Juventus Turin – Inter 1:3

Stramaccionis Inter zerbricht Juventus´ rekordverdächtige Serie: Die erste Liganiederlage seit 49 Partien.

Die Hausherren aus Turin begannen dieses absolute Spitzenspiel als Meister und ungeschlagener Tabellenführer – und mit der üblichen Aufstellung. In der gewohnten 3-5-2-Formation gab es keinerlei personelle Überraschungen: Neuzugang Asamoah hat sich mittlerweile den Platz als linker Wing-Back gesichert, während die zuletzt öfters in die erste Elf gerutschten Pogba und Bendtner wieder für die etablierten Stammspieler Marchisio und Vucinic weichen mussten. Auf der anderen Seite entschied sich Inters Trainer Andrea Stramaccioni ebenfalls für eine, allerdings auch schon in den letzten Spielen favorisierte Dreierkette, die durch die Unterschiedlichkeit der Wing-Backs Zanetti und Nagatomo ein wenig asymmetrisch und mit einem Linksfokus ausgerichtet war. Verstärkt wurde dieser durch die offensivere Rolle Cambiassos als halblinker Sechser sowie das Abdriften von Cassano in eben jene linken Bereiche.

Juventus mit der Blitzführung…

Bevor das Spiel richtig begonnen hatte, lag der Ball nach nicht einmal 20 Sekunden und ohne Ballkontakt der Schwarz-Blauen schon im Netz von Inter – ein hervorragender Kombinationsangriff aus der Abwehrkette heraus wurde schnell vorgetragen und von Arturo Vidal abgeschlossen. Dabei ließen sich die Spieler Inters zu sehr von ihren jeweiligen Gegenspielern umher ziehen und öffneten somit fatale Räume, in die Vorbereiter Asamoah hinein starten konnte.

Das 1:0: Chiellini spielt auf Marchisio, der sofort in die Mitte weiterleitet. Dort lässt Vucinic den Ball durch und startet nach vorne, wird von Giovinco angespielt und schickt Asamoah in den riesigen Freiraum (rot), der durch die zu starke Mannorientierung der markierten Inter-Spieler entsteht. Diese sind nicht mobil genug, um ihre Gegenspieler und den schnellen Angriff zu verteidigen und öffnen die große Lücke. Asamoah legt dann für Vidal quer.

Auch im Folgenden waren die Hausherren die überlegene Mannschaft: Pirlo bewegte sich sehr weiträumig und konnte sich somit der Deckung der drei Angreifer Inters entziehen, Sebastian Giovinco zeigte erneut sehr intelligente Bewegungen in die freien Räume neben der Dreierkette Inters, während auch die üblichen kraftvollen Flügeldurchbrüche der Wing-Backs sowie die sehr energischen und schwer zu verteidigenden Vorstöße der Achter Vidal und Marchisio für viel Gefahr sorgten – Letzterer hätte nach einem tollen Pass Pirlos schon nach wenigen Minuten erhöhen müssen.

…und Inter reagiert mit der Hybrid-Kette

In dieser GIF erkennt man die bevorzugten Räume der Juve-Stürmer gegen eine Dreierkette (I) und die Abdeckung dieser Räume durch Inters Asymmetrie (II)

Inter brauchte also einen Plan und eine Reaktion, was sich zunächst in einer entschärften Version der recht starken Mannorientierung und dann in Form der Asymmetrie in der Hintermannschaft zeigte. Mit dem tieferen Zanetti entstand eine Art Mischformation aus Dreier- und Viererkette, welche die Schnittstellen für die Juventus-Angreifer verringerte bzw. gar verschob wie in der Grafik rechts zu erkennen – die bevorzugten Freiräume von Vucinic und Giovinco wurden durch die Hybrid-Kette abgedeckt bzw. befanden sich nun in anderen, für das Spiel und die Kompaktheit der Turiner aber unpassenderen Bereichen.

Somit stockte der Rhythmus bei den Hausherren, die nun entweder sich häufiger im Defensivnetz der Gäste verfingen oder bei versuchten Anpassungen an deren defensive Umformungen nicht mehr ganz so gut zueinander fanden. Jene Zwischenräume und Lücken, die die nicht gänzlich sauber ausgeführte Mischformation Inters hinterließ, wurden von den Turinern aber intuitiv kaum gefunden. Dass das bedachte, intelligente Aufrücken Zanettis und die anpassungsfähige Abwehrkette auf dem Papier auch eine gute Absicherung gegen Konter darstellte, war ein zusätzlicher Pluspunkt für Inter – schließlich musste man aufgrund des Rückstandes immer mehr die Initiative übernehmen.

Inter entgeht dem Pressing, doch das Überladen gelingt nicht

Schema einer exemplarischen Angriffssituation über rechts: Man erkennt die Räume beider Teams im Mittelfeld (blaue Zone), die für schwache Anbindungen zwischen Defensivspielern und Stürmern (Juventus) sowie absichernden und überladenden Spielern (Inter) sorgen. Außerdem wird Inters Problem ersichtlich: Sie stehen zu stark entlang des fett dargestellten „L“, aber sind in den zentraleren und diagonaleren Bereichen (beispielsweise zwischen den Juve-Sechsern, rot) kaum präsent, was für schwache Staffelung sorgt.

Zwar konnten die Hausherren zunächst mit einem frühen Pressing dank der direkten Zuordnungen noch immer wieder stören, doch schon im Laufe der ersten Halbzeit erzeugte Inter verstärkt Dominanz. Dabei kamen sie – übrigens ebenso wie die Hausherren, siehe das 1:0 – besonders über die linke Seite, welche deutlich offensiver ausgerichtet war und überladen werden sollte. Der weit aufrückende Nagatomo wurde vom spielintelligenten Cambiasso und meistens zwei Stürmern, unter denen sich sehr häufig Cassano fand, unterstützt, während Juan Jesus dahinter absicherte. Die ballferne Seite wurde im hinteren Bereich von Zanetti besetzt, während einer der Stürmer (häufig war dies Palacio) ebenfalls im rechten Halbraum postiert war oder gar weit auf rechts für Breite sorgte.

Allerdings kam Inter gerade in der ersten Halbzeit aus diesem Überladen nur selten wirklich zu gefährlichen Szenen in den gegnerischen Strafraum durch. Es fehlte zum einen an der richtigen diagonalen Staffelung in der Offensive, die für Kombinationsspiel nur suboptimal angeordnet war, und zum anderen an der Kompaktheit zwischen überladenden und absichernden Spielern in den Mittelfeldräumen, welche durch die hohe Zahl der absichernden Akteure sowie auch wieder die schwache Staffelung zu offen standen.

Verbesserte Raumnutzung im Mittelfeld – spät, aber nicht zu spät

Aus diesen Räumen hätten die Hausherren theoretisch einige Kontersituationen starten können, doch waren auch bei ihnen die defensiven Anbindungen zwischen dem Dreier-Mittelfeld und den beiden lauernden Offensivspielern nicht kompakt genug, weshalb diese Räume verwaisten und viele Gegenstöße nur sehr schleppend in Gang kamen, wobei die besseren Szenen ohnehin nicht wirklich gut ausgespielt wurden.

So war es dann der Gast aus Mailand, der die Räume mit der Zeit immer besser auszunutzen verstand. Der nett ausgeführte Freistoß vor dem Elfmeter zum 1:1 war ein Beispiel dafür, dass Inter nun mehr Kompaktheit in die eigene Formation gebracht hatte und daher auch besser in den zentralen Zehnerräumen agieren konnte – im ersten Durchgang hatte nicht nur Nagatomo deutlich breiter agiert als in angesprochener Situation.

Aus- und Einwechslungen kippen das Spiel endgültig

Später brachte der für Cassano eingewechselte und eher im Mittelfeld spielende Fredy Guarín nicht nur neue Power und Wucht aus dem Rückraum ins Spiel ein, er zementierte auch die verbesserte Kompaktheit und Tiefenstaffelung in der Formation seiner Mannschaft und zeichnete nicht zuletzt auch mit starker Vorarbeit für Militos zweiten Treffer zur Führung verantwortlich. In der Entstehung muss aber keinesfalls nur sein offensiver Vorstoß gewürdigt werden, sondern auch der vorhergehende Ballgewinn gegen Pirlo (wobei auch Vidal dabei etwas unglücklich aussah) – das von Stramaccioni intendierte flexible Rückwärtspressing gegen den tiefen Spielmacher der „Alten Dame“ durch seine Stürmer hatte nicht auf die gewünschte disziplinierte Weise funktioniert, was nun durch den physisch starken Guarín besser klappte. Dass die Innenverteidiger der Hausherren in mehreren Situationen (beispielsweise bei einer Palacio-Chance kurz nach Wiederbeginn) unbedacht weit mit aufrückten und dann fahrlässig den Ball verloren sowie Räume für Gegenstöße öffneten, spielte auch bei den Gegentoren eine Rolle.

Die Grundformationen in der Schlussphase beim Stand von 1:2

Nach dem Rückstand ging Juventus Risiko und brachte anstelle von Cáceres (der schon in Durchgang eins den gelb-rot-gefährdeten Lichtsteiner ersetzt hatte) mit Quagliarella einen zusätzlichen Stürmer, welcher sich vorne zum ebenfalls eingewechselten Bendtner (für Vucinic) gesellte. Dadurch ging Giovinco etwas weiter zurück und Vidal von seiner ohnehin recht breiten halbrechten Achter-Position weiter seitlich auf den Platz von Cáceres. Während Juventus also dem 3-5-2 im Großen und Ganzen treublieb und es mit einigen Detailveränderungen offensiver interpretierte, stellte Stramaccioni mit der Einwechslung von Mudingayi für Milito nur kurze Zeit später auf die nächste Mischformation um. Durch die Einordnung des belgischen Neuzugangs als halbrechter Sechser ergab sich eine Art 5-3-1-1 – angelehnt an die Formation, mit der die Fiorentina Juventus an den Rand einer Niederlage gebracht hatte. In Inters Version genoss Guarín vor der Dreierkette als freier Abräumer viele Defensivfreiheiten und Palacio lauerte als beweglicher Stürmer auf Konter sowie Befreiungsschläge, aber beide Offensivkräfte konnten situativ als zusätzliche Verbreiterung der Defensivformation halblinks neben die drei Sechser fallen. In dieser Anordnung, die insgesamt sehr kompakt und anpassungsfähig daherkam und besonders die starke linke Seite der Turiner abdeckte, hielt Inter dem Schlusssturm der wütend anrennenden Hausherren stand und erzielte mit einem Konter gar noch das 1:3.

Angesichts der guten taktischen Maßnahmen und besseren Veränderungen im Laufe des Sieges war dies ein nicht unverdienter Sieg für Stramaccionis Mannen, die nun mit 27 von 33 möglichen Zählern nur noch ein Pünktchen hinter dem Tabellenführer stehen und damit endgültig der große Hauptkonkurrent für die Turiner sind.

Lino 6. November 2012 um 20:30

Das Augenscheinlichste an diesem Spiel war das fehlende Mittelfeld…Sieht man auf diesem Niveau eher selten

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gio 5. November 2012 um 23:21

Jungs, ihr seit echt Klasse!

Eine Schande dass sowas wie der kicker oder die SportBLÖD in hoher Auflage gedruckt werden, ihr aber (bis jetzt) nur einen Internetauftritt habt.

Macht weiter so!

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SR 5. November 2012 um 22:19

Danke für die Analyse!

Ist dieses Spiel deiner/eurer Meinung nach ein weiterer Beweis für die landläufige Meinung, dass die Italiener (mikro-)taktisch allen anderen immer noch eine Stufe voraus sind?

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DJ Doena 9. November 2012 um 14:32

Es wäre mir neu, dass es eine landläufige Meinung ist, die Italiener seinen taktisch voraus. Man sieht ja gerade inder CL das ManCity mit Starbesetzung und italienischem Trainer gerade taktisch immer wieder versagt. Der Wechsel zwischen 3er und 4er Kette immer zum falschen Zeitpunkt sagt da schon einiges. Auch in der Serie A kann ich keine taktischen Neuerungen erkennen, zugegebnener Maßen in der PL noch weniger. Allerdings sehe ich die PD und auch die Ligue 1 vor den Italienern. Die Bundesliga lasse ich in der Bewertung mal außen vor.

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Mike 9. November 2012 um 20:48

Italienischer Fussball ist wohl der taktisch überbewerteste Fussball überhaupt. Da sehe ich auch klar den französischen Fussball weiter vorne. Von der PD und der BL ganz zu schweigen.

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Antonio 5. November 2012 um 17:22

Sehr gute Analyse. Lediglich eine Anmerkung, wie mein Vorschreiber. So toll und ansehnlich die Aktion zum Juve Tor war, kann man das auch so lesen, dass die Hintermannschaft von Inter es vermocht hat Asamoah ins Abseits zu stellen (immerhin gut 1 Meter), es aber vom schwachen Linienrichter einfach nicht geahndet wurde!

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Felice 5. November 2012 um 16:58

Tolle Spielanalyse, vielen Dank! Man mag hinzufügen, dass das 1:0 der Juve wegen Abseits nicht hätte gegeben werden dürfen…

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MR 5. November 2012 um 15:07

Geile Analyse.

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Maenix 5. November 2012 um 15:07

Danke für die Analyse.

Interessant würde ich noch deine Einschätzung finden, ob bei Juve wirklich das Hauptproblem der fehlende „Knipser“ vorne drin ist (auch in der CL).

Oder was meinst du TR? Danke

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