Türchen 20: Hacki Wimmer

Hacki Wimmer, Motherfucker!

Wenn man spezielle Spielertypen beschreiben will, dann nutzt man ja gerne markante Spielertypen, die bekannt sind. Challenge accepted. Ich packe meinen Wimmer und nehme mit:
Jack Wilshere
Gennaro Gattuso
Christoph Kramer
Kevin Großkreutz
Jordan Henderson
Henrikh Mkhitaryan
Lars Bender
Garrincha
Leon Goretzka
Alfredo Di Stefano

Kollege RM nennt ihn auch gerne den deutschen Pelé. Das versteht zwar nur er selber, aber hey: der deutsche Pelé!

Aber fangen wir kurz von vorn an: Herbert „Hacki“ Wimmer ist ein deutscher Nationalspieler aus den 70er Jahren von Borussia Mönchengladbach. Er startete zu Beginn seiner Karriere als Rechtsaußen, spielte später aber alle Mittelfeldpositionen. Als Stammspieler wurde er 1972 Europameister mit der Mannschaft, die heute noch vielen als die spielstärkste DFB-Auswahl jemals gilt. Zudem war er Weltmeister, fünffacher deutscher Meister, DFB-Pokal- und UEFA-Pokal-Sieger.

Was ihn auf jeden Fall mit Pelé verbindet war seine überragende Athletik. Wimmer war als „Lunge von Netzer“ für seine irre Laufstärke bekannt. Noch beeindruckender ist aus meiner Sicht aber seine Dynamik. Vor allem auf den ersten Metern war er brutalst explosiv. Auch seine physische Durchsetzungskraft war stark.

Born to be Pressingmaschine

Wimmers wichtigste Fähigkeit war aber sein Gespür dafür, wie er seine athletischen Fähigkeiten effektiv einbringen konnte. Im Manndeckungsfußball der 70er wusste er, geschickt mit den Räumen umzugehen, die zwischen den Duellen auf dem Platz entstanden. Er selbst verfolgte Gegenspieler meist nur bei Vorstößen in Ballnähe eng und driftete ansonsten durch den Raum, behielt dabei auf entscheidende Gegenspieler jedoch Zugriff. So konnte er bei Zuspielen mit Dynamik in die Zweikämpfe gehen und Bälle sehr sauber und spektakulär erobern. Mit gutem individualtaktischen Geschick war seine Zugriffsverhalten zudem überaus präzise.

Dabei hatte er einen immensen Zugriffsradius, individuell wie positionsbezogen. Durch sein Tempo und seine gute Antizipation konnte er sehr frühzeitig entscheidende Räume attackieren und im richtigen Moment in die Zweikämpfe kommen oder Pässe abfangen. Dementsprechend interpretierte er seine Position auch sehr frei und weiträumig, rückte immer wieder weit heraus, wechselte zwischen Flügel und Zentrum und orientierte sich intuitiv stark am Ball und der ballbezogenen Struktur.

Raumfüllender Ganzfeld-Balancespieler

Wimmer war aber nicht nur eine aggressive, intensive Dampframme, sondern hatte in dieser wild erscheinenden Spielweise ein überragendes Gefühl für das Spiel. Er tauchte zu unterschiedlichsten Zeitpunkten in unterschiedlichsten Räumen auf, aber meistens zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Raum, ohne dabei woanders zu fehlen. So balancierte und verband er weiträumig die Mannschaftsteile, sorgte für Präsenz seiner Mannschaft und verhinderte, dass Mitspieler isoliert wurden.

Bekannt gewurden ist er dafür, dass er für Günter Netzer die Laufarbeit verrichtet; dass ein Spieler nicht nur für sich selber, sondern auch noch den Nebenmann laufen konnte, ist schon beeindruckend genug, aber diese Beschreibung reduziert mir Wimmer zu sehr auf seine Lunge. Viel mehr war Wimmer einfach der geborene Balancespieler, der eben dort auftauchte, wo es notwendig war. Er lief für alle, für die Struktur, nicht für Netzer. Netzers wankelmütige Präsenz fokussierte diese Fähigkeit nur.

So tauchte Wimmer selbst als rechter Flügelläufer auch mal auf dem linken Flügel auf. Er stopfte nicht nur Löcher, er machte auch jede Menge antreibende Läufe nach vorne. Seine gelegentlichen Bewegungen in den Strafraum waren gut, er schuf Präsenz im offensiven Mittelfeld, er überlud die Flügel. Er schuf gruppentaktische Dynamiken, öffnete Räume und forderte den Ball erst dann, wenn der Ball zu ihm kommen musste. Wimmer war überall, ohne jemandem im Weg zu stehen. Sein Gefühl dafür präsent zu sein, ohne dominant sein zu müssen, war brillant.

Raumnutzender Box-to-Box-Dribbler

Mit dem Ball verlor Wimmer kaum etwas von seiner Explosivität, sodass er sich hervorragend im Eins-gegen-Eins durchsetzen konnte. Diese Fähigkeit war wohl der Hauptgrund dafür, dass er häufig als Flügelstürmer eingesetzt wurde, besonders zu Beginn seiner Karriere. Dabei konnte aber nicht nur seine Geschwindigkeit nutzen, auch individualtaktisch war er sehr geschickt. Er bewegte sich mit Ball gut auf den Gegner zu und fand den richtigen Augenblick um mit Bewegungsvorteil zu starten. Und auch seine Ballkontrolle war stark, selbst bei hohem Tempo.

Diese Dribblingfähigkeiten brachte er im Laufe seiner Karriere dann immer häufiger im Zentrum ein. Dabei bewies er sehr gutes Raumgefühl und bestrafte gegnerische Unkompaktheiten simpel und effizient. Im direkten Zweikampf wich er meist problemlos aus, stürmte dann durch die offenen Räume und brachte seiner Mannschaft viel Raumgewinn mit wenig Risiko – eine der wichtigsten Elemente einer guten Mannschaft, die garantiert, dass man Spiele dominant gestalten kann.

Auch seine Folgeaktionen waren grundsätzlich auf sinnvolle, unspektakuläre Weise kreativ. Sein Passspiel war relativ sauber und strategisch klug, besonders in puncto Nutzung offener Räume. Dadurch war er weniger spektakulär als ein berüchtigter Passspieler wie Netzer, aber nicht unbedingt weniger effektiv. Gerade in einem Umfeld mit vielen durchschlagskräftigen Spielern um sich herum, erlaubte er diesen, ihre eigene Kreativität in hohen Zonen einzubringen. Auch Kombinationsansätze bracht er hier und da ein, wobei sich das aufgrund seiner weiträumigen Natur nicht so häufig anbot.

Hektische Tollpatschigkeit

Die Symbiose aus Harmonie und Aggressivität gelang Wimmer jedoch nicht in Perfektion. Er hatte nicht die enorme Erfolgsstabilität moderner Box-to-Box-Spielmacher, sondern überdrehte hier und da. Durch sein immenses Tempo wurde er zuweilen selbstverschuldet in unangenehm dichte Räume gedrückt und versuchte dann hier und da Aktionen mit fehlender Körperbalance.

Generell kann man ihm rückblickend schon anmerken, dass er gerade seine kreativen, spielmachenden Anlagen nicht so bewusst und konzentriert versucht einzubringen. Er neigt etwas zu stark zur dynamischen Lösung, gibt hier und da zu viel Gas und verpasst es, das Spiel einfach mal zu beruhigen. So gab es auch regelmäßig überhastete Distanzschüsse, Flanken oder schlecht gewählte tödliche Pässe. Das alles ist aber auch im Kontext der Zeit zu sehen, wo Erfolgsstabilität im Offensivspiel ohnehin vielen abging. Wimmer war in erster Linie im Mittelfelddrittel seiner Zeit voraus.

Apropos: Ein weiterer Kritipunkt wäre die fehlende Verantwortung für den eigenen Strafraum. Im tiefen Verteidigen hat er der Abwehr öfter auch nur zugesehen. Seine Pressingradius streckt sich seitlich und nach vorne, nicht so nach hinten. Daher schaltete er hier und da auch mal ab, wenn er überspielt wurde, was gerade in Unterzahlsituation auch mal passieren konnte. Ganz so konstant in seiner Intensität, wie man vielleicht vermuten würde, war Wimmer nicht. Aber ohne diese Defizite wär er halt Alfredo Di Stefano gewesen.

Wenn dich dein Wasserträger überragt

So war Wimmer in seiner Ausstrahlung wohl weniger unantastbar als andere Spielertypen doch in seiner Effektivität schlichtweg ein überragender Akteur. Neben den Netzers und Beckenbauers des Landes ging das häufig unter, auch weil seine Fähigkeiten nicht so fokussiert und von den langen Bällen der Spielmacher zuweilen sogar übergangen wurden. Wimmer drängte sich dann nicht auf, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre. Man hätte das Spiel auch auf ihn konzentrieren können anstatt auf Netzer. Aber sagen wir mal so: Wohl dem, der Hacki Wimmer haben kann, ohne dass es auffällt.

Ich persönlich sehe in Wimmer einen der komplettesten und wirkungsvollsten Mittelfeldspieler aller Zeiten und schätze ihn auch effektiver ein als Netzer. Der Goalimpact gibt mir da übrigens Recht – von den nicht mehr aktiven Spielern ist Wimmer der 25. beste Spieler aller Zeiten:

herbert-wimmer2 guenter-netzer2

Dass er bei allem Erfolg dennoch so viel weniger Wertschätzung erfährt, ist mal wieder ein Hinweis auf eine Fehlkonzeption der öffentlichen Spielerbeurteilung: Zum einen wird von Spielern selbstloser Teamgeist erwartet, zum anderen wird davon ausgegangen, dass die allerbesten Spieler egoistische Individualisten sind. So wird ein Fehler zum Qualitätsmerkmal und eine Qualität wird auf hohem Niveau geringgeschätzt. Ein mannschaftsdienlicher Spieler taugt immer nur zum Wasserträger, nicht zum Star. Wer es sich leisten kann, auf Mannschaftsdienlichkeit zu verzichten, und dennoch stark ist, der ist der Star.

In dieser Gleichung fallen die Spieler unter den Tisch, die so sehr dem Spiel dienen, dass sich die Frage nach Egoismus oder Mannschaftsdienlichkeit gar nicht mehr stellt. Die sich Egoismus leisten könnten, es aber nicht tun. Kollektivkünstler statt Einzelkünstler. Spieler wie Hacki Wimmer.

HK 22. Dezember 2015 um 16:35

Hacki Wimmer. Na das ist ja mal ein Überraschungscoup. Aber spricht ja nix dagegen,

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Peda 22. Dezember 2015 um 06:57

Den Absatz unter der Fehlkonzeption der öffentlichen Spielerbeurteilung sollte man sich einrahmen und prominent aufhängen. Wunderschön formuliert, spricht mir aus der Seele!

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AM 20. Dezember 2015 um 21:37

Er stand halt nicht in der WM-Finalelf von 74. Sonst würden sich mehr an ihn erinnern.

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Schorsch 20. Dezember 2015 um 18:17

Gerade eben habe ich noch in einem anderen Zusammenhang von der Fähigkeit Hennes Weisweilers geschrieben, junge Spieler nicht nur zu entdecken, sondern sie auch hervorragend zu entwickeln – da erscheint hinter diesem Türchen Hacki Wimmer!

Da hatte ich ganz andere Spieler auf dem Schirm und werde diesbezüglich auch wohl nicht der einzige gewesen sein. Was mich aber nicht weiter wundert, fast muss man schon damit rechnen… 😉

Mal wieder eine echte Überraschung, aber eine durchaus positive (wie eigentlich immer bei diesem Adventskalender)! Hacki Wimmer, einer aus der Europameistermannschaft von 72, der für mich besten deutschen Nationalmannschaft überhaupt. Einer aus der legendären Fohlenelf. Eine echte Freude!

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