Türchen 2: Frank Rijkaard
Die Bezeichnung „The Big Three“ stammt u.a. aus dem Basketball: Drei individuell herausragende Spieler, die den Kern einer Mannschaft und ihrer Rotation geben. Chris Bosh, LeBron James und Dwyane Wade sind hierbei als wohl bekanntestes Beispiel zu nennen, die 2012 und 2013 die Meisterschaft holten. Im Fußball gibt es das eigentlich nicht, wobei eine Mannschaft immer wieder als Beispiel für einen solchen kleinen, besonderen Kern gilt: Der AC Mailand unter Arrigo Sacchi. Mit Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco Van Basten begann die enorm erfolgreiche Ära der späten 80er, welche von dieser zentralen Achse getragen wurde.
Natürlich hatte Milan damals noch zahlreiche andere Spieler von Weltklassequalität in den Reihen, nicht zu vergessen die herausragende Verteidigung um Maldini und Baresi oder Donadoni auf dem rechten Flügel, die als tolle Individualisten galten. Doch Rijkaard, Gullit und Van Basten verkörperten in jener Zeit einen gewissen Flair und Stil. Die drei Niederländer waren allesamt überaus komplette Spielertypen und übernahmen tragende Funktionen.
Van Basten als Mittelstürmer schloss die Angriffsbewegungen ab und ermöglichte Vorstöße, Gullit organisierte das Spiel im letzten Drittel und nutzte seine Mischung aus Physis und Technik für den Angriffsvortrag, während Rijkaard mit Carlo Ancelotti im zentralen Mittelfeld das Spiel gestaltete und die Pressingbewegungen stabilisierte. Jahre später sollte Rijkaard als Mischung aus Sechser und Innenverteidiger mit Ajax eine junge Mannschaft zu einem weiteren CL-Triumph führen.
Rijkaards Erbe ist allerdings umstritten. Manchen gilt er als Prototyp des aufbauenden Sechsers, anderen als Sinnbild des spielstarken Zerstörers und für andere wiederum als der komplette Fußballer im zentralen Mittelfeld. Das englische Wikipedia singt sogar folgende Lobeshymnen auf ihn:
In 2010, Rijkaard was described by British broadsheet The Daily Telegraph as having been „a stylish player of faultless pedigree“. A complete, tenacious, and consistent midfielder, throughout his career he was praised by pundits for his physical and athletic attributes, his work rate, positioning, his acute tactical intelligence and decision making, as well as his outstanding ability to read the game. Rijkaard was also a strong tackler, who was adept at starting attacking plays once he won back possession. He also possessed a powerful shot. He is regarded as one of the best defensive midfielders in footballing history and one of the best players of his generation.
Die Wahrheit liegt dazwischen und überall. Rijkaard war nämlich ein überaus ambivalenter Akteur.
Lange Probleme mit der eigenen Physis und dem Spielgefühl
Wie häufig auf Spielverlagerung geschrieben, sind es meist nicht die eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften, sondern die Einbindung dieser, welche einen Fußballer und seine Leistung(smöglichkeiten) definieren. Hier lagen lange Zeit und querbeet über seine Karriere verteilt die Makel Rijkaards.
Wie soll man schon spielen, wenn man eigentlich alles kann? Rijkaard verfügte über herausragende Physis und eine tolle Technik, doch immer wieder schwamm er präsenzlos in der eigenen Struktur mit oder übertrieb es in der Arbeit gegen den Ball; überschätzte seine Weiträumigkeit und die Stabilität seines Zugriffverhaltens. Gelegentlich brachte er diese allerdings auch nicht adäquat ins Spiel, was ihn phasenweise zu einem soliden, aber nicht herausragenden Spieler machte.
Xavi und Guardiola – beispielsweise – hatten gewisse physische Limitationen, die sie zu jenen Spielern machten, die sie waren. Sie fokussierten sich auf bestimmte Aspekte, auf Präzision im Passspiel und in der Bewegung, auf Antizipation klarer Situationen und der Kontrolle ihres Umfelds. Dabei waren sie herausragend, doch ihre Möglichkeiten – und folglich jener Rahmen, den sie kontrollieren lernen mussten – waren relativ gering, rein aus einer räumlich-physischen Perspektive betrachtet.
Rijkaard hatte weder diesen Nachteil noch die positive Konsequenz davon. Ein Spieler wie er hätte das Fußballspiel – wenn es nicht so sehr auf Kleinräumigkeit und Geschicklichkeit ausgelegt wäre – eigentlich dominieren und unterwerfen können. Kontrolle von enormen Feldern mit überaus sauberen Balleroberungen, direkte Folgeaktionen nach der Balleroberung, ob per Dribblingvorstoß oder Pass sowie Omnipräsenz wirkten möglich, doch waren es nie. Mal ging er in der Dynamik des Spiels verloren, mal war er eingekerkert in den Unmöglichkeiten seines Potenzials, das volle Spektrum seiner Fähigkeiten konnte er nie ganz entfalten.
Diese mangelnde Balance in der Einbindung seiner Fähigkeiten dürfte auch der Grund dafür sein, warum nicht alle von Rijkaards Klasse überzeugt sind – und jene, die es sind, ihn so unterschiedlich einschätzen. In gewisser Weise entstanden dadurch Probleme, die Rijkaard nie gänzlich lösen konnte.
Ein besonderes Problem war die mangelnde Konstanz im Spiel mit Ball. Im Gegensatz zu Nebenmann Carlo Ancelotti, der hier einem etwas behäbigeren Modric ähnelte, war Rijkaard oftmals nicht feingliedrig genug, um seine eigentlich vorhandenen Stärken im Passspiel und auch im Dribbling regelmäßig nutzen zu können. Vielfach traute er sich zu viel zu, versuchte enorm druckvolle, schwierige und auch kreative Pässe, wo es sowohl an Entscheidungsfindung als auch an Erfolgsstabilität mangelte.
Stattdessen hatte Rijkaard Partien und Phasen, wo ihm schlichtweg das passende Gefühl für Situation und Mitspieler fehlte. In anderen Spielen wirkte er bisweilen unangenehm zurückhaltend, was sowohl in der Positionsfindung durch geringe Aktivität und positionelle Unsauberkeit als auch in den zu simplen Pässen war. Interessanterweise zeigte er die in meinen Augen hervorragendsten Einzelleistungen darum auf einer anderen Position.
Der modernste Innenverteidiger auf der Sechs
Die meisten kennen Rijkaard eigentlich nur aus zwei Karrierephasen; bei Milan als Sechser und bei Ajax in einer Rolle, die manche als „Switch-Innenverteidiger“ bezeichneten. Prinzipiell spielte er in letzterem System – wie Busquets unter Guardiola in der Saison 2011/12 oder Kimmich und Vidal letztens – als ein Sechser, der bei Bedarf in die Abwehrreihe zurückfallen oder sich eben wie ein Sechser im Mittelfeld an den Pressingaufgaben beteiligen konnte.
Oftmals wird vergessen, dass Rijkaard bereits beim AC Mailand mehrfach als Innenverteidiger in einer Viererkette agierte und schon in der Jugend sowie seinen ersten Profijahren auf dieser Position ausgebildet wurde. Persönlich fand ich seine Leistungen dort am stärksten, was gewisse taktikpsychologische Gründe hatte.
Im Mittelfeld hat man als Sechser Optionen in alle Richtungen, man befindet sich in der Schaltzentrale – taktisch wie psychologisch – des Spiels, man kann enorme Weiträumigkeit riskieren, wenn man es gut macht, da es Absicherung und Unterstützung gibt. Als Innenverteidiger muss man klarer und limitierter vorgehen. Man hat keine Absicherung, man hat kaum eine Möglichkeit direkten Einfluss ins letzte Drittel auszuüben und ist positionell deutlich gebundener an die eigene Linie.
Diese Bindung und Limitiertheit zähmte das tolle Potenzial Rijkaards. Aus der wirren Weiträumigkeit gegen den Ball und der inkonstanten, teils übertriebenen und drückenden Entscheidungsfindung in Ballbesitz wurde ein herausragend stabiles Zugriffsverhalten in seiner Zone, hervorragende Dynamik in der Raumkontrolle, ein klareres Bewegungsspiel mit Ball und eine weiterhin offensive und aggressive Passfertigkeit, aber mit deutlich höherer Erfolgsstabilität.
Rijkaard als Innenverteidiger nahm das vorweg, was selbst heute nur von einigen herausragenden Spielern praktiziert werden kann; den Thiago Silvas und Jerome Boatengs der Welt. In dieser Partie gegen Juventus aus der Saison 1988/89 ist es zumindest in meinen Augen deutlich zu sehen, welches Potenzial in Rijkaard schlummerte. Und teilweise wurde es später noch genutzt.
Spezialrolle im späten Alter
Womöglich war es das Alter, welches wie die Positionierung und die damit einhergehende Verantwortung, welches Rijkaard Mitte der 90er zähmte. Im Trikot Ajax‘ und unter der Ägide Louis Van Gaals spielte Rijkaard in der erwähnten Rolle des Vorstoppers, der zwischen Mittelfeld und Abwehr pendelte. Er konnte sich im Spielaufbau ebenso zurückfallen lassen wie in der Arbeit gegen den Ball, insbesondere weil die Achter der 3-1-2-1-3-Formation häufig die gegnerischen Flügelstürmer manndeckten und die Halbverteidiger sich an den gegnerischen Stürmern orientieren. Mit Litmanen besetzte Rijkaard flexibel die Mitte und seine (verbliebene) Physis erhielt nun Zweck und Ordnung.
Dazu konnte er bei höheren Ballpositionen der eigenen Mannschaft auch die höheren Zonen besetzen, zeigte die früheren „box-to-box“-Ansätze ebenso wie seinen hervorragenden Distanzschuss und seine Wucht in der Strafraumbesetzung, insbesondere bei Kopfbällen. Diese Rolle ermöglichte Rijkaard noch einen späten Frühling – und eine Rehabilitation seiner Ambivalenz in einer der herausragendsten Mannschaften der jüngeren Geschichte.
Analysen von Ajax 1995 gibt es hier auf Niederländisch bei unseren Freunden von Catenaccio und hier auf Englisch. Einen interessanten Zusammenschnitt findet man überraschenderweise hier, dazu haben wir natürlich auch ein Trainerporträt Louis Van Gaals.
17 Kommentare Alle anzeigen
Karl Alone 16. Dezember 2015 um 11:18
Big Three im BBall:
Muss da eher an die Houston Rockets mit Olajuwon, Drexler und Barkley denken.
Alle 3 waren wirklich „Big“ — bei Wade und Bosh …. hmmmmm ….
AS 16. Dezember 2015 um 14:51
…und trotzdem haben sie keine Meisterschaft in ihren zwei Jahren zusammen errungen. Dafür hat dein (fast) Namensgeber gesorgt. Vielleicht sind sie (LeBron, Wade, Bosh) deswegen das bekannteste Beispiel.
HW 5. Dezember 2015 um 18:51
Insgesamt wird hier ganz schön drauf gehauen. Keine Ahnung ob das so berechtigt ist.
Andererseits ist jeder Spieler davon abhängig richtig eingesetzt zu werden. So einfach lässt sich ein Spieler nicht hin und her schieben. Dem einen bringt es vielleicht etwas. Anderen dagegen nichts, im Gegenteil.
Man sieht nicht nur, dass es wichtig ist spielstarke Spieler in der letzten Reihe zu haben (bzw. diese Person, die im letzten Drittel vertikal verschiebt mit allen taktischen Auswirkungen), sondern auch, dass nicht jeder spiel- und konditionsstarke Spieler ins defensive Mittelfeld gestellt werden muss.
Todti 3. Dezember 2015 um 20:24
Schöner Artikel, als du aber LeBron, Bosh und Wade als prominentestes Beispiel für The Big Three gebracht hast, musste ich mir eine Träne verdrücken.^^
HK 2. Dezember 2015 um 12:28
Ist das eine Hommage oder ein Verriss?
blub 2. Dezember 2015 um 12:33
Wenn dus nicht weist ist es gelungen 😉
Gh 2. Dezember 2015 um 10:14
Inwieweit erkennst du Rijkard dann als Trainer wieder? Fand in seiner Spätphase bei Barca nie bessere Halbzeiten, die dann so abstürzten. Finde Rijkard hat sich sowohl als Spieler bei Milan als auch als Trainer an der hohen Kunst des Souffle-Backens gemacht. Wenn so was klappt ist es das Größte, da verzeih ich jeden in sich zusammenfallenden Versuch gerne. Leider heute zuviel Gewicht auf Erfolgsstabilität.
Fänger 2. Dezember 2015 um 10:03
Es gibt Leute, die an der Klasse von Rijkaard zweifeln?
Chris7910 2. Dezember 2015 um 08:25
„Die Bezeichnung „The Big Three“ stammt u.a. aus dem Basketball: Drei individuell herausragende Spieler, die den Kern einer Mannschaft und ihrer Rotation geben. Chris Bosh, LeBron James und Dwyane Wade sind hierbei als wohl bekanntestes Beispiel zu nennen, die 2012 und 2013 die Meisterschaft holten. Im Fußball gibt es das eigentlich nicht….“
Ist das nicht etwas unglücklich formuliert, wenn man gerade auf Barcelona guckt, mit ihren MSN Sturm ?
WerderFan 2. Dezember 2015 um 10:54
Das ist allerdings nur der Sturm, den Kern der Mannschaft würde ich vielleicht als Busquets, Iniesta und Messi bezeichnen. Aber die Vergleichbarkeit mit den NBA-Spielern ist nicht unbedingt gegeben, weil der Rest des Barca-Teams auf einem annähernd gleich hohen Niveau spielt.
HW 2. Dezember 2015 um 11:07
Im Fußball ist es die zentrale Achse, die oft ein erfolgreiches Team ausmacht. Beim Basketball hat man mit drei von fünf Spielern schon fast das ganze Team beschrieben, daneben stehen wenige Rollenspieler.
Im Fußball braucht es neben einer Achse von mindestens drei Spielern noch weitere ‚Stammspieler‘. Der Vergleich zu anderen Sportarten hinkt natürlich wenn die Konzepte unterschiedlich sind.
Schorsch 2. Dezember 2015 um 12:40
Der AC Milan hatte schon einmal so etwas wie „The Big Three“ in seinen Reihen. Anfang der 50er, „Gre-No-Lie“, ebenfalls alle drei aus einem Land nördlich der Alpen. Die legendären Schweden Gunnar Gren, Gunnar Nordahl und Nils Liedholm bildeten auch eine Art Achse und trugen entscheidend zum Gewinn des Meistertitels 50/51 bei. Die 3 waren aucn in der schwedischen Nationalmannschaft erfolgreich; 1948 wurde man z.B. Olympiasieger (da waren alle drei noch Amateurspieler). Der skandinavische Teil meiner Altvorderen hat immer von diesen Spielern geschwärmt. In der ewigen Torschützenliste der italienischen Liga dürften sie noch weit vorne zu finden sein.
HW 5. Dezember 2015 um 18:54
Wobei mit dem Wechsel nach Italien und dem Profitum die Karriere in der schwedischen Nationalelf vorbei war, oder irre ich mich?
Schorsch 6. Dezember 2015 um 12:13
Ja und Nein. Der schwedische Fußballverband nominierte grundsätzlich nur Amateure für die Nationalmannschaft. Deshalb wurden die drei, die 1949 nach Italien als Profis zum AC Milan gewechselt waren, für die WM 1950 in Brasilien nicht nominiert. Dort wurde man Dritter (wobei man Teilnehmerzahl und Modus berücksichtigen muss) und schlug Italien und Spanien. Nicht wenige Schweden waren der Auffassung, dass mit Gre-No-Lie wesentlich mehr möglich gewesen wäre. Die Niederlage gegen Brasilien hätte man vielleicht nicht verhindern können (7:1!), aber die unglückliche 3:2 – Niederlage gegen Uruguay auf jeden Fall.
Der schwedische Verband hat es sich einige Jahre später dann anders überlegt. Andere Spieler hatten es Gre-No-Lie nachgemacht und waren als Profis ins Ausland gegangen (Hamrin). Da die WM im eigenen Land anstand und man sich ohne die Profis schlechtere Chancen ausrechnete, wich man von der vorherigen Ideologie ab. Gren (der nach Schweden zurückgewechselt war) und Liedholm spielten für das Nationalteam, beide waren schon jenseits der 35. Man erreichte bekanntlich sogar das Finale. Nordahl hingegen spielte nicht mehr für die Nationalelf.
Philo 2. Dezember 2015 um 04:33
Kleiner Hinweis: Ich konnte den Artikel in der Grafik nicht anklicken (im Gegensatz zu dem zu Kubala), daher musste ich über die Kommentarleiste gehen.
CE 2. Dezember 2015 um 05:51
Das lag daran, weil der Zuständige für die Grafiken, also ich, zu dieser Uhrzeit noch schläft. Kannst aber auf der Startseite einfach runterscrollen und die Beiträge unter „Neue Artikel aus der Kategorie Adventskalender“ anklicken. Ganz ohne Umwege.
Tank 2. Dezember 2015 um 01:34
Da ich dem Artikel vollumfänglich zustimme, kann ich nur Folgendes als Ergänzung einbringen: Wer sich den gereiften Rijkaard mal gegen einen Top-Gegner angucken möchte, dem sei das Champions League-Finale 1995 empfohlen. Rijkaards letztes Profispiel und er zeigt eine sehr starke Leistung. Er wirkt viel fokussierter als in den Jahren zuvor. Wenn der Körper es nicht mehr macht, muss eben der Kopf einspringen.