Vergessene Offensivteams der WM-Geschichte I

In einer dreiteiligen Kurzserie blicken wir auf eher kleine Teams der WM-Geschichte, die taktisch starke Offensivanlagen zeigten, aber aufgrund durchwachsenen Abschneidens meist in Vergessenheit gerieten.

Dabei handelt es sich häufig um individuell solide oder eher schwächere Länderauswahlen, über die entweder mit der Zeit nicht mehr gesprochen oder die gar zum jeweiligen WM-Turnier praktisch kaum wahrgenommen wurden.

Ungarn 1966

Vorrunde:

Ungarn – Portugal 1:3

Ungarn – Brasilien 3:1

Ungarn – Bulgarien 3:1

Viertelfinale:

Ungarn – Sowjetunion 1:2

wm special vergessene offensivteams hun 1966Direkt zum Einstieg kann man bei den Ungarn von 1966 diskutieren, ob sie wirklich als eine der vergessenen Offensiven gelten. Schließlich schalteten sie in einer schwierigen Gruppe mit Portugal und Brasilien den Titelverteidiger letztlich verdient aus. Bereits beim Turnier 1962 in Chile hatten sie außerdem für viele Treffer gesorgt und verfügten mit Bene sowie Albert über zwei der besten europäischen Offensivakteure.

Das nominelle 4-2-4 der Ungarn war von Trainerlegende Lajos Baróti etwas asymmetrisch abgewandelt, was vor allem beim Sieg gegen Brasilien eine wichtige Waffe darstellte. So agierte der halbrechte zentrale Mittelfeldspieler deutlich offensiver als der halblinke und besetzte oftmals aggressiv den Flügel, da Bene viele Läufe nach innen startete. Gleichzeitig agierte der Linksaußen dafür viel gemäßigter, so dass es fast so aussah, als würde man ein 4-3-3 spielen – mit dem halblinken zentralen Mittelfeldspieler als defensivem Ankerpunkt und Mathesz sowie Rákosi oder Albert davor. Damit schafften sie es immer wieder, zusätzliche Mittelfeldpräsenz und in der damaligen Zeit durch ihr hybridartiges Spielsystem gewisse effektive Überzahlen herzustellen. So gelang es beispielsweise Mathesz gegen die Brasilianer, sich defensiv sowohl um Gérson zu kümmern als auch gegen Jairzinho zu helfen. Ein weiteres Beispiel waren Sipos und Mészöly, zwei gelernte Mittelfeldspieler, von denen Ersterer in der Innenverteidigung spielte, die sich aber gegen die fluiden Stürmer des Weltmeisters immer wieder abwechselten und ihre Rollen tauschten, um am besten auf deren Bewegungen reagieren zu können.

Die ungarischen Flügelspieler – besonders Ferenc Bene auf der rechten Seite, der der deutlich offensivere Außen war, teilweise gar wie der echte Mittelstürmer wirkte und für Konter oft vorne blieb – drängten immer wieder in die Spitze oder die Schnittstellen hinein- vor allem Letztere visierten sie gezielt an. Währenddessen ließen sich die beiden zentralen Stürmer stärker nach hinten fallen und sorgten für Zuspiele. Gerade Flórián Albert, der mit seiner technischen Klasse ein herausragendes Turnier spielte, ließ sich oftmals wie ein Hybrid aus Spielmacher und zweiter Spitze fallen und agierte auch in der Defensive tiefer als János Farkas, der eher auf den Flügel auswich. Somit konnten die Außenstürmer höher stehen und beispielsweise im Raum hinter den gegnerischen Außenverteidigern mit Pässen versorgt werden. Insgesamt waren die Ungarn vielleicht nicht das kombinationsstärkste Team aus dieser Liste, doch sie punkteten mit einer taktisch sehr geschickten sowie durchaus ungewöhnlichen Anlage und wussten durch die Dynamik ihrer attackierenden Offensivabteilung für viel Spektakel zu sorgen, wenn sie auf den Flügeln oder in den Schnittstellen durchbrachen.

Peru 1970

Vorrunde:

Peru – Bulgarien 3:2

Peru – Marokko 3:0

Peru – BRD 1:3

Viertelfinale:

Peru – Brasilien 2:4

wm special vergessene offensivteams per 1970-1Die WM 1970 in der mexikanischen Hitze gilt unter anderem aufgrund der Leistung des brasilianischen Weltmeisterteams sowie der Einführung der TV-Farbübertragung als eines der schönsten und kunstvollsten Turniere überhaupt. Mit dem 4:1 im Finale in Italien schwang sich die Seleção zum Rekordweltmeister auf und setzte die Geschichte von 1958 und 1962 fort. Neben Pelé war noch ein weiterer absoluter Schlüsselspieler von damals auch in Mexiko wieder dabei – der geniale Mittelfeldmann Didi, diesmal als Trainer von Peru. Bereits in der Qualifikation sorgte er mit seinem Team für eine Sensation, als sie Argentinien ausschalteten und somit die erste Teilnahme überhaupt seit 1930 gelang. Nach zwei überzeugenden Siegen gegen Bulgarien und Marokko stand im Turnier selbst dann das Weiterkommen schon vor dem abschließenden Gruppenmatch gegen die Bundesrepublik fest. Im Viertelfinale scheiterten sie zwar am späteren Weltmeister, zeigten beim 2:4 aber eine starke Leistung.

Aufgrund der Verbindung ihres Trainers zur brasilianischen Mannschaft von 1958 war es nicht verwunderlich, dass der peruanische Außenseiter ein interessantes 4-2-4 mit asymmetrischen Außenstürmern sowie einem sehr beweglichen Sturmduo praktizierte – wie Brasilien 1958. Mit Teófilo Cubillas spielte der begabteste und bekannteste Peruaner in einer leicht linksseitigen Freirolle, wohingegen sich der schlaksige, aber dennoch spielstarke Pedro León noch etwas weitläufiger bewegte und teilweise gar zu konstant ankurbelnd bis vor die Innenverteidiger zurückfiel. Verglichen mit Brasiliens Aufteilung zwischen Garrinchas Narrenfreiheit und Zagallos balancierender Rolle als falscher Linksaußen war bei den Peruanern die Asymmetrie umgekehrt. Auf rechts eingerückt spielten entweder der quirlige Sotil oder der etwas konservativere Baylón, während der linke Flügel mit dem schussstarken Gallardo durch einen kraftvollen Spieler besetzt war, der hinter die Abwehr kommen wollte und auf diese Weise im Viertelfinale einen spektakulären Treffer ins kurze Eck erzielte.

Im Gegensatz zu dieser sehr funktionalen Spielweise pendelte Baylón viel zwischen Sechserraum, Halbraum und Flügel. Daraufhin besetzte gelegentlich der halbrechte zentrale Mittelfeldspieler Challe die seitlichen Räume balancehaltend. Das Atemberaubende an dieser Mannschaft waren ihre herausragenden Zentrumskombinationen, die sie aus diesem System starteten. Meistens trugen der aufrückende Challe oder der aus dem tiefen Halbraum diagonal zur Mitte dribbelnde Baylón die Bälle in das Umfeld des Zehnerraums, wo immer drei bis vier Spieler teilweise herausragende Engenkombinationen starteten. Dort gab es dann ein etwas unsauberes und improvisiertes, aber doch sehr ansehnliches Zusammenspiel, in das sich immer mal wieder sogar der aufrückende Innenverteidiger Chumpitaz einschaltete.

Zwar brachten die Peruaner mit diesem beweglichen Offensivspiel neun Treffer in vier Begegnungen, holten aber dennoch nicht genug aus ihre Möglichkeiten heraus – einige Male machten sie sich gute Strukturen und Ansätze durch eine schlechte Entscheidungsfindung und verfrühte Abschlüsse ohne vollständige Raumnutzung zunichte. Zudem agierten sie in einem seltsamen Rhythmus bei den Kombinationen, indem sie mit angedeuteten Aktionen immer sehr lange unentschlossen warteten, was Dynamiken zum Erliegen brachte und zu einer gewissen Drucklosigkeit führte. Dennoch verdienen die Peruaner für ihre Leistung im Rückblick ein großes Lob.

Durch die offensive Ausrichtung öffneten sich allerdings in der eigenen Defensive gelegentlich zu große Räume, die schließlich vor allem die Brasilianer im Viertelfinale konsequent nutzen konnten. Dies war beispielsweise in der Lücke zwischen Gallardo und Linksverteidiger Fuentes der Fall, aber auch im zentralen Raum, den das zu offensiv denkende peruanische Mittelfeld hinter sich ließ. In diesem Zusammenhang wurde die in der Defensive angewandte Spielweise von Didis Peruanern, die so raumorientiert wie nur wenige andere Mannschaften im Turnier verteidigten, gelegentlich zur Schwäche, da die Gegner mit wenig Druck vor der abwartenden Viererkette interagieren konnten. So profitierten die Brasilianer bei zwei Toren direkt aus dieser etwas problematischen Rückraumsicherung, während Deutschland zu einfach ihre Flügelstürmer Libuda und Löhr in direkte Dribblings gegen die peruanischen Außenverteidiger bringen konnte.

Polen 1978

Vorrunde:

Polen – BRD 0:0

Polen – Tunesien 1:0

Polen – Mexiko 3:1

Zwischenrunde:

Polen – Argentinien 0:2

Polen – Peru 1:0

Polen – Brasilien 1:3

wm special vergessene offensivteams pol 1978Wegen eines starken dritten Platzes bei der WM 1974 in der Bundesrepublik gilt die damalige polnische Mannschaft als das vielleicht beste Nationalteam der Geschichte des Landes. In diesem Jubel geht die personell durchaus ähnliche aufgestellte und ebenfalls zu würdigende Nachfolger-Auswahl von 1978 allerdings ein wenig unter. Auch wenn das Team in Argentinien sich in der Zwischenrunde sowohl gegen den Gastgeber als auch gegen die Brasilianer geschlagen geben musste, zeigten die Polen insgesamt eine gute Leistung. Das vorige Turnier war ein herausragendes Ergebnis gewesen, doch auch 1978 spielten sie immer noch ziemlich gut.

Die meist in einer 4-3-3/3-4-3-Offensivformation aufgestellten Polen attackierten immer wieder gezielt über ihre rechte Angriffssseite. Dabei wurde der offensivstarke und durchaus in die Halbräume gehende Außenverteidiger Szymanowski vom berühmten Dribbelkönig Boniek, dem ausweichenden Torjäger Lato und Kapitän Kazimierz Deyna unterstützt, so dass sie einige gefährliche Flügelüberladungen spielen konnten. Gelegentlich band sich auch noch der jeweilige linke Achter herüberschiebend in diese Aktionen ein und trieb die Überladungen an oder diente als Anspielstation in offenen Halbräumen. Insbesondere der spielintelligente Deyna – einer der vergessenen Fußballhelden früherer Tage, dem 1974 bei einem Mega-Angebot Real Madrids der Wechsel ins Ausland verboten wurde – stach zwischen den durchschlagskräftigen Kollegen mit hervorragendem Raumgespür, intelligenten und antizipativen Bewegungen sowie der strategischen Leitung der Angriffe hervor. Mit seinen etwas schleichenden Bewegungsabläufen wirkte er nicht wie der große Superstar, zeigte sich aber dennoch in verschiedenen Räumen präsent und kurbelte von dort immer wieder die Bemühungen seines Teams an.

Auch Lato war trotz seltsamer Koordination und einer gelegentlich zu arbeitenden Weiträumigkeit ein wichtiger Akteur, da er wertvolle Ablagen einbrachte und in engen Räumen doch immer wieder beeindruckend zurechtkam. Mit einer dieser tollen Kombinationen brachten die Polen beispielsweise den Brasilianern deren einziges Gegentor in der Zwischenrunde bei. Das größte Problem bei diesen Szenen lag darin, dass die Polen teilweise etwas zu vorschnell und nicht raumnutzend genug agierten. So brachten sie von ihrer dominanten rechten Seite einige Male überfrühte Flanken auf den einstartenden, physisch starken Linksaußen Szarmach. Wenn sie besser vorbereitet wurden, konnten diese Hereingaben mit verschiedenen Bewegungsmustern und viel hoher Präsenz auch gefährlich werden. Dabei war Szarmach mit seiner Durchschlagskraft eine gute Ergänzung und entwickelte auch bei Kontern oder Schnellangriffen durch seine Athletik viel Effektivität.

Nachdem sie in ihrer Vorrundengruppe unter anderem vor dem bundesdeutschen Titelverteidiger den ersten Platz belegt hatten, mussten sich die Polen schließlich in der finalen Zwischenrunde geschlagen geben. Direkt die erste Niederlage gegen Argentinien, als sie mit Verletzungsproblemen in der Defensive zu kämpfen hatten und den zentral absichernden Gorgon vermissten, machte das Weiterkommen im damaligen Modus praktisch unmöglich. Insgesamt wurden ihnen in dieser Turnierphase ihre Probleme in der Defensive zum Verhängnis, die ein besseres Abschneiden dieser ansehnlichen Offensivmannschaft verhinderten. Ihre enorm riskanten Herausrückbewegungen – beispielsweise von Innenverteidiger Zmuda, der gerne ins Mittelfeld vorging – und die zu radikal wie unbalanciert ausgeführten Manndeckungen zeigten sich letztlich zu anfällig. Daran konnten auch Nawalkas Effektivität beim Einsammeln loser Bälle vor der Abwehr oder die Ansätze einer 4-1-4-1-haften Defensivformation in der ersten Pressingphase nichts ändern – und auch der Offensive gelang dies aufgrund der kleineren Probleme und schwacher Chancenverwertung nicht.

 

Alle taktischen Infos zu allen Teilnehmern der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien gibt es in unserer WM Vorschau.

Tank 12. Juni 2014 um 00:51

Eine Schande, dass es hier keinen einzigen Kommentar gibt. Andererseits aber auch verständlich, da die wenigsten Leser die Teams gesehen haben dürften. Geht mir ganz ähnlich. (Ausnahme: Peru gegen Brasilien ’70) Ich wollte daher einfach nur kurz sagen, dass ich es ganz toll finde, dass man hier auch immer wieder solche Artikel findet, die vielleicht keine tausend Kommentare ziehen, die Seite aber absolut bereichern und uns Leser weiterbilden! 🙂

Muss mal was von Florian Albert schauen. Ich hab von ihm mal irgendwann nen Highlights-Clip gesehen und war schwer beeindruckt. Kennt jemand mehr von ihm? Wie ist er einzuschätzen?

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