nach den Krawallen von Marseille veröffentlichte Ria Nowosti einen Kommentar, der die Täter nicht nur in Schutz nahm, sondern die Gewalt noch adelte. „Wenn russische Fans andere Fans zusammenschlagen, und die europäische Polizei Angst hat, sich ihnen in den Weg zu stellen, dann empfinde ich wenn schon nicht Stolz auf die Russen, so doch Befriedigung“, heißt es in dem Text.

Der Autor des Textes, der Publizist Maxim Kononenko, lobt sogar, ihm gefalle „ein russischer Schläger, der einem anderen, nicht russischen Typen den Kiefer zertrümmert“. Kononenko schreibt, er könne nicht verstehen, weshalb Russland die Krawallmacher bei der EM verurteilen solle. Im Gegenteil, sie seien doch eine Art Avantgarde im Kulturkampfs mit dem Westen. Es gebe keinen Grund, sich gegenüber Europa zu entschuldigen: „Soll es doch in der Hölle schmoren, dieses Europa“.

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Florian 17. Juni 2016 um 00:08

Interessante Einschätzung. Aber zu den Allianzen innerhalb der russischen Hooliganszene noch etwas: Mir wurde das kürzlich aus dem Torpedo Moskau Umfeld so dargestellt, dass Rivalitäten bei den Auswärtsspielen der Nationalmannschaft ruhen, wie das auch in anderen Ländern der Fall ist. Beliebt seien diese Fahrten auch bei Russen aus anderen Orten (Riga z.B.). Die angesprochene Frankreich-Karte habe ich auch gesehen, sie aber eher als primitiven Witz eingeordnet. Sie war mit Zonen für ZSKA, Spartak und Loko sehr Moskau-lastig. Die ZSKA-Zone hatte eigentlich gar keinen Spielort mit drauf. Und tatsächlich war auf den Bildern aus Marseille viel Zenit zusehen (Music Hall), aber auch Hinweise auf kleinere Clubs wie Orjol oder Shinnik.

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hsf 16. Juni 2016 um 21:00

Egal aus welchem Land die Gewalttäter kommen, Null-Toleranz und maximale Härte ist die einzige Sprache die dieses Gesindel versteht. Isolieren, festnehmen, einsperren, evtl. Entzug von Bürgerrechten und Staatsangehörigkeit. Es darf getasert und auch scharf geschossen werden auf dieses verdammte Dreckspack!

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August Bebel 16. Juni 2016 um 23:39

„Es darf […] auch scharf geschossen werden auf dieses verdammte Dreckspack!“ Das halte ich für völlig übertrieben, menschenverachtend und gefährlich. Zum „Entzug von Bürgerrechten und Staatsangehörigkeit“: davon abgesehen, dass ich das ebenfalls für problematisch halte, werden ja gewisse Verbindungen russischer Hooligans zum russischen Staat auch im Interview thematisiert; ein solches Vorgehen der russischen Regierung scheint mir demnach ziemlich unwahrscheinlich.

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savona 17. Juni 2016 um 00:42

In der Tat hat man vom Entzug der Staatsangehörigkeit, wie sie Hollande in der ersten – verständlichen – Erregung nach den November-Attentaten thematisierte, seitdem nichts mehr gehört; aus gutem Grund: er wäre gleichermaßen inhuman wie unpraktikabel.

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savona 16. Juni 2016 um 13:12

Das Interview ist gut. Dass die übrige Berichterstattung da nicht mithalten könne, stimmt aus meiner Sicht nicht. Die hier dargestellten Fakten sind mir jedenfalls samt und sonders bekannt. Darüber hinaus auch, dass deutsche Hooligans in Lille anlässlich des Ukraine-Spiels ebenfalls sehr unangenehm aufgefallen sind. Die unterschiedliche Behandlung der russischen und der englischen Fans, was die Androhung von Sanktionen betrifft, hat meines Wissens folgenden Grund: Im Stadion waren es Russen, die die Engländer attackierten.
Hier sind UEFA und nationale Verbände zuständig. Die Engländer haben sich – auch gestern wieder – bisher ausschließlich außerhalb der Stadien daneben benommen, was an und für sich keinen Deut besser ist, wofür sich die Verbände aber nicht zuständig fühlen.

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Michi 16. Juni 2016 um 14:56

Danke, Savona, die Differenzierung habe ich in der Hitze überlesen. Wobei sich hier auch die Frage der Provokation stellt. Insbesondere angesichts des späten Ausgleichs.

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savona 16. Juni 2016 um 16:10

Wenn man die Connection Shprygin – Lebedew – Schirinowski berücksichtigt, ist es m.E. nicht erforderlich, nach Rechtfertigungen zu suchen. Das hat auch nichts mit Russen-Bashing zu tun. Andere Gestalten verschiedenster Nationalität sind ebenfalls übel, keine Frage. Das macht das Auftreten und den weltanschaulichen Hintergrund der russischen Protagonisten kein bisschen besser. – Davon abgesehen:
Danke für die freundliche Rückmeldung.

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Michi 16. Juni 2016 um 16:47

Wobei Herr Veth die Politiker nicht in Verbindung mit den angesprochenen Ereignissen bringt. Ich persönlich bin auch geneigt, die 2 Fragen voneinander getrennt zu sehen. Den weltanschaulichen Hintergrund können wir daher getrost beiseite lassen. Es geht nur um die Gewalt. Und die kann durchaus gerechtfertigt sein.

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savona 16. Juni 2016 um 17:36

Gewalt gerechtfertigt? Die Engländer haben nach dem Spiel nicht geprügelt, Notwehr scheidet also aus. Gibt es noch weitere Rechtfertigungsgründe? Mir sind jedenfalls keine bekannt.

Dass Lebedew öffentlich kräftig applaudierte, mit recht merkwürdigen Argumenten, ist ja nun hinlänglich bekannt. Ich finde, da ist ein Blick auf den weltanschaulichen Hintergrund durchaus legitim, um nicht zu sagen, angebracht.

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savona 16. Juni 2016 um 18:29

Wenn man Provokation als Legitimation für physische Gewalt akzeptiert, öffnet man die Büchse der Pandora. Ein britischer Rechtsradikaler fühlte sich soeben vom Einsatz einer Labour-Abgeordneten für den EU-Verbleib so sehr provoziert, dass er sie mit dem Ruf „Britain first!“ leider töten musste. Wo will man die Grenze ziehen?

Michi 16. Juni 2016 um 18:36

Die Engländer haben nicht geprügelt? Das glaubt doch kein Mensch. Rechtfertigung war im Übrigen untechnisch gemeint.
Nochmal zum Hintergrund: Im Artikel wird die politische Motivation der Hooligans verneint. Ich persönlich schließe mich dieser Ansicht an.
Diverse russische Politiker, die dem ganzen einen weltanschaulichen Hintergrund verleihen – darum sollte sich UEFA kümmern. Stattdessen geht es nur um die armen und unschuldigen englischen Fans… Eier, wir brauchen Eier! Ist müßig.
Viel Spaß beim Fussballschauen!


Kirmoar 16. Juni 2016 um 12:29

Danke für das interessante Interview. Eine Frage dazu. Kann man abschätzen wie sich das bei der WM 2018 verhalten wird. Wird man die Hooligans zurückhalten im eigenen Land, soweit überhaupt möglich, oder wird es ähnliche Probleme geben? Da wir gerne hinfahren würden fragen wir uns natürlich schon wie sich das verhalten wird.

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CE 16. Juni 2016 um 14:18

Es ist nicht davon auszugehen, dass ein Aufenthalt in Russland 2018 besonders gefährlich sein wird. Natürlich kann man es nie zu 100 Prozent garantieren, aber das gilt schließlich für jedes Großereignis. Nur in Russland ist keine Gewaltwelle während der WM zu erwarten.

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Michi 16. Juni 2016 um 14:52

Ich glaub die Sicherheitsvorkehrungen in Russland werden vielleicht nur von Katar getoppt. Es gibt sogar Stimmen, die die derzeitige Gewaltwelle gerade mit dem in naher Zukunft fehlenden Prügelplatz erklären.

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radicaled 16. Juni 2016 um 12:04

Wichtiger Beitrag zu einer völlig überhitzten Diskussion.

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Michi 16. Juni 2016 um 10:48

Und wieder einmal hebt sich SV deutlich von der übrigen Berichterstattung ab, Respekt und vielen Dank! Zwischen dem allgegenwärtigen Russland-Bashing wird endlich deutlich, dass Missachtung nicht (mehr) die einzige Antwort auf Provokation ist. Fairerweise müsste man England auch nach Hause schicken.
Natürlich ist die Interpretation der Provokation risikobehaftet. Dieses Risiko dürfte aber angesichts der aktuellen Ereignisse wirklich überschaubar sein.
Hinzuzufügen ist vielleicht die in Russland sehr verbreitete (wenn auch in einer leicht veränderten Fassung) Redewendung: Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen, Matthäus 26-52.

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