Blick über den Tellerrand – Folge 31

Wohin fällt der erste Blick über den Tellerrand des Jahres 2016? Zunächst geht es nach São Paulo, anschließend nach Italien zum Topspiel zwischen der Fiorentina und Inter. Zum Abschluss in der Betrachtung: Ein uruguayischer Nachwuchsverteidiger, der diese Saison bereits Champions League gespielt hat. 

Spiel der Woche I: Corinthians – São Paulo FC 2:0

blick über den tellerrand 31 cor-spfcIn Brasilien ist es derzeit wieder Zeit für die vielen regionalen Staatsmeisterschaften. Am vierten Spieltag des Wettbewerbs in São Paulo kam es zum ersten Klassiker zwischen zwei der großen Teams. Es trafen die Corinthians – amtierender brasilianischer Meister – und Stadtrivale São Paulo FC aufeinander. Nachdem mit Palmeiras der Erzfeind der Corinthians in den vergangenen Jahren nicht mehr so oft vorne mitspielte, diese beiden Teams aber deutlich näher an Erfolgen und Tabellenspitzen waren, hatte die Intensität der Rivalität zuletzt einen leicht erhöhten Stellenwert.

Das „Majestoso“ genannte Duell entwickelte sich zu einem von solider Diszipliniertheit geprägten Match, das nur wenige Höhepunkte aufwies. Die beiden Mannschaften bekämpften sich in vielen engen, teilweise mannorientierten Duellen und vielen in Mittelfeldzonen ausgeglichenen Szenen. Auch wenn die Durchschlagskraft auf beiden Seiten fast gleichermaßen ein Problem darstellte, wurde mit der Zeit doch immer klarer, dass letztlich die Corinthians das grundsätzlich überlegene, da insgesamt vielseitigere, gruppentaktisch harmonischere und flexiblere Team waren.

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Pressingszene Corinthians, André attackiert Lucão

Nach dem überlegenen Gewinn des brasilianischen Meistertitels im vergangenen Dezember hat es bei der Mannschaft von Trainer Tite einen großen personellen Aderlass gegeben. Über die Hälfte der Stammkräfte verließ den Verein, mehrheitlich in Richtung der chinesischen Liga. In neuer Besetzung zeigte sich die Mannschaft bereits wieder auf solidem, recht komplettem Niveau, sehr funktional und defensiv stabil. Natürlich funktionierte noch bei weitem nicht alles in dem Maße wie zum Jahresende 2015, die neuen Einzelspieler sind weniger kreativ als ihre Vorgänger, doch prinzipiell sah der Auftritt ganz gut aus.

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In der tiefen Staffelung leicht unbalancierte zurückgefallene Positionierung des Dreiermittelfelds der Corinthians

Zu Anfang der Partie hatten sie noch einzelne Balancefindungsprobleme, gestalteten zum Beispiel die typische tiefe Aufbaupräsenz durch viele zurückfallende Bewegungen nicht ausgewogen genug. Gegen das disziplinierte, teils sehr sauber getimte gegnerische Pressingherausrücken am Flügel wurden sie einige Male zurückgedrängt und mussten risikolos in der hintersten Linie spielen. Phasenweise eröffneten sie auch zu oft seitlich. Über die einleitende Nutzung Fágners mit ballhaltendem oder raumöffnendem Zurückfallen von Giovanni Augusto samt diagonalen Anschlussbewegungen von Rodriguinho oder André konnten sie halbrechts aber vereinzelt – und später häufiger – in vordere Bereiche gelangen.

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Zunächst: Das Herausrücken des Flügelspielers im Pressing kann den Aufbau der Hausherren zurückdrängen.

Später: Beispielsweise wird Fágners aufbauende Rolle immer wirksamer. Hier versucht er einen riskanten Diagonalpass durch die Schnittstelle, den entweder Giovanni Augusto (rechter Bildrand) oder der zurückfallende André erreichen soll. Beim SPFC schiebt Hudson seitlich mit nach.

Zudem fanden sie im weiteren Verlauf mehr Balance bei der positionellen Verteilung im Sechserraum. Durch kleinere Rochaden – bspw. das Andribbeln Bruno Henriques gepaart mit diagonalem Zurückfallen eines Achters – konnten sie einige Male per Überzahl hinter die erste gegnerische Pressinglinie eindringen und von dort das Spiel zentral weitertragen. Anfangs waren ihre Versuche noch wenig erfolgsstabil gewesen, hatten eher zu kleineren Raumgewinnen geführt, doch mit der Zeit wurden sie effektiver, hatten einzelne sehenswerte Aktionen. Im zweiten Drittel gab es einige gute Dreiecksbildungen zwischen Mittelfeld – der junge Maycon als stabiler, zuverlässiger, helfender Fixpunkt wertvoll – und Außenverteidigern.

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Die Corinthians sind in die Zone hinter der gegnerischen Pressingspitze gelangt und könnten von dort nun eine Überzahl weiterentwickeln.

In den vorderen Zonen fanden sich häufig klare Abläufe – noch nicht so harmonisch, aber prinzipiell klug und solide gedacht. Dazu gehörten beispielsweise zielstrebige Tiefen- oder – vor allem von Lucca und Rodriguinho – diagonale Kreuzbewegungen, dazu das Zurückfallen Andrés. Insgesamt waren die genauen Einbindungen und Bewegungsmuster aber noch nicht so abgestimmt, zumal die individuelle Qualität und gerade Kombinationsstärke geringer ist als in der Vorsaison. So kam die letzte Durchschlagskraft kaum zustande, weshalb das 1:0 aus einem individuellen Fehler nach geklärtem Direktpassangriff halbrechts fallen musste.

Nicht zum ersten Mal zeigte sich auf der Gegenseite die Mannschaft des neuen Trainers Edgardo Bauza im Offensivspiel eher eindimensional. Die beiden auf Stabilität bedachten Sechser schoben bei den häufigen Flügelangriffen zwar seitlich gut mit und sicherten in verschobener Anordnung die vorderen Staffelungen diszipliniert mit ab. Doch fehlte eine passende Ausrichtung der Angriffskräfte, mit der diese passive Spielweise hätte ausgeglichen werden können. Stattdessen waren beispielsweise die Flügelrollen sehr linear und bieder angelegt.

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Gegen eine hier nicht so gute Defensivstaffelung der Corinthians zeigt São Paulo einen der vielen klaren Flügelangriffe.

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Hier hat sich Hudson nach außen bewegt, um einzuleiten und abzusichern, es besteht aber trotzdem die Gefahr, seitlich festgedrückt zu werden. Corinthians hier mit guter Organisation.

Es gab einzelne simple Mechanismen wie Pärchenbildungen und kurzes Einrücken zum Raumöffnen oder zur Strafraumunterstützung, doch insgesamt ließ sich damit kaum mal genug Präsenz um den Ball herstellen. Weiträumige Verlagerungen mit einem Fokus auf individuelle Dribblings sorgten mal für etwas Unruhe, doch zu Chancen kam man damit gegen die solide Staffelungsverteilung der Hausherren und das saubere Nachrücken von deren Achtern nicht. Auf der Zehnerposition war bei São Paulo der begabte Nadelspieler Ganso nicht wirklich gut eingebunden, schien keine konkrete Rollenvorgabe erhalten zu haben.

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São Paulo versuchte hier recht vorsichtig und unpräsent am Flügel entlang zu spielen, mit Michel Bastos und Mena. Etwas tiefer hat sich auch Ganso mit nach außen begeben.

Er musste die zentralen Offensivräume häufig alleine beleben, hatte kaum Anspielstationen für kurze Weiterleitungen oder technische Glanzstücke in Engen. So verschob er gelegentlich mal etwas zur Seite und half ansatzweise auf dem Flügel, aber das brachte sein Team auch nicht mehr entscheidend voran. Letztlich erwies sich die Spielweise der Gäste über weite Strecken als zu konventionell und uninspiriert, um das solide, gruppentaktisch abgeklärte 4-1-4-1 der Corinthians mit seiner passenden Horizontalkompaktheit, einzelnen guten Pressingmechanismen, losen Mannorientierungen und recht sauberen 4-2-3-1/4-4-1-1-Übergängen in Verlegenheit zu bringen.

Erst in den letzten zehn Minuten zeigte São Paulo nochmals kleine Offensivannäherungen. Mit der Einwechslung Kelvins ging Michel Bastos ins zentrale Mittelfeld und erzeugte von dort für etwas mehr Zug. Neben einzelnen schnellen Verlagerungen sorgten vor allem manche Läufe in Zwischenlücken für Ansätze. In diesem Zusammenhang ließ sich Ganso vermehrt etwas fallen, zog Gegner auf sich und legte das Leder dann im richtigen Moment gegen die auf ihn rückenden Corinthians-Spieler horizontal in eine Aufrückgasse quer.

So konnte Michel Bastos Dynamik zum Angriffsdrittel aufnehmen und anschließend in Strafraumnähe die Außenstürmer wirksamer bedienen. Nach einer effektiv vorbereiteten Flanke Rogérios gab es eine dicke Ausgleichschance durch einen unbedrängten Kopfball des ballfern nachgeschobenen Mena aus Nahdistanz – mehr war dann aber auch nicht los. Auf der Gegenseite erhöhten die Gastgeber nach einer Standardsituation kurz vor Ende auf 2:0 und sicherten den – trotz einer eher unterkühlten und noch nicht so harmonischen Leistung, trotz geringerer Zahl an Abschlüssen – verdienten Sieg damit ab.

Ein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an laola1.tv, die uns freundlicherweise das Bildmaterial zur Verfügung stellen. Die in diesem Jahr dort angebotenen Live-Übertragungen der Campeonato Paulista sind zu empfehlen.

Spiel der Woche II: Fiorentina – Inter 2:1

blick über den tellerrand 31 fio-intWar die absolute Topbegegnung zwischen Juventus und Napoli das samstägliche Highlight des Serie-A-Spieltages, übernahm für den Sonntag die Partie Fiorentina gegen Inter die Rolle des Krachers. Beide Teams befinden sich noch mitten im Kampf um die Champions-League-Ränge, wobei Inter – nach gewisser Überperformance zu Saisonbeginn – zuletzt schwächer werdende Resultate zeigte. Bei der Fiorentina setzt Paulo Sousa seine bereits in Basel gezeigte Flexibilität fort: Schon formativ zeigte sich dies im bevorzugten asymmetrischen 3-4-2-1/3-5-2, das diesmal jedoch von einer 4-2-3-1/4-4-1-1-Anordnung ersetzt wurde.

Im Aufbau formierten die Hausherren aber trotzdem oft eine Dreierkette, indem Marcos Alonso weiter nach vorne rückte, während sich Roncaglia und Astori ähnelten. Zu Beginn versuchte Inter in einem 4-3-3 früh mannorientiert die fünf hintersten Spieler des Gegners zuzustellen, wenngleich auch hier schon nicht immer konsequent. Zwischendurch gab es immer Momente, in denen die nominellen Außen seitlich überspielt und Tello oder Marcos Alonso eingebunden werden konnten. Durch weites Herausrücken von Alex Telles und seitliches Unterstützen durch Brozovic konnte Inter das etwas abbremsen.

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Aufbauformation Fiorentina, Defensivformation Inter

So begann schon relativ schnell ein Prozess, in dessen Fortgang die Gäste zunehmend abwartender wurden, vereinzelt auch mal ins 4-1-4-1 zurückfielen. Nun konnten die Hausherren das Leder in ihrer dreierkettenartigen Struktur ruhig und dominant laufen lassen. Anschließend ging es für die Fiorentina weiterhin vor allem über die Flügel nach vorne. Links hatten sie beispielsweise praktisch eine doppelte Flügelbesetzung und mehrere ausweichende Bewegungen Borja Valeros, rechts kam häufig Unterstützung des seitlich gehenden und dribbelnd antreibenden Ilicic.

Damit gelang es dem Team von Paulo Sousa gut, an der passiven und oft vor allem eng strukturierten Ordnung der Gäste vorbei zu spielen sowie in die Nähe des Strafraumecks vorzudringen. Von hier hatten sie jedoch Probleme, konstant wieder in die Mitte zu gelangen und dann zu konstanter Durchschlagskraft zu kommen. Letztlich konnte Inter mit der konsequent tiefen Haltung von Medel und Kondogbia, Improvisation, einzelnen abrupten Rückwärtspressingaktionen sowie guter Endverteidigung viele der violetten Ansätze noch auffangen.

Die nominellen Achter versuchten so oft wie möglich außen zu doppeln, auf der rechten Defensivseite fiel bei dortigen Viola-Angriffen vereinzelt Brozovic stabilisierend nach hinten und gliederte sich in eine Fünferkette an. Im Verlauf der Partie immer wichtiger und langlebiger wurde jedoch die weit zurückgezogene Positionierung von Rodrigo Palacio – nicht nur im Verhältnis zum freieren Éder, sondern auch zum Mittelfeld. Später bewegte er sich oft sogar hinter den dann etwas vorgeschobenen Brozovic zurück, sicherte in enger Stellung recht aufmerksam die Halbraumlücke zwischen Zentrum und Nagatomo.

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Vor allem in der zweiten Halbzeit häufig zu sehen: Palacios absicherndes Zurückfallen

So konnte der Japaner herausschieben und Marcos Alonso unter Druck setzen. Gerade das entstehende Dreieck zwischen Palacio, Brozovic und Medel zusammen mit den Bewegungen des Außenverteidigers war eine unangenehme Struktur für den Weg, von außen in die Halbräume zu drängen. Da Inter insgesamt sehr klar nur auf absichernde Stabilität bedacht war, kaum jedoch kollektiven Zugriff oder Ballgewinne suchte, wurde dies deutlicher. Die Fiorentina hatte vor diesem Hintergrund Schwierigkeiten, den einrückenden Bernardeschi dort zwischen bzw. hinter den Gegnern auch einbinden zu können.

Halbrechts zeigte sich Ilicic engagiert und mit einigen guten Ideen, aber strategisch und in seinen Entscheidungen schwankend. Bei ihm wurde am deutlichsten, dass die Hausherren zu sehr neben die gegnerische Formation herauskippten, wenn sie zum Flügel wichen. Alles in allem hatte die Fiorentina also Aufbausicherheit und -vielseitigkeit, kam auch oft nach vorne, aber die horizontalen Verbindungen zwischen den Halbräumen fehlten. Trotz ihrer vielen unterstützenden, dominanten Bewegungen konnten sie durch das Zentrum kaum mal Präsenz aufbauen geschweige denn wirklich dort hindurch spielen.

So wurden die dominanten Hausherren stattdessen vor allem nach Konterangriffen gefährlich, die sie mit präsentem Umschaltnachrücken der Flügelspieler, situativem Zocken und starken Weiterleitungen von Kalinic klug gestalteten. Gewisse Absicherungsschwächen Inters boten den Florentinern dafür eine Plattform. Bei den Gästen zeigten sich im Offensivspiel die Verbindungen zwischen den Achtern etwas unsauber, zumal situativ beide auf die Flügel zogen und dabei potentiell mal hohe Zonen anvisierten. Auch die Rollen der offensiven Außenspieler waren eher brachial angelegt.

Manchmal rochierte einer der beiden kreuzend mit auf die andere Seite herüber. Dann gab es manch präsente Flügelüberladungen, die aber ambivalent daherkamen. Die zu Teilen ansehnlichen Staffelungen konnten durch die etwas improvisierte und wirre Anlage, den hohen individuellen Dribblingfokus und die zu große Betonung der vorderen Präsenz nie ganz entfaltet werden. Fast immer passten einzelne Positionierungen oder Bewegungen überhaupt nicht zum restlichen Ansatz. Ein häufiges Beispiel waren suboptimale Ballungen im Strafraum, wodurch dann Zwischenverbindungen zur Überladungsgruppe fehlten.

Wenn sich die Achter mal mehr auf die Absicherung konzentrieren, hatten die Interisti in Verbindung mit diesen gelegentlichen Überladungsversuchen einige stabile Phasen. Daneben gab es aber ebenso Spielabschnitte, in denen das Gesamtsystem der Mailänder alles in allem zu wenig Absicherung und Gegenpressingqualität – in halbgaren Zwischenmomenten liefen sie unintensiv, aber halbwegs kollektiv nach hinten – gewährleisten konnte. So hätten sie schon in der ersten Halbzeit einen Gegentreffer per Konter kassieren können, überstanden mit etwas Glück und Strafraumverteidigung aber mehrere Großchancen noch.

Zu diesem Zeitpunkt führten die Gäste – durch ihren einzigen Torschuss überhaupt – noch mit 0:1. Beim Tor hatte sich ihre Offensivpräsenz mal ausgezahlt: Wie es gelegentlich vorkam, verteidigte die Fiorentina hier nur in einer etwas unsauberen 4-3-Staffelung, da beide Außenstürmer zu sehr auf das Umschalten lauerten. Die in solchen Szenen oft tiefe Rolle von Ilicic sorgte für Stabilität und gab den Sechsern mehr Optionen im Herausrücken, in diesem Fall gelang jedoch der Zugriff auf den Schnittstellenpass nicht schnell genug. Im Nachschuss war man dann ballfern zu anfällig: der mal nach links gewichene Brozovic profitierte.

Ansonsten hatten die Hausherren aber mehrere effektive Szenen gegen den Ball, ließen Inter phasenweise durch gute Pressingarbeit überhaupt nur selten ins Angriffsdrittel kommen, so dass diese letztlich bloß sechs Abschlussversuche – nur drei aus dem Spiel heraus – zustande brachten. Zum einen nutzten die Hausherren ein 4-4-2, das sich entscheidend über die Intensität im frühen Anlaufen und optional freies Nachrücken eines Sechsers ins 4-1-3-2 definierte. Die beiden Spitzen verstanden es aber einige Male geschickt, den Sechserraum zu verstellen, so dass Inter zu langen Bällen gezwungen werden konnte.

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Grobe, schematische Darstellung für eine beispielhafte, hier stärker 4-4-1-1-hafte Situation, in der die Fiorentina ins 4-2-3-1 zurückfällt und Inter am Achterfokus etwas zu sehr seitlich tendiert.

Vereinzelt war es mal einer der Außenstürmer, beispielsweise Bernardeschi von links, der vorne mit zustellte, während sich Ilicic dann klarer an Medel orientierte und der andere Flügel den Außenverteidiger Inters, auf den geleitet wurde, presste. Das konnte dann zwischendurch mal ein Stück weit dreierkettenartig wirken. Misslang die dortige Zugriffsherstellung, zogen sich die Gastgeber im zweiten Drittel schnell in ein 4-2-3-1 zurück, das mit loser Mannorientierung gegen Medel die Mailänder wieder etwas zur Seite schieben sollte. Oft kippte dann Kondogbia links neben die Formation, was für die Viola gut aufzufangen war.

Im Rückzug ins Abwehrdrittel zeigte sich das Team von Paulo Sousa dann bisweilen wiederum aber etwas undiszipliniert, wenn einzelne Akteure nur  verspätet nachrückten, oder – teils auch in der Reaktion darauf – etwas unsauber. Der hohe Dribbling- und Individualfokus Inters vermochte das aber nicht entscheidend zu bestrafen. Gegen solch kleinere, dann auf mannschaftlicher Ebene liegende strukturelle Schwächen fehlte es den Gästen an entsprechend kollektiver Klarheit. Das 0:1 war die Ausnahme – und das konnten ihre Defensive am Ende nicht bis zum Schluss halten.

Die Kehrseite der konsequenten Passivität von Mancinis Team wurde selten aufgedeckt, beim Ausgleichstor nach einer Stunde aber doch. Wenn man lang genug in die Breite zirkulierte, konnte man Inter immer mehr nach hinten drängen – irgendwann schoben Medel und Kondogbia vielleicht zu nah an die letzte Linie, wie in jener Szene: Letztgenannter, sonst zuverlässig, kam nicht mehr rechtzeitig zum Doppeln, danach fehlte auch der Zugriff auf Bernardeschi am Strafraumeck. Mit etwas Glück konnte Borja Valero dessen Lupferflanke verwandeln. In der Nachspielzeit drehte ein Präsenzangriff gegen die personell dezimierten Gäste die Partie sogar noch.

Spieler der Woche: Guillermo Varela

Die personellen Nöte, in die Louis van Gaal und Manchester United diese Saison dann und wann geraten sind, haben einen jungen Uruguayer wieder ins Spiel gebracht, der bei den „Red Devils“ fast schon von der Bildfläche verschwunden schien: Rechtsverteidiger Guillermo Varela.

Er kam 2013 nach der U20-WM von Peñarol aus seinem Heimatland zu United. Weil er sich dort zunächst nicht durchsetzen konnte, die meiste Zeit bei den Reserves verbrachte und zwischenzeitlich an Real Madrids Castilla-Team ausgeliehen war, galt der mittlerweile 22-jährige zu Saisonbeginn einigen Beobachtern bereits als „gescheitert“. Auch seit er unter van Gaal ab Dezember den einen oder anderen Einsatz – am auffälligsten sicher sein Champions-League-Debüt im wichtigen letzten Gruppenspiel gegen Wolfsburg – erhielt, scheint er teilweise immer noch etwas unter dem Radar zu laufen.

Besonders beeindrucken konnte der eher unbekannte Uruguayer bei seinen Auftritten ab Dezember durch die individuelle Arbeit in der Defensive. Dort zeigte er sich stabil und bot auch in direkten 1gegen1-Duellen starke Grätschen, durch die er selbst schwierige Situationen gegen gute Dribbler spitzfindig und bisweilen mal überraschend klären konnte. In 90 Minuten weist seine Statistik sehr gute 5,6 Tacklings auf. Auch seine Herausrückbewegungen waren überzeugend, übrigens bisher bei einem Wert von durchschnittlich 2,4 Interceptions pro 90 Minuten. Im Anschluss an abgefangene Bälle agierte er vereinzelt zwar etwas unambitioniert in der Folgeaktion, aber mehrheitlich sorgte er doch für schöne, saubere Ballsicherungen.

An dieser Stelle ist seine teilweise sehr aufmerksame Antizipation herauszuheben, die nicht nur für das herausrückende Abfangen von Pässen, sondern auch für die Strafraumverteidigung sehr wertvoll ist. Bei gegnerischen Flügeldurchbrüchen auf der ihm fernen Seite nimmt Guillermo Varela klug die Gesamtsituation in den Blick. Er rückt konsequent horizontal nach, erahnt und antizipiert mögliche Empfänger einer Hereingabe. Dadurch hat er potentiell einen gewissen gedanklichen Vorsprung. Häufig kann er verhindern, von Gegnern aus seinem Rücken überrascht zu werden, sondern nachschiebend vor diesen klären.

Überhaupt agiert er im Hinblick auf (mögliche) lose Bälle aufmerksam und in der Umsetzung einer Aktion energisch wie zielstrebig. Entsprechend sieht man bei ihm meistens zudem gute Beteiligung am Gegenpressing oder auf zweite und dritte Bälle. Umgekehrt könnte man Guillermo Varela auch als Ankerpunkt für „erhöhtes Gegenpressingaufkommen“ einbinden oder nutzen, da er mit Ball prinzipiell doch noch recht unsauber agiert. Zwischendurch sind Phasen geringerer Erfolgsstabilität oder größerer Streuungen diesbezüglich dabei. Das kommt allerdings nicht daher, dass er beispielsweise so viele Risiko-Zuspiele anbringen würde.

Vielmehr hält sich Varela im Passspiel eher zurück, sucht häufig nochmals den Rückweg in die Zirkulation – in diesen ruhigen Phasen auch recht sauber. Zunächst bewegt er sich etwas tiefer, versucht aber durch minimale Anpassungen seiner Positionierung – vor und speziell nach Pässen – etwas Raum zu erzeugen. In seiner passiven Art nutzt er diesen im Folgenden nicht selbst, sondern will Mitspielern oder gruppentaktischen Möglichkeiten zuarbeiten. Insgesamt kann man sagen, dass er – gerade wenn es dann bspw. über Dribblings in die vorderen Zonen geht – seine Außenverteidigerrolle sehr angenehm vorbereitend und zuliefernd interpretiert.

Das schlägt sich klar in seinen Aktionen wider, die nur selten auf eigene Durchbrüche abzielen, sondern vor allem die Kollegen in günstige Situationen zur Initiativaufnahme bringen sollen. Entsprechend trifft Varela daher in der überwiegenden Anzahl der Fälle im letzten Drittel gute Entscheidungen. Gelegentlich merkt man aber noch, dass er in manchen Momenten etwas unbalanciert wird und dann zu überrationalen oder überfokussierten Aktionen neigt. Trotzdem macht sich Guillermo Varela gerade für jemanden mit seinem „Stellenwert“, der manchen vielleicht das Selbstverständnis des großen United nicht gut genug verkörpert, insgesamt sehr gut.

Abschließend sei nochmals auf die bereits kurz erwähnten Dribblings des Uruguayers eingegangen. Quantitativ greift er zwar eher selten zu diesem Mittel und setzt es, wenn er das tut, vor allem spontan reagierend aus der Situation heraus ein, denn wirklich strukturell und aktiv. Dann erwiesen sich die Dribblings aber sehr effektiv situationslösend und raumfindend. Grundsätzlich gutes Dynamikgefühl, einzelne unorthodoxe Auftaktbewegungen, kleine Moves wie Croqueta-Nutzungen, leichte und dabei möglicherweise eher unbewusste Varianten in der Ballführung sowie schließlich kluges Erkennen von freien Zwischenlücken sind dafür ursächlich.

Dies verweist generell auf das Thema Bewegungsabläufe, ein auffälliger Aspekt beim jungen Uruguayer. Seine Körperdrehungen sind prinzipiell klar und sauber, wenngleich er sie oft noch etwas isoliert „zwischendurch“ nutzt anstatt konkret in Situationen, wenn sie gerade helfen würden.  Finten und andere Täuschungsmanöver sind bisweilen noch etwas wacklig. Es scheint, als habe Guillermo Varela in seinen Bewegungsfolgen immer mal gewisse abstoppende, rhythmusverändernde „Bruchstellen“. Festzuhalten sind also einerseits sehr charakteristische und eigentümliche Bewegungsfolgen mit Potential, andererseits aber noch manche Disharmonie in einigen koordinativen Punkten.

Nun muss man zum Schluss einschränken, dass es im Großen und Ganzen doch erst vier Pflichtspieleinsätze für den jungen Uruguayer gegeben hat – zuletzt Ende Januar im Pokal bei Derby County. Er ist also noch keinesfalls zu einer regelmäßigen Einbindung gekommen, wenngleich er mittlerweile sehr konstant im 18er-Kader steht. Trotzdem wären weitere Einsätze wünschenswert, auch van Gaal könnte Varela noch mehr zutrauen. Eine viel bessere Wahl auf der Rechtsverteidigerposition als den jungen Uruguayer hat das Team bei der derzeitigen Personalstruktur eigentlich nicht.

Bernhard 18. Februar 2016 um 10:06

Wie immer ein exterm informativer Artikel deinerseits, TR. Besonders deine Artikel zur Serie A habe ich sehr gerne, da sie in deutschsprachigen Medien wenig behandelt wird.
Was ist deine Meinung zum AC Mailand unter Mihajlovic. Die Ergebnisse stimmen zwar, aber wie würdest du – kurz und knapp – ihre Spielweise beschreiben?

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TR 18. Februar 2016 um 21:58

Danke für das Feedback. Zur Frage kann ich leider nichts sagen, da ich Milan diese Saison unter Mihajlovic praktisch gar nicht verfolgt habe. Von daher kann ich da nur auf die eine Analyse zum Spiel Juve-Milan vom Kollegen RM verweisen. Möglicherweise wird es von uns im Laufe der Rückrunde aber noch eine mehr oder weniger ausführliche Betrachtung zu Milan geben.

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August Bebel 17. Februar 2016 um 23:41

Zunächst mal Kompliment, ist schon der Wahnsinn, was hier alles abgedeckt wird. Dann wollte ich noch bemerken, dass ich mich ein wenig über Inters Niederlage gefreut habe, denn wann immer ich sie gesehen habe (was zugegebenermaßen nicht oft war), waren sie schwach, wie hier beschrieben defensiv eher passiv und offensiv zwar effektiv, aber kaum aktiv. Wie spielt Inter eigentlich, wenn sie Favorit oder in Rückstand sind?

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DaVe 17. Februar 2016 um 22:43

Interessanter Artikel, gut geschrieben.
Im Bezug auf den letzten Teil interessiert mich, wie du aufgrund der RV-Situation bei United den Abgang von Rafael im Sommer siehst. SAF schien ja immer eine sehr hohe Meinung von ihm zu haben, LvG ja scheinbar eher nicht (lassen wir die Verletzungsanfälligkeit mal außen vor).
Kann’s selbst nicht so beurteilen da ich ManUnited zu wenig aktiv verfolge.

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DaVe 18. Februar 2016 um 07:25

Sorry für den doppelpost mein Browser am Handy ist abgeschmiert und ich dachte dass der 1. Post nicht durch ist ihr könnt einen löschen

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TR 18. Februar 2016 um 22:03

Nun, ich habe damals den Abgang Rafaels, zumal wenn man nur eine solch geringe Ablösesumme einstreicht, mit gemischten Gefühlen aufgekommen, da er potentiell doch mit seinen diagonalen Dribblingmöglichkeiten oder manchem kreativen Element ein gefährlicher Außenverteidiger für die Offensive sein kann. Es scheint aber so, als hätten seine gelegentliche Inkonstanz und seine kleineren Defensivschwächen van Gaal nicht gefallen – und als habe ihn das gleich besonders gestört. Gerade die Verpflichtung von Darmian deutete ja zunächst auch darauf hin, dass für den Rechtsverteidigerposten eher auf Defensivstabilität gesetzt und damit geplant wurde (mit Valencia als attackierender Alternative). Ist letztlich vielleicht in dem Punkt nicht so gut gelaufen und prinzipiell wäre Rafael weiterhin eine interessante Variante gewesen.

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Falke 17. Februar 2016 um 22:34

Interessanter Artikel, gut geschrieben.
Mich interessiert gerade im Hinblick auf den letzten Teil, im Bezug auf die Rechtsverteidiger Situation bei United, wie du den Rafael Abgang siehst. SAF hatte ja ne ziemlich hohe Meinung von ihm, Van Gaal scheinbar ja eher nicht (Verletzungsanfälligkeit hin oder her). Hab nie wirklich bewusst auf ihn geachtet kann’s daher nicht wirklich einschätzen.

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