Chelsea F.C. – Liverpool F.C. 2:1
Gegen einen Gegner, der über die ersten 60 Minuten zahnlos agierte, genügten Chelsea eine solide und disziplinierte Defensivleistung mit einigen guten taktischen Ideen sowie ein wenig Glück in der letzten halben Stunde zu einem 2:1-Sieg und damit dem Gewinn des FA-Cups 2012.
Bei Kenny Dalglish stellt sich immer die Frage, welche Grundformation er wählt – mit gleichem Personal kann diese mehr ein 4-4-2 und ebenso mehr ein leicht asymmetrisches 4-3-3 darstellen. Für dieses Spiel wählte die schottische Liverpool-Legende letztere Variante aus – mit Gerrard und Henderson auf den Achterpositionen, Downing und Bellamy auf Außen sowie Suarez als beweglichem und zurückfallendem Stürmer.
Auf der Gegenseite wartete Roberto di Matteo mit einer kleinen Überraschung auf: In Anbetracht der bloßen Aufstellung hatte man das unter ihm übliche gewordene 4-1-4-1-System erwarten können, doch agierte man stattdessen in einem 4-2-3-1, in welchem Mata als hängende Spitze und Ramires auf der rechten Seite anstatt als Achter aufliefen. Auf diese Weise konnte man im Mittelfeldzentrum die Formation des Gegners spiegeln, was zu mehr defensiver Sicherheit vor der Viererkette und dem Blocken der Vorstöße Gerrards und Hendersons dienen sollte.
Über weite Strecken funktionierte das Defensivkonzept der Londoner einmal mehr sehr gut, so dass Liverpool gegen die recht tiefstehende Chelsea-Defensive kaum zu Torchancen kam. Dies lag allerdings nicht nur an einer disziplinierten und guten Abwehrleistung der Blues, sondern auch zu großen Teilen an Liverpool selbst, denen wie schon so häufig die Durchschlagskraft nach vorne fehlte, was an üblichen Problemen lag.
Was Liverpool im Spielaufbau fehlte
Ein ganz zentrales Problem hierbei war die zu große Lücke zwischen Suárez und den drei zentralen Mittelfeldspielern. Meistens ließ sich Gerrard im Spielaufbau neben Spearing fallen, um die Ballverteilung mit zu organisieren, während auch Henderson sich eher tief positionierte. Dadurch fehlten allerdings Anspielstationen in der Tiefe und man konnte kaum hinter die Mittelfeld-Viererkette Chelseas kommen, was auch dadurch verstärkt wurde, dass die beiden Außenspieler relativ breit standen.
Der Grund für diese Ausrichtung war zum einen die Fokussierung auf ein Flügelspiel und zum anderen die Tatsache, dass man auf diese Weise den Raum zwischen den Linien ganz für Suárez freihalten wollte, der als vorderster Spieler viele Freiheiten genoss. Allerdings hatte er, wenn er sich fallen ließ, um Zuspiele anzunehmen, kaum Anspielstationen in seiner unmittelbaren Nähe. Stattdessen konnte er von einem Innenverteidiger gefahrlos verfolgt und bedrängt werden, da niemand die entstehenden Räume in der Tiefe attackierte. Gleichzeitig war Suárez auch von der anderen Seite durch eine Viererkette, nämlich jene im Mittelfeld, eingekesselt und wurde von dieser beengt. Insofern war es also jenes Problem, unter dem auch Rooney im Manchester-Derby litt, welches besonders durch den fehlenden Support der Mittelfeldspieler im Aufbauspiel entstand.
Was Liverpool im letzten Spielfelddrittel fehlte
Auch im Angriffsdrittel, wenn man einen Angriff weiter nach vorne spielen konnte, hatte Liverpool große Schwierigkeiten, diesen weiterzuführen und mit einem Abschluss zu vollenden. Ursächlich war hier wiederum die fehlende Unterstützung der Spieler untereinander, da es zwischen ihnen zu wenige Verbindungen gab.
Praktisch hatte man nur die beiden Pärchen auf den Flügeln, die jeweils von Außenverteidiger und Außenspieler gebildet und gelegentlich immerhin von Suárez unterstützt wurden. Zu Beginn funktionierte allerdings selbst dies kaum, was dann durch eine mutigere Ausrichtung der Außenverteidiger behoben werden konnte. Dennoch trug das augenscheinliche Ziel, aus diesem klar auf die Flügel fokussierten Angriffsspiel zum Tor zu kommen, zu wenige Früchte.
Erstens wurde man zu ausrechenbar, da man nach relativ ähnlichen Mustern und fast ausschließlich über die Flügel angriff, wenngleich Chelsea ein wenig Probleme hatte, diese sehr direkten und konsequenten Flügelangriffe zu verteidigen. Zweitens, und dies war deutlich bedeutender, fehlte es allerdings an einem Abnehmer im Strafraum. Wenn man sich schon derart auf ein solches Spielkonzept festlegt, sollte es für die Flanken wenigstens einen Abnehmer geben, doch Suárez alleine konnte sich kaum durchsetzen, wobei er oftmals noch nicht einmal im Strafraum stand. Als man im Verlauf der ersten Halbzeit mehr auf ein 4-4-2/4-4-1-1 umstellte, wurde dies etwas besser, da Henderson als rechter Mittelfeldspieler einige Male im Sechzehner auftauchte und Bellamy als beweglicher zweiter Stürmer Downings Flankenläufe unterstützte – doch die ersten Ansätze von Verbindungen reichten noch nicht zu wirklicher Torgefahr aus.
Chelseas Konter und Liverpools fehlende Kompaktheit im Mittelfeld
Konstant gefährlich war zwar auch Chelsea nicht, doch genügte es zumindest für einen Treffer, der bereits nach elf Minuten durch einen stark vorgetragenen Konter fiel. Auch in der Offensive profitierte der Champions-League-Finalist dabei von den Problemen ihrer Gegner, welche zu keiner Kompaktheit im Mittelfeld fanden.
Zwar hatte Kenny Dalglish den alternden Veteran Jamie Carragher auf der Bank gelassen, um mit der Abwehrreihe höher agieren zu können, doch dennoch konnte man die Räume vor der Viererkette nicht eng machen. Als alleiniger Sechser konnte Jay Spearing beim Abdecken der Räume einmal mehr nicht wirklich überzeugen und wurde wie schon manches Mal überladen, wenngleich er auch zu wenig Unterstützung durch seine Kollegen erhielt.
Dabei zogen die beiden Außenspieler Chelseas mehr oder weniger stark in die Mitte, während Drogba und Mata nach zwei unterschiedlichen Mustern rochierten. Entweder gingen die beiden Offensivkräfte ein wenig aus dem Zentrum heraus, um ihre Gegenspieler wegzulocken und den Raum für die einlaufenden Außenspieler oder den vorstoßenden Lampard zu öffnen. Oder es war Drogba, der sich nach hinten fallen ließ, um mit seiner körperlichen Wucht Spearing zusätzlich zu okkupieren und damit Mata ins Spiel zu bringen, der somit deutlich mehr eingebunden war, als zuletzt bei seinen Einsätzen auf der Außenseiten. Aus einer solchen Szene fiel dann auch der besagte Treffer, als Spearing Mata aus den Augen verlor, dieser sehr große Räume zwischen den Linien vorfand und Ramires einsetzen konnte, welcher wiederum José Enrique stehen ließ und traf.Zumindest im ersten Durchgang trug der Brasilianer, der den Spanier offensiv wie defensiv dominierte, sehr viel zu Chelseas Überlegenheit bei.
Dadurch, dass die Außenverteidiger Liverpools im Laufe der ersten Halbzeit offensiver wurden, konnten Mata und Drogba auch öfters auf die Außenbahnen rochieren, um dort die entstandenen Läufe anzulaufen, was allerdings nicht so effektiv war wie in der freien Mitte.
Das endgültig perfekte Beispiel für diese Schwachstelle der Reds stellte dann das 2:0 kurz nach Wiederbeginn dar – Mata war auf die Außenbahn gegangen und hatte die Mitte für Lampard überlassen, welcher dem klasse abschließenden Drogba das Tor auflegte. Erschreckend aus Sicht der Liverpool-Defensive: Eine kleine Körpertäuschung im Mittelfeld reichte und Lampard stand bis zum Strafraum das gesamte Feld offen.
Angesichts dieses Spielstandes und einer enttäuschenden ersten Stunde musste Kenny Dalglish reagieren. Alle Fans der Reds hofften nun auf eine ähnliche Wende wie im Halbfinale, als man im Derby gegen Everton nach ebenfalls sechzig schwachen Minuten aus einem 0:1 noch einen Sieg machte. Um diesmal gar noch zwei Treffer an Rückstand aufzuholen, setzte Dalglish auf einen sehr riskanten Wechsel und brachte mit Carroll einen Zielstürmer für die vielen Flanken anstelle von Spearing.
Zunächst zahlte man aber fast den Preis für das praktisch völlig inexistente defensive Mittelfeld. Da man nun einen offensiven Achter, der sich nun verstärkt mit nach vorne einschaltete und die zentralen Räume im letzten Drittel mit bearbeitete, sowie einen Hybrid aus Achter und Außenbahnspieler hatte, ergaben sich für Mata, Drogba und Co. sehr viele Räume zwischen den Linien (und nicht dahinter, weshalb Torres überhaupt nicht spielte) – ihre Menge an Chancen konnte Chelsea in dieser Phase allerdings nicht verwerten und verpasste damit die Entscheidung.
Liverpools „Beinahe-Comeback“
Mit Andy Carroll in der Mitte hatte man nun einen vernünftigen Abnehmer für die zahlreichen Flanken, was sich auch bezahlt machen sollte. Gerade die beiden auf der linken Seite agierenden Spieler setzten nun auf eine brutale Pärchenbildung, wobei sie gelegentlich noch von mutigen Vorstößen Aggers unterstützt wurden, und auch wenn es immer ein relativ ähnlicher Spielzug war, so kamen die beiden doch zu vielen Flankenmöglichkeiten:
Mit guten Verlagerungen setzten Henderson und Gerrard die Außenspieler ein, welche anschließend sofort und mit viel Aggressivität den Weg entlang der Linie suchten. Aufgrund der sehr engen Stellung des Chelsea-Kollektivs konnte Liverpool mit dieser Kombination häufig außen am gegnerischen Defensivblock vorbei spielen und fand daher durchaus Räume auf dem Flügel. Aus diesen Flanken resultierten einige gute Chancen für Carroll, der immer näher an seine Top-Form aus alten Newcastle-Tagen herankommt. Auch sein schneller Anschlusstreffer (64.) war sehr gut gemacht und wurde ursprünglich ebenso durch die Pärchenbildung auf der linken Seite eingeleitet – ironischerweise fiel der Treffer nur, weil der Spielzug so offensichtlich war, abgefangen wurde und Bosingwa dann den individuellen Fehler beging.
Neben der Einwechslung Carrolls waren auch die Vorstöße der zentralen Mittelfeldspieler ein wichtiger Aspekt, der bei Liverpool in Halbzeit zwei verbessert war. Längere Bälle wurden vom Zielspieler sehr gut ablegt, wodurch einige gefährliche Weitschussmöglichkeiten für Henderson und Gerrard entstanden.
Überhaupt bekamen die Reds das Spielfeldzentrum auch im letzten Drittel nun immer besser unter Kontrolle. Durch Carrolls Präsenz erhaschte Suárez mehr Freiheiten, wurde nicht mehr so stark bewacht und konnte daher mit dem aufrückenden Gerrarrd teilweise gar eine Doppel-Zehn bilden. Diese beiden initiierten dann auch den schönsten Spielzug der Partie, indem nun sie das Zentrum überluden. Letztlich kam ein Chip auf Carroll dabei heraus, der eine Art zweites „Wembley-Tor“ produzierte – Liverpool war dem Ausgleich ganz nahe. Erwähnenswert noch, dass dieser Angriff letztlich über die rechte Seite kam, wo Johnson im zweiten Durchgang deutlich aktiver agierte und außerdem auch sehr gut die Halbräume anlief – dies ist eine besondere Stärke des Rechtsverteidigers, die fast belohnt worden wäre. Verstärkt ermöglicht wurde diese leicht angepasste Rolle durch die Einwechslung Kuyts, der sich noch einmal besser an Johnson anzupassen wusste als Bellamy und zudem auch einige gute zweite Bälle gewann.
Fazit
Eine Stunde lang hatte es Chelsea ziemlich einfach – man führte früh durch einen starken Konterangriff, profitierte defensiv von einem offensivtaktisch schwachen Gegner sowie im Angriffsspiel von den Räumen, die hinter Gerrard und Henderson klafften, und hatte folglich zunächst mit einer soliden Leistung einen ruhigen Abend.
Erst die Einwechslung Carrolls, die angepassten Rollen der Außenverteidiger sowie die vermehrten Vorstöße der zentralen Mittelfeldspieler veränderten die Partie und Chelsea bekam Probleme mit den vielen Flanken auf Liverpools Carroll. Für alle Fans des FC Bayern dürfte es durchaus erfreulich sein, dass Chelsea in der Verteidigung der Außenbahnen relativ unsouverän wirkte – bei der Abwehrschlacht gegen Barcelona musste man hier relativ wenig arbeiten, weshalb man gar mit der Spielweise der Bayern mehr Probleme haben und mehr Aufwand leisten müssen könnte als man ihn zumindest im Rückspiel gegen Barca bringen musste. Angesichts dessen ist es aus deutscher Sicht umso ärgerlicher, dass ausgerechnet das brutal starke Duo aus Ribéry und Alaba gesprengt worden ist, da der junge Österreicher mit der zielstrebigeren und atheltischeren Art und Weise seiner Vorstöße etwas gefährlicher gewesen wäre als Lahm auf der anderen Seite. Sein potentieller Ersatz Contento kann dies vom Prinzip her sogar durchaus ebenso zeigen wie Alaba, wohingegen Pranjic wohl die insgesamt (spiel)stärkere Variante wäre.
Allerdings zurück zum eigentlichen Spiel, dem FA-Cup-Finale, das der Chelsea Football Club letztlich trotz einer wackeligen Schlussphase verdient gewann. Kenny Dalglish muss sich vorwerfen, sich bei einigen taktischen Aspekten verkalkuliert und dies dann zu spät korrigiert zu haben. Nun heißt es an der Merseyside, diese eher missratene Saison – nach dem Ligapokal konnte man sie nicht mit dem FA-Cup versöhnlich beenden – abzuhaken und sich für das nächste Jahr auf eine konstante Ausrichtung einzustellen sowie die einzelnen Mannschaftsteile im Kontext dieser Ausrichtung besser aufeinander abzustimmen.
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