VfL Wolfsburg – Bayer 04 Leverkusen 3:1
Wolfsburg bezwang die komplexe Leverkusener Formation mit einfachen und intelligenten taktischen Mitteln.
Die Aufgaben von Wolfsburgs Doppelsechs
Lorenz-Günther Köstner stellte die Gastgeber in einem 4-4-1-1-System auf, in welchem Josué und Jan Polak die zentrale Doppelsechs bildeten. Sie hatten eine Schlüsselrolle in dieser Partie, denn sie durften offensiv kaum mitwirken, mussten aber nach Balleroberungen die Bälle schnell verteilen und natürlich den enorm wichtigen Raum zwischen den Linien sichern.
Dies taten sie durch zwei unterschiedliche Interpretation ihrer defensiven Rollen: Josué kümmerte sich um eine Vielzahl von Zweikämpfen, übernahm zonenorientierte Manndeckungen auf die Spieler zwischen den Linien (Andre Schürrle und Gonzalo Castro) und kam zur Halbzeit dementsprechend auf die meisten Ballkontakte und die zweitmeisten Zweikämpfe (sechs) – Polak hatte nur ein Drittel so viele, spielte dafür aber zur ersten Hälfte die meisten erfolgreichen langen Bälle (sechs von sechs kamen an, bei Josué war es einer von einem).
Ziel war es natürlich, die Zweikampfstärke von Josué zu nutzen, während Polak mit einer starken Laufarbeit entstehende Löcher zusperrte, Bälle schnell nach vorne verteilte und sich oftmals nah an die Viererkette positionierte. Dies ermöglichte auch, dass die Außenverteidiger sich bei Bedarf enorm eng an den gegnerischen Flügelstürmern orientierten.
Wolfsburgs Spielweise gegen Bayers Flügel
Durch diese Mannorientiertheit auf die gegnerischen Außenverteidiger benötigten die Wolfsburger natürlich auch die passende Spielerwahl auf ihren Außenstürmerpositionen. Auf rechts begann dafür Makoto Hasebe, welcher etwaige Vorstöße Hosogais abfangen sollte. Dazu brachte er eine gewisse Stabilität mit, da er sich spielintelligent und bei Bedarf sehr tief sowie konservativ verhielt, um seine Seite nicht zu öffnen. Er verhinderte zahlreiche Pässe auf Schürrle, ermöglichte auch seinem Hintermann Fagner eine enge Positionierung an die beiden Innenverteidiger.
Auf rechts war das größere Problem nicht der bewegliche Flügelstürmer, sondern der in der Offensive hervorragende Daniel Carvajal, welcher es mit dem nimmermüden und schnellen Ivica Olic zu tun bekam. Damit schlug Lorenz-Günther Köstner zwei Fliegen mit einer Klappe: einerseits hatte er mit Olic einen Arbeiter, der selten auf das Rückwärts-, Gegenpressing oder die klassische Defensivarbeit vergisst, andererseits auch einen schnellen Konterspieler, der die hohe Positionierung seines Gegenspielers sofort ausnutzen konnte.
Darum war oftmals zu beobachten, wie Olic nach Balleroberungen sofort in die Spitze lief und dort die freien Räume attackierte. Ohnehin war der Kroate einer der Aktivposten bei den Wolfsburgern, welche das Spiel nach ihrer Führung klar dominierten. Beim zweiten Tor nutzte der ehemalige Bayern-Star auch die Ballorientiertheit der Leverkusener sowie eigene taktische Stärken: er spielte einen scharfen und langen Querpass auf Bas Dost, welcher im Zweikampf mit Manuel Friedrich den Ball auf Diego prallen ließ, welcher seinen Doppelpack perfekt machte. Ohnehin war Diego eine Geschichte für sich.
Diego als hängender Stürmer
Insbesondere in der ersten Spielhälfte strahlte der Stern des Brasilianers hell, wie selten in der Ära Magath. Er spielte in diesem 4-4-1-1/4-2-3-1-Hybridsystem als Akteur zwischen den Linien und genoss einige defensive Freiheiten, wobei er sich dennoch intelligent daran mitbeteiligte: im Pressing rückte er als zweiter Stürmer zu einem 4-4-2 auf, in der klassischen Defensivarbeit ließ er sich fallen, verballte das Zentrum und konnte sofort im Umschalt- oder Aufbauspiel als Hilfe dienen. Dadurch sammelte er sehr viele Ballkontakte und konnte selbst mitaufrücken. Als eine durchgehend tiefe Zehn oder als spielmachender Sechser konnte er dies nicht, so aber durfte er seine Abschlussstärke und seinen guten Instinkt in der Positionierung im letzten Spielfelddrittel nutzten.
Außerdem stand seine größte Stärke, nämlich schnell die Bälle in den freien Raum verteilen, im Vordergrund. Diego ist nämlich kein großer Stratege oder kontrolliert den Spielrhythmus, sondern lebt von einer vertikalen Spielweise mit Dribblings und Gassenpässen. Je mehr Raum seine Mitspieler und je weniger er selbst hat, umso stärker ist es – denn durch die auf ihn erzeugte Enge holt er sich entweder bewusst Freistöße oder schickt seine Mitspieler. Davon profitierten nicht nur die Flügelstürmer, sondern auch die Außenverteidiger, die einige Bälle von Diego erhielten.
Sie wurden zum Aufrücken instruiert. Bestes Beispiel war dabei das dritte Tor, wo Diego den mitschiebenden Marcel Schäfer perfekt schickte, welcher wiederum Bas Dost in der Mitte bedienen konnte; ein Konter nach dem Lehrbuch, welcher öfters gespielt wurde, um die freien Bewegungen sowie die Asymmetrie der Leverkusener auszunutzen.
Asymmetrisches Pressing gegen variables Pressing
Ein auffälliger Unterschied bei den beiden Mannschaften waren die Pressingformationen. Die Leverkusener spielten entweder in ihrem 4-3-3 oder mit einem tieferen Castro, was Schürrle stärker in die Mitte drückte und dadurch ein verschobenes 4-4-2 entstehen ließ. Dadurch hatten sie einen Mann in der Mitte mehr, Jens Hegeler kümmerte sich etwas mehr um die linke Seite, während Schürrle durch seinen bogenartigen Lauf (in der Theorie) mehrere Anspielstationen des Innenverteidigers im Blick hatte.
Dies funktionierte kaum, weil die Wolfsburger kein Problem damit hatten, schnell in die Spitze zu spielen und auch Ballverluste zu riskieren. Mit Naldo und Simon Kjaer hatten sie außerdem zwei recht ballstarke Aufbauspieler, wobei sich der Däne öfters mit vielen langen Bällen auszeichnete, die mit hoher Quantität zwangsläufig auch beim Gegner landen.
Die Wölfe hingegen konnten dank der Führung das gefährliche Aufbauspiel der Leverkusener sein lassen und positionierten sich im Normalfall relativ tief und passiv. Sie hatten dabei unterschiedliche Pressingintensitäten, welche nach Höhe und Situation variierten. Bei hohen Ballverlusten spielten sie ein mannschaftsteiliges Gegenpressing der Offensivspieler, bei tiefen Ballverlusten suchten sie sofort ein individuelles Gegenpressing, während die anderen Spieler auf ihre Grundposition zurückkehrten.
Wenn Bayer das Spiel aus der Tiefe aufbaute, liefen sie die Innenverteidiger an, ansonsten stellten sie sich selbst tief und verschlossen Löcher. Dadurch vermieden sie, dass Leverkusen eine gute Raumnutzung hatte, außerdem war durch die Passivität von Diego und Bas Dost bei hohem Aufbauspiel Leverkusens keine Gefahr von Löchern durch unnötiges Pressing gegen die Aufbaudreierkette Leverkusens gegeben. Stephan Reinartz ließ sich nämlich zumeist zwischen die Innenverteidiger fallen, um diese zu unterstützten – was aufgrund mangelnden Pressings nicht wirklich nötig gewesen wäre.
Leverkusens Wechsel zur zweiten Spielhälfte
Nach dem Seitenwechsel versuchten die Leverkusener einerseits durch Anpassungen ihrer Spielweise mehr Zugriff zu erhalten – höhere Dynamik, aggressiveres Pressing -, andererseits brachten sie auch mit Renato Augusto und Sebastian Boenisch zwei Spieler. Boenisch war eine defensivere Alternative für Hosogai, während Renato Augusto statt Hegeler mehr Kreatvität und Spielstärke in die Partie bringen sollte. Er wechselte dabei mit Castro die Position in der Formation.
Nachdem dies offensiv wenig brachte, auch wenn Wolfsburg nicht mehr so oft gefährlich über Konter wurde, gab es für die Schlussviertelstunde eine weitere Veränderung. Junior Fernandes kam als dritter Einwechselspieler und sollte Kießling im Sturmzentrum unterstützen sowie den Außenstürmern als Anspielstation fungieren. An sich alles stimmige Wechsel, aber sie konnten den Rückstand und die dadurch entstandene Ruhe im Aufbauspiel bei Wolfsburg kaum stören. Die Wölfe ließen den Ball zirkulieren, hatten keine Probleme ihn im Zweifelsfall schlicht zu klären und versuchten über Diego nach vorne zu kommen. Dazu blieben sie ihrem intelligenten Pressing der ersten Hälfte treu und kamen letztlich zu einem verdienten Sieg.
Fazit
Die Wolfsburger trafen früh und machten taktisch das Beste aus dieser Führung. Auch spielerisch wussten sie zu gefallen, erspielten sich einige sehr gute Konter, welche letztlich nur zum dritten Tor führten, aber durchaus sehenswerten – obwohl sie in ihrer Herausarbeitung relativ simpel waren. Den Glanz verlieh ihnen der bärenstarke Diego; als dieser nach dem Seitenwechsel nachließ, verblasste das Wolfsburger Spiel auch. Interessant war auch die Variabilität bei den Angriffen über die Außen, welche entweder durch Lochpässe zwischen Außen- und Innenverteidigern oder Linienbällen parallel zur Auslinie entstanden. Defensiv standen sie auch nach dem leichten Nachlassen der Offensive weiterhin stabil und konnten das Spiel somit souverän gewinnen.
7 Kommentare Alle anzeigen
Pep 14. November 2012 um 11:55
Zuerst einmal vielen Dank für die schnelle Analyse, obwohl ihr ja zuletzt schon zwei Spiele von Leverkusen hattet, top!
Ich denke das psychologische Aspekte das Spiel bestimmt haben. Wolfsburg hat enorme Qualitäten. Diese wurden nicht durch einen neuen guten und netten Trainer mit einem besseren System aktiviert, sondern durch die Spieler, die froh waren, den alten nervigen Trainer los zu sein. Diesen Effekt kennt man auch aus dem Berufsleben. Je „schlimmer“ ein alter Chef war, desto einfacherer hat es der neue. Das gilt natürlich nur für die ersten Tage/wenige Wochen. Spätestens bei der ersten Niederlage hinterfragt man das. Dann erst kann man sagen ob solche weichen Notläsungen wie Streich, Hyppiä & Co. funktionieren können.
Gleichzeitig gab es ein Leverkusen das mit immer weniger Mühen Punkte eingefahren hat. Zuletzt sogar 3 Punkte gegen Bayern, trotz schlechtem Spiel gegen Düsseldorf 3 Punkte, für Europaspiele lässt man Kießling einfach mal zu Hause (was natürlich auch mal Sinn macht). Trotz Ausfällen von Kadlec, Toprak und Sam gibt es keine wirklichen Personalsorgen da alles rund läuft, jeder Wechsel funktioniert.
Den Wolfsburgern gelang endlich mal wieder etwas ihren Qualitäten entsprechend, die Leverkusener wurden aus ihrem „flow“ in die Realität zurück geholt.
Schade das dies so kommen musste. Aber es sind eben immer wieder diese charakterlichen Schwächen in der ganzen Leverkusen Mannschaft die doch immer wieder durchblicken. In der Krise sind es fehlende Motivation, fehlender Biss, in der „hoch Phase“ dann fehlende Konzentration, Naivität.
Kappe 12. November 2012 um 10:12
Wird es eigentlich einen Vergleichsartikel ala: „Wolfsburg mit und ohne Magath“ geben? Oder lohnt sich das nicht, da eher die Formkurve für die Ergebenisse verantwortlich ist?
ps: Guter, anschaulicher Artikel
RM 12. November 2012 um 11:19
Werden wir noch abwarten, ob und wie viele (größere) taktische Unterschiede wir finden.
Häschber 12. November 2012 um 20:15
Würde mich sehr sehr interessieren!
Dieser Trainerwechsel suggeriert, der Trainerjob sei leicht: Standartsystem 4-2-3-1 aufstellen; und zu diesen 11 Spieler recht nett sein.
Ich weiß, dass es nicht so ist – ich finde aber einfach keine echten Umstellungen. (Auch Magath schien taktisch nur so irgendwie irgendwas zu spielen. Köstner halt irgendwie irgendwas andres)
Senduris 12. November 2012 um 09:24
@ RM würdest Du Köstner weiterarbeiten lassen oder eher ein neuen Trainer ??
RM 12. November 2012 um 11:20
Hängt natürlich davon ab, was man möchte. Wenn es mit Köstner so weitergeht, wäre es eine Idee, ihn bis Saisonende arbeiten zu lassen und sich danach nach einem Trainer umsehen, dem man mehr zutraut und der auch langfristig etwas aufbauen kann.
laterookie58 11. November 2012 um 18:15
@ RM : ultraschnell, mein Lieber! Und viel mehr kann mir die Nachbetrachtung im TV auf WDR auch nicht geben…! Klasse, daß Du so klar herausgestellt hast, wo Diegos Stärke liegt und wo nicht. Habe ich noch nirgendwo vorher gelesen! Herzlichen Dank für Deine Arbeit und Deine Zeit für uns!!!! laterookie58