Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 3
Dieser Artikel hat lange auf sich warten lassen. Vielleicht lag es an zeitlichen Engpässen des Autors, vielleicht war die dünne Quellenlage dafür verantwortlich. Oder: Dieser Artikel musste erst reifen. Er musste reifen, so wie es die Trainerpersönlichkeit von Diego Simeone tat.
Natürlich, Simeone war ein grandioser Fußballer. Einer dieser beinharten Staubsauger und Antreiber, die vor allem in den 1990ern über die Fußballfelder stürmten. Ganze Armeen wurden ihnen entgegengeworfen, um sie zu stoppen. Aber ich komme vom Thema ab.
Bevor Simeone seine unvergleichliche Ära bei Atlético Madrid im Jahr 2011 begann, hatte er bereits sechs Trainerstationen hinter sich. Die eine erfolgreicher als die andere. Insgesamt war Simeone kein heißes Eisen auf dem Trainermarkt, so wie das heute der Fall ist. Mit Estudiantes de La Plata gewann er 2006 das Torneo Apertura, mit River Plate dann 2008 das Torneo Clausura. Nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.
Vom Spieler zum Trainer
Sein letztes Profispiel absolvierte Simeone im Oktober 2005 gegen CA Rosario Central für Racing Club de Avellaneda. Er blieb noch bis Anfang des nächsten Jahres im Kader, hing aber seine Schuhe in dieser Zeit an den Nagel, nur um fast postwendend das Traineramt bei Racing zu übernehmen. Der damals 35-Jährige blieb dort allerdings nur rund drei Monate, was eine eingehende Bewertung seiner Trainerleistung eher schwierig macht.
„Ich hatte eigentlich geplant, durch Europa zu reisen und ein radikales Projekt mit Nelson Vivas [seinem späteren Assistenten bei Estudiantes, River Plate und San Lorenzo] zu entwickeln. Aber das Angebot der Albiceleste [Racing Club] kam sehr plötzlich und wir entschieden, es war zu gut, um es abzulehnen.“ (Diego Simeone)
Im Endeffekt schaffte Racing den Klassenerhalt, ohne dass Simeone dabei revolutionäre taktische Änderungen vornahm. Vielmehr war er bereits zu jener Zeit der absolute Motivator des Teams. Er wuchs als Altstar und argentinische Spielerlegende schnell in diese Rolle hinein. Junge Profis wie Maxi Moralez, aber auch bereits erfahrene Spieler wie der Ex-Bundesligaprofi Cristian Ledesma respektierten Simeone zu hundert Prozent. Nichtsdestotrotz verließ er nach der Neuwahl des Präsidentenamtes den Klub und wurde von Reinaldo Merlo ersetzt.
Anschließend dachte er wieder daran, ein neues Projekt mit Nelson Vivas anzugehen. Aber Simeone war lediglich 48 Stunden arbeitslos. Denn umgehend klingelte sein Telefon. Der Anruf vom Präsidenten von Estudiantes de La Plata kam erst zehn Uhr abends und Simeone entschied sich sofort, noch in den Nachtstunden das Trainingsgelände seines neuen Klubs zu besichtigen.
Sein Engagement bei den Pincharratas stellte auch einen ersten wirklichen Meilenstein in der Trainerkarriere dar. Er heuerte dort im Mai 2006 an und bereits im Oktober 2006 wählte ihn die Sportzeitung Olé zum Trainer des Jahres. Simeone ersetzte den nicht unbedingt erfolglosen Jorge Burruchaga, was schon ein gewisser Vertrauensvorschuss für einen unerfahrenen Jungtrainer war. Simeone baute die Mannschaft von Estudiantes um Routinier Juan Sebastián Verón, der nach elf Jahren zu seinem Jugendverein zurückkehrte. Nach eher durchwachsenen letzten Spielzeiten bei Chelsea und Internazionale wollte Verón seiner Karriere wieder neues Leben einhauchen. Und unter der Ägide seines ehemaligen Nationalmannschaftskollegen Simeone sollte dies gelingen. Gleich in der ersten Saison wurde Verón zu Argentiniens Fußballer des Jahres gewählt.
Im Viertelfinale der Copa Libertadores schied das Team im Elfmeterschießen gegen São Paulo aus. In der heimischen Liga hingegen legte Estudiantes einen unvergleichlichen Siegeslauf hin. Mit zehn Dreiern in Folge wurde der Klubrekord eingestellt. Dabei zerstörte Simeones Team unter anderem Club de Gimnasia y Esgrima La Plata mit 7:0 im traditionsträchtigen Clásico de La Plata. Am Ende der Spielzeit war Estudiantes punktgleich mit Ricardo La Volpes Boca Juniors. Da die Tordifferenz nicht von Bedeutung war, kam es zum Entscheidungsspiel auf neutralem Boden im Estadio José Amalfitani von Buenos Aires. Nach der frühen Führung von Boca durch Martin Palermo schlug Estudiantes in der zweiten Halbzeit – zu diesem Zeitpunkt waren beide Teams schon nur noch zu zehnt – per Freistoß durch Eigengewächs José Ernesto Sosa, der ein halbes Jahr später bei Bayern München unterschreiben sollte, und Mariano Pavone zurück. Die Startruppe Bocas um Palermo, Palacio, Ibarra und Jungtalent Gago war bezwungen. Simeone hatte den ersten großen Titel in der Tasche. Roberto Perfumo, einstiger argentinischer Starverteidiger der 1960er und 1970er sowie heutiger ESPN-Journalist, bezeichnete Simeone als „geborenen Trainer“.
„Boca hatte die Pokale für einige Zeit in Beschlag genommen. Also war der Gewinn auf diese Weise besonders spektakulär. Ich sage immer, Gewinnen ist alles. Aber es gibt Wege zum Sieg, die machen es noch erfreulicher.“
In der darauffolgenden Runde landeten Los Pincharratas auf dem dritten Rang hinter Meister San Lorenzo und Boca Juniors. Das 2007er Torneo Apertura lief umso enttäuschender, als ein schwacher Start alle Hoffnungen auf einen Titelgewinn begrub. Am Ende landete das Team nach neun Spielen ohne Niederlage noch auf dem sechsten Platz. Aber Simeones ehemaliger Lazio-Kollege Roberto Sensini ersetzte Cholo auf der Trainerbank.
Was zeichnete Estudiantes nun in dieser Zeit im Besonderen aus? Gerade in der erfolgreichen Spielrunde mit dem anschließenden Titelgewinn kam eine enorme Defensivstärke zum Tragen, sodass die Pincharratas die wenigsten Gegentore kassierten und zugleich alle Teams der Cinco Grandes besiegten. Im Grunde genommen setzte Simeone durchgehend auf ein 4-4-2 oder 4-4-1-1. Dabei war Verón stets der etwas vorgeschobene beziehungsweise vorstoßende Sechser, der dadurch auch die Angriffsstrukturen bestimmte. Rückte er beispielsweise mehr auf die linke Seite, so wurde der Spielaufbau auf diesen Flügel ausgerichtet, um Veróns Präsenz sowie die kleinen Überladesituationen zu nutzen.
Offensiv war zudem Mittelstürmer und Estudiantes‘ bester Torjäger Pavone von essentieller Bedeutung. Nicht nur lief er oftmals in die verlängerten Bälle, sofern im Aufbau zunächst Schläge in den Zehnerraum erfolgten, er riss für die zweite Spitze auch die entscheidenden Löcher aufgrund seiner hohen Aktionsrate. Sicherlich war Pavone auf die Unterstützung eines einrückenden Flügelspielers wie Diego Galván oder eines Verbindungsspielers wie Routinier José Luis Calderón angewiesen. Aber er konnte auch in manchen Phasen als Alleinunterhalter die Angriffe am Leben erhalten.
Gegen den Ball war Simeones Team bekannt für ein sehr rigoroses Kettenspiel. Die beiden Viererreihen standen durchweg horizontal kompakt, was gegen die vielen flügelfokussierten Mannschaften der argentinischen Liga durchweg effektiv funktionierte. Bei einem Außenspieler wie vor allem Sosa wurden sicherlich stets die offensiven Qualitäten herausgehoben. Aber auch die defensive Zuarbeit, das konstante, laufintensive Doppeln gehörten zum Aufgabenbereich der Flügelakteure.
So machte es Estudiantes einerseits dem Gegner sehr schwer aus Flügelisolationen herauszubrechen, andererseits wurde sehr schnell in die Spitze gespielt, wo es entweder zu raschen Abschlüssen oder aber zum Nachstoßen von Sosa und Verón kam. Und zu guter Letzt hatten die Pincharratas immer wieder gefährliche Standards, von Verón oder auch Sosa getreten, die eine enge Partie zu ihren Gunsten entscheiden konnten.
In der nächsten Runde hatte sich bei Estudiantes wenig bis gar nichts geändert. Der Klub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires konnte die Mannschaft zusammenhalten, weil Präsident Eduardo Abadie bis zum Ende des Torneo Clausura einen Transferstopp verhängte. Diese Sperre betraf gerade umworbene Spieler wie Sosa und Pavone, die beide dann in der nächsten Meisterschaftspause Estudiantes in Richtung Europa verließen. Sicherlich wurden junge Talente wie Enzo Pérez und Pablo Piatti integriert. Aber die angesprochenen Abgänge sowie ein Fernbleiben Veróns, mit dem sich Simeone öffentlich anlegte, von den ersten Partien des 2007er Torneo Apertura führten zu einem echten Horrorstart. Nach dem 2:4 gegen River Plate am fünften Spieltag kam Simeones Team zunächst nicht mehr aus dem Tabellenkeller heraus.
In dieser schwierigen Phase griff Simeone auf ein ungewöhnliches Mittel zurück. Der Legende nach zeigte er seinen Spielern Al Pacinos Kabinenansprache aus Any Given Sunday. Von nun an sollte es wieder bergauf gehen. Oder es lag an der Rückkehr von Verón…
„Es ist eine großartige Rede, die so viele Dinge zum Ausdruck bringt, an die ich glaube, die ein Team stark macht. Es ist eine Art, wie ich versuche, meine Spieler zu erreichen. Ich denke, der einzige Kniff ist, wie sie diese Nachricht aufnehmen – als Trainer musst du eine motivierende Nachricht verbreiten und dann liegt es an ihnen, wie sie diese Nachricht aufnehmen und wie sie es in ihre Spielweise auf dem Feld übertragen.“
Veróns zweiter Startelfeinsatz war am 13. Spieltag gegen Argentinos Juniors und anschließend gab es noch fünf Siege und zwei Remis, ohne eine Niederlage zu kassieren. Simeone hielt an sich an seiner taktischen Ausrichtung auch während der Krise von Estudiantes fest. Viele Niederlagen fielen dabei knapp aus. Die stabile Verteidigung mit einem horizontal kompakten Kettenspiel funktionierte immer noch. Aber: Simeone fand keine passende Antwort auf den Verlust wichtiger offensiver Schlüsselspieler. Etwas, das ihm auch phasenweise in der letzten Saison bei Atlético Madrid passierte.
Titel und Katastrophe beim Wunschverein
Schlussendlich trat er direkt nach dem Ende der Meisterschaft zurück und heuerte eine Woche später als Nachfolger seines Vorbilds Daniel Passarella bei River Plate an. Ähnlich wie zu Beginn seiner Amtszeit bei Estudiantes musste sein Team zunächst ein Ausscheiden in der Copa Libertadores verkraften – in diesem Fall gegen ein um zwei Spieler dezimiertes San Lorenzo. Diese Partie sollte Simeone später als eine seiner schwärzesten Stunden im Fußball bezeichnen.
Doch zum Ende des Torneo Clausura von 2008 stand River Plate an der Spitze der Tabelle. Es war die zweite Meisterschaft für Cholo Simeone. Ähnlich wie bei Estudiantes hatte das Kollektiv oberste Priorität. Das bekam insbesondere Altstar Ariel Ortega zu spüren, der nicht selten durch Disziplinlosigkeit und Alkoholprobleme auffiel. El Burrito war in Simeones 4-4-2 nicht immer gesetzt, aber passte dort auch nur bedingt hinein.
An hoher individueller Qualität mangelte es River jedoch nicht. Im Angriff stürmte an der Seite vom wilden Sebastián Abreu meist Radamel Falcao. Oder der junge Alexis Sánchez, gerade von Udine ausgeliehen, agierte ganz vorn. Über die Flügel griff unter anderem Diego Buonanotte an. Im Mittelfeld zogen Typen wie die heutige Klublegende Leonardo Ponzio oder Óscar Ahumada und Augusto Fernández die Fäden.
Wichtig für das Offensivspiel von River war zu jener Zeit gerade Falcao, dessen Präsenz im Zehnerraum meist die Anbindung zum Mittelfeld herstellte. Etwas anders verhielt es sich mit Ortega, der oft eine hybride Rolle zwischen Außenspieler und Zehner übernahm. Buonanotte hingegen war als dribbelnder Wirbelwind starrer auf den Flügel fokussiert.
Ein Merkmal, was hier bei Simeones River-Mannschaft wieder auftauchte, war die Konterstrategie, die zu einem höheren Prozentsatz auf den Fähigkeiten des vordersten Zielspielers beruhte. Abreu konnte mit seiner körperlichen Präsenz den Ball in vielen Szenen festmachen und anschließend auf die heranstürmende Meute weiterleiten. Ohne diesen Zielspieler waren die Millonarios auf eine ruhigere Ballzirkulation angewiesen, was ihnen aber eher selten gelang. Denn auch die Passstrukturen aus dem Mittelfeld heraus forcierten verstärkt steile, tiefe Anspiele. Die offensiven Flügel beziehungsweise vorstoßenden Außenverteidiger überliefen unablässig die gegnerische Abwehrlinie. In dieser Form konnten auch die defensiven Mängel – schwächere Verschiebemechanismen, zu großer Mannorientierungsfokus – sowie die Schwäche bei defensiven Standards übertüncht werden. River Plate gewann viele Partien aufgrund der zahlreichen herausgespielten Torchancen, die sicherlich durch eine von Simeone vergleichsweise offensive Ausrichtung auch erzwungen wurden.
„Hoffentlich wird er [irgendwann Argentinien trainieren], aber wenn nicht, würde ich wetten, er steht mit Atlético Madrid oder einem ähnlichen Klub 2010 im Champions-League-Finale.“ (Journalistin Marcela Mora y Araujo im Juni 2008 nach Simeones Titelgewinn mit River Plate)
Eigentlich blieb in der Personalabteilung vieles beim Alten, als River Plate in die nächste Meisterschaftsrunde startete. Allerdings verließ Weltenbummler Abreu kurzzeitig das El Monumental, um bei Beitar Jerusalem zu unterschreiben. Der Paraguayer Santiago Salcedo war kein passender Ersatz an der Seite von Falcao. Ähnliches galt für Gustavo Bou. Außerdem ging Torhüter Juan Pablo Carrizo zu S.S. Lazio. Zu Beginn des Torneo Apertura probierte Simeone interessanterweise neue Systemvarianten und dabei sogar kurzzeitige Möglichkeiten mit pendelnden Viererketten aus. Aber das war nicht von Erfolg gekrönt. Auch ein kompakteres 4-5-1 ohne Falcao gab es zu bestaunen, was vermutlich eine Reaktion auf die chronischen Kompaktheitsprobleme war. Doch die Synergien im Offensivzirkel waren verloren gegangen. River kassierte wie schon beim Meisterschaftsgewinn immer wieder Tore, konnte aber selbst offensiv nicht derart gefährlich werden. Schlussendlich wurde Simeone Mitte November 2008 entlassen. River Plate erholte sich nicht von der sportlichen Krise. Die Mannschaft verließ bis zum Ende der Runde nur noch einmal den letzten Platz, stand aber nach dem 19. Spieltag am Tabellenende – erstmalig in der damals 107-jährigen Vereinsgeschichte. Man muss aber an dieser Stelle auch erwähnen, dass dieser Absturz nicht nur taktische Gründe hatte. River Plate war ganz einfach ein total chaotischer Verein, wo selbst Simeone nicht immer die Oberhand behalten konnte. Der Meistertitel in der Runde davor verschlimmerte womöglich sogar die Situation bei den Millonarios. Man dachte sofort wieder, River Plate hätte den Glanz alter Tage. Dem war allerdings nicht so.
Enttäuschung in Flores
Mitte April 2009 wurde Simeone als neuer Trainer von CA San Lorenzo de Almagro vorgestellt und ersetzte Miguel Ángel Russo. Anscheinend war sogar TV-Star Marcelo Tinelli, einer der bekanntesten Fans des sehr beliebten Klubs, in den Deal involviert. Ungeachtet des katastrophalen Endes bei River Plate waren die Erwartungen an den jungen Trainer, der nun schon zwei Meistertitel in seiner Vita vorzuweisen hatte, groß. Doch Simeone konnte zusammen mit der Mannschaft diese Hoffnungen nie erfüllen und San Lorenzo aus dem Tief befreien. Die Emotionen kochten auch in der knapp einjährigen Amtszeit immer wieder hoch, so wie es schon seine Vorgänger anhand einer versuchten Stürmung des Teamhotels zu spüren bekamen.
Direkt nach der Amtsübernahme konnte Cholo in der Endphase des Torneo Clausura keine außerordentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Ergebnisse herbeiführen. San Lorenzo schloss auf Platz elf ab, was aufgrund des Saisonverlaufs noch respektabel war.
Die Mannschaft war gespickt mit erfahrenen Akteuren wie Cristian Ledesma, Santiago Solari, Kily González, Leandro Romagnoli und Bernardo Romeo, die allesamt auch in Europa ihre Duftmarken hinterlassen hatten. Einige jüngere Talente wie Juan Manuel Torres, Emiliano Alfaro und Alejandro Gómez, der Simeone später nochmal in Italien begegnen sollte, erzeugten rein theoretisch eine gute Mischung im Kader. Allerdings schmälerten die Verpflichtungen von González und Romagnoli im Sommer das Transferbudget erheblich.
Am Ende wurde Simeone mehr oder weniger mit einem Pfeifkonzert vom Hof gejagt, dabei lobte die Vereinsführung wiederum seine Arbeit mit den Talenten. Doch das anspruchsvolle Publikum von San Lorenzo schien verärgert darüber, dass Simeone das vermeintliche Starensemble nicht zu besseren Resultaten führen konnte. Nach dem siebten Platz im Torneo Apertura entstand noch Hoffnung, dass Cholo den gewünschten Aufschwung herbeiführen könnte. Sieben Niederlagen an den ersten zwölf Spieltagen des Torneo Clausura besiegelten das Ende Simeones.
Auch bei dieser Station setzte er vornehmlich auf 4-4-2- oder 4-4-1-1-Formationen. Hier gab es ebenso wieder klassische Zielspieler ganz vorn, die bereits erwähnten Flügelüberladungen, das schnelle Vertikalspiel aus dem offensiven Umschalten heraus und eine insgesamt pragmatische Herangehensweise, sodass auch die Routiniers ihre Rollen finden sollten. Es war schlichtweg nicht von Erfolg gekrönt. Simeone konnte die Mannschaft nicht nach seinen Wünschen formen. Die knapp einjährige Periode bei San Lorenzo sollte nicht unbedingt als Bewertungsmaßstab für seine Fähigkeiten herangezogen werden. Lediglich Simeones Entscheidung im Vorfeld darf man kritisch hinterfragen, denn er wusste um die schwierige Situation im Gasómetro.
Italienisches Semester
Sucht man bei Simeone neben dem Heimatland Argentinien und der momentanen fußballerischen Heimat Spanien einen weiteren Fixpunkt in der Karriere, so ist es ohne Zweifel Italien, wo er ebenso Wurzeln hat. Hier begann seine europäische Karriere bei Pisa. Hier feierte Cholo als Spieler mit Internazionale und S.S. Lazio große Erfolge.
Im Januar 2011 heuerte Simeone als Trainer erstmals in der Serie A an. Es war die Aufgabe beim wenig attraktiven Kellerklub Catania Calcio, die ihn einmal mehr ins Land des Stiefels führte – oder in diesem Fall auf die Insel Sizilien. Passt diese sizilianische Mentalität nicht wie angegossen zu Simeone?
Zumindest referiert Simeone heute noch über die damalige Erfahrung als echte Lehrzeit, obwohl er nur fünf Monate in Diensten Catanias war. Damals ersetzte er Marco Giampaolo, der mit einem wenig kompakten 4-1-4-1 der individuell eher schwach besetzten Mannschaft überhaupt keine Stabilität verleihen konnte. Da Catania ganz im italienischen Stil aber trotzdem eher auf Abwehrpressing setzte, prallten hier zwei Elemente aufeinander, als dass sich Spielstil und taktische Ausrichtung ergänzten. Giampaolo war vor allem darauf bedacht, seinem Kreativspieler Adrian Ricchiuti eine Art Freirolle zu geben. Man könnte dies auch als Trequartista bezeichnen, allerdings blieb Ricchiutis Aufgabenfeld lange Zeit eher nebulös. Aufgrund der teils reaktiven Ausrichtung wurde aus dem 4-1-4-1 in vielen Partien eher ein 4-4-1-1, wo Ricchiuti stets die Anbindungen an Angreifer wie Maxi López suchte. Allerdings war dieses weiträumige Spiel nur selten von Erfolg gekrönt. Zu einfach konnten die strategisch herausragenden Defensivspieler in der Serie A in die Angriffsdynamiken Catanias eindringen und Offensivvorträge der Elefanti zerstören.
Simeone warf zu Beginn seiner Amtszeit nicht alles um, sondern ging zunächst recht zurückhaltend an die Aufgabe heran. Er wollte sich laut eigener Aussage nicht auf eine starre Taktik versteifen. So wechselte Simeone während der Rückrunde oftmals zwischen einem 4-2-3-1 und einem 4-3-1-2 hin und her.
„Du kannst nicht eine favorisierte Formation haben; ganz einfach aus dem Grund, dass du dich als Trainer anpassen musst. Ich denke, das Beste, was ein Trainer tun kann, ist danach zu schauen, was funktioniert für das Team, nicht was einen selbst befriedigt, wenn ich sage: Ich spiele auf diese Weise. Denn einer allein ist nicht wichtig. Einer allein ist nur ein kleiner Teil vom großen Ganzen, das wichtig ist.“
Schauen wir zunächst auf das 4-2-3-1: Hierbei waren die Änderungen im Vergleich zu Giampaolo eher marginal. Ricchiuti spielte als klarer Zehner hinter der Spitze, was zumindest die Offensivmechanismen nicht großartig veränderte. Interessant war allerdings das Spiel gegen den Ball. Denn hierbei zogen sich die offensiven Flügelakteure wie Ezequiel Schelotto oder Giuseppe Mascara stets in eine klare, verengte Mittelfeldviererkette zurück. So blieben die Außen willentlich offen, aber die Mitte war gedeckt, was noch dadurch verstärkt wurde, dass die vordersten Spieler Ricchiuti und López nie die gegnerischen Innenverteidiger anliefen, sondern sich immer um den etwas höher positionierten Sechser stellten.
Im 4-3-1-2 war die offensive Herangehensweise etwas progressiver gestaltet, da hierbei flexiblere Bewegungen der Sturmreihe und kurzzeitige Überladungen auf den Flügeln genutzt wurden. Defensiv rutschte das Team dann allerdings häufig wieder in ein verengtes 4-4-2 zurück, wobei Simeone nicht nur auf die schmale Mittelfeldkette Wert legte. Auch die vertikale Kompaktheit sollte stets aufrechterhalten werden, was einen vergleichsweise hohen Laufaufwand zur Folge hatte.
Zunächst verlief der Start bei Catania allerdings wenig erfolgreich, da die Sizilianer beispielsweise gegen direkte Abstiegskonkurrenten wie Parma und Bologna verloren. Allerdings sollten sich die Elefanti nach und nach im neuen Defensivgefüge zurechtfinden. Simeone war es zu jenem Zeitpunkt am liebsten, wenn sein Team nur 25 Prozent Ballbesitz hatte. Interessanterweise bestritt man aber die Auswärtsspiele mit dieser Kontertaktik weniger erfolgreich als die Partien im eigenen Stadio Angelo Massimino. Dort kamen nicht nur die sauberen Defensivmechanismen besser zur Geltung, – vielleicht auch weil man doch mehr Entlastung über längere Ballbesitzphasen schuf – es war auch diese spezielle Mentalität, die Simeone hervorrief. Er befeuerte das Abgrenzungs- und Außenseiterdenken der Sizilianer. Das galt im Endeffekt nicht nur bei den Partien gegen die Festlanditaliener. Sondern ganz besonders deutlich wurde dies auch beim Inselderby gegen den Erzrivalen aus Palermo. Man schickte die Rosanero mit 4:0 nach Hause. Ein weiteres Highlight war das 2:2 bei Juventus, als Catania in den letzten zehn Minuten noch einen Zwei-Tore-Rückstand in ein Remis verwandeln konnte.
Am Ende der Saison wurde der Nichtabstieg durch aufeinanderfolgende Siege gegen Cagliari, Brescia und die Roma unter Dach und Fach gebracht. Simeone war der gefeierte Mann in Catania, löste jedoch im Einverständnis mit der Klubleitung, wie es zumindest offiziell hieß, seinen Vertrag auf. Während seiner kurzen Amtszeit hatte er nicht nur Bewunderer gewonnen, was allerdings nicht an seiner sehr defensiven Ausrichtung lag, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie er das Team vom Mentalen her weiterformte und wie er sich öffentlich beziehungsweise in den Medien präsentierte. Für kurze Zeit erinnerte Catania eher an Fidel Castros kleine Revolutionsarmee, die die verhassten Bonzen von Kuba vertreiben wollte, als an ein professionelles Fußballteam.
„Ich hatte viele großartige Trainer, welche viele Eindrücke bei mir hinterließen. Aber, ich denke, es wäre respektlos gegenüber diesen, wenn ich mit ihnen vergleichen werde. Über allem identifiziere ich mich mit mir selbst, mit dem, was mir meine Augen zeigen und was ich fühle.“
Warmlaufen für Madrid
Am 21. Juni 2011 wurde Simeone einmal mehr Nachfolger von Miguel Ángel Russo. In diesem Fall beim Racing Club de Avellaneda, wo er bereits als Trainer aktiv war. In dieser wiederum ungefähr halbjährigen Amtszeit erreichte er mit dem Traditionsklub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires einen starken zweiten Platz im Torneo Apertura. Bedenkt man, dass Racing Club im Halbjahr davor nur den 17. Rang belegte, war mit der Ankunft Simeones ein deutlicher Aufschwung zu erleben.
In dieser Spielzeit setzte er meist auf ein klar asymmetrisches 4-2-3-1. Dabei agierte der Rechtsaußen Gabriel Hauche höher als sein Pendant auf der anderen Seite. Oftmals war dies Luciano Aued, der mehr oder weniger als verkappter Achter fungierte und demnach des Öfteren hinter dem Linksverteidiger oder sogar dem linken Sechser im Spielaufbau absicherte. Mit Lucas Castro als Linksaußen versuchte es Simeone ein wenig symmetrischer. Doch insgesamt war Hauche, der in 16 Spielen allerdings nur fünf Scorerpunkte verbuchte, der Schlüssel- und Zielspieler bei Racing. Folglich wurden in Umschaltsituationen häufig Diagonalbälle direkt in seine Richtung gespielt, während Mittelstürmer Téofilo Gutiérrez für kurzzeitige Flügelüberladungen ebenfalls nach rechts auswich. Jedoch hatten die Gegner in der Primera División diesen Kniff irgendwann durchschaut, sodass viele offensichtliche Diagonalzuspiele abgefangen wurden.
Simeone reagierte beispielsweise mit der Umstellung auf ein 4-3-1-2 in manchen Partien. Dabei schob er Hauche auf die Höhe von Gutiérrez, während der offensivere, rechte Sechser – oftmals Patricio Toranzo – etwas breiter stand. Somit wurden die Passmuster aus dem Mittelfeld heraus verändert. Racing eroberte den Ball nicht mehr vornehmlich halblinks, wo sie durch die tiefere Stellung des Flügelspielers und des linken Sechsers geballter verteidigten. Der bereits erwähnte rechte Sechser schob ansonsten im herkömmlichen 4-3-2-1 immer etwas stärker nach vorn, um die Anbindung zu Hauche auf diese Weise zu erhalten. Doch über diese Raute, die es als Alternativformation gab, konnte Racing den Ball einfacher horizontaler durchs Mittelfeld passen.
Eine weitere Komponente des Offensivspiels unter Simeone waren die fluiden Bewegungsmuster einerseits von Neuner Gutiérrez und andererseits vom schlaksigen Zehner Giovanni Moreno. Insbesondere gegen kompakt verteidigende Teams taten sich beide durch ständige gegenläufige Pendel- oder gemeinsame Ausweichbewegungen hervor. Moreno war zudem ein essentieller Part, wenn Racing eher auf Konterfußball eingestellt war. Denn dann schirmte er meist den Ball nach dem ersten offensiven Umschaltpass ab und leitete das Spielgerät anschließend weiter. Bei längeren Schlägen versuchte sich Gutiérrez zudem an gezielten Ablagen, ohne die Angriffsdynamik zu zerstören. Der Kolumbianer tat sich gerade nach der Hälfte der Meisterschaftsrunde nicht unbedingt als Torjäger hervor, aber er war wichtig für die vorderste Ballzirkulation, ähnlich wie auch heute bei River Plate. Übrigens im Kader von Racing war auch ein 17-jähriger Angreifer namens Luciano Vietto, den Simeone in diesem Sommer von Villareal zu Atlético lotste. Damals kam Vietto gerade aus der Jugend von Simeones Ex-Klub Estudiantes de La Plata zu Racing. Gegen CA Lanús gab ihm Simeone seine ersten Einsatzminuten im argentinischen Oberhaus.
Zur Defensivkonzeption von Simeones Racing-Mannschaft ist eher wenig Spektakuläres zu sagen. La Academia verteidigte normalerweise mit einer sehr verengten Viererkette, wodurch die beiden Flügelspieler häufig zu langen Läufen gezwungen wurden, um die jeweilige Außenbahn zu verteidigen. Oder aber der ballnahe Sechser rückte nach außen und schloss die Lücke, wenn es die gegnerische Dynamik erforderte. Die beiden vordersten Akteure agierten meist eher passiv und gingen selten in aggressives Anlaufen des gegnerischen Spielaufbaus über. Dafür funktionierte gerade das Rückwärtspressing von Gutiérrez in manchen Szenen wunderbar. An sich bot Simeone auch bei dieser Trainerstation kein taktisches Spektakel, aber dafür sehr solides Handwerk. Seine durchaus talentierte Mannschaft errang immerhin den zweiten Platz und musste erst in den letzten vier Partien die ersten beiden Niederlagen einstecken, wobei der Abstand zum Tabellenführer Boca Juniors eh schon zu groß war. Das torlose Remis am 15. Spieltag im La Bombonera ließ auch die kleinsten Meisterschaftshoffnungen verpuffen.
Der Rest ist Geschichte
Kurz vor Heiligabend des Jahres 2011 stellte Atlético Madrid seinen neuen Trainer vor. Simeone ersetzte Gregorio Manzano, nachdem dieser im Pokal gegen den Drittligisten Albacete Balompié verloren hatte. Die Saison endete mit dem ersten großen Titel in Form des Europa-League-Siegs gegen Athletic Club in Bukarest. Es sollte nicht der letzte Pokal bleiben.
Diego Simeone ist ein gutes Beispiel für einen Trainer, der keineswegs ein Dogma in strategischen und taktischen Fragen verfolgt. Seine bisherigen Stationen waren meist von großem Pragmatismus geprägt. Sicherlich tauchten einzelne Facetten immer wieder auf: Physisch starke Zielstürmer, variable Sechser und diszipliniertes Kettenspiel. Doch rein formativ variierte er in vielen Fällen. Phasenweise vertraute Simeone auf einen spielstarken Trequartista. Oder aber er ließ ein sehr variables 4-4-2 mit diagonalen und vorstoßenden Bewegungen einstudieren. Auch bei Atlético setzte er nicht direkt von Anfang an auf das mittlerweile bekannte 4-4-2 mit enger Mittelfeldkette und breiten Außenverteidigern. Beispielsweise spielte Diego als Zehner zu Beginn von Simeones Amtszeit noch eine große Rolle. Bei seiner Rückkehr in der Meisterschaftssaison konnte sich der Brasilianer als einrückender Flügelspieler nicht mehr an das kollektivtaktisch ausgefeilte Gebilde anpassen, wenngleich verkappte Achter auf Außen wie aktuell Koke und Saúl Ñíguez in den letzten Jahren zu einer wichtigen Komponente von Simeones taktischem Korsett gehörten.
Dass er trotzdem über die Jahre hinweg vor allem auf das zunächst simpel wirkende 4-4-2 zurückgriff und immer noch darauf zurückgreift, hat sicherlich auch etwas mit der südamerikanischen und argentinischen Spielkultur in den letzten Jahrzehnten zu tun, wo eher einfache Formationen erst durch bestimmte Rollenverteilungen, Asymmetrien und Rochaden mit Leben gefüllt werden. Diese Tüfteleien sind es, die Cholo Simeone wie nur wenige andere Trainer auf der Welt beherrscht.
„Ich empfinde ihn als obsessiv. Ein unermüdlicher Schüler des Fußballs im Sinne von Hiddink, taktisch offensiv im Stile eines Bielsa, aber meist extrem intelligent.“ (Pablo Gerchunoff, Wirtschaftshistoriker und Universitätsprofessor)
Teil 1 des Porträts | Teil 2 des Porträts | Teamporträt zu Atlético 2013/14 | Analyse zu Atléticos Hinrunde 2014/15
2 Kommentare Alle anzeigen
studdi 7. Juli 2015 um 10:48
Viele Dank für diesen Artikel !
Ich finde Simeone einfach genial und sehe seine Mannschaften einfach gerne Spielen. Hatte gar nicht auf dem Schirm das er auch schon 4-3-1-2 Formationen hat spielen lassen. Wär ja vl ne Idee für nächste Saison mit Saul, Koke und Oliver Torres.
Dr. Acula 7. Juli 2015 um 09:05
danke für den großartigen artikel.. zusammen mit eurem teamportrait zu atletico in ihrer spitzensaison ein perfektes paket, um alles über dieses tolle team und seinen trainer zu erfahren..
wenn man sich interviews von simeone, seinen spielern und die spiele anschaut, fällt einem die gnadenlose leidenschaft auf, die dieses team ausmacht. die gehen jedes spiel über 90 minuten in jeden zweikampf als ginge es um leben und tod. das ist das, was mich so an atletico fasziniert. dieses gefühl zu „brennen“, kann simeone vermitteln wie kaum ein zweiter. hut ab