Die Roma unter Luis Enrique
Man sprach vom italienischen Barcelona – nach einem guten halben Jahr kann die Roma unter Luis Enrique vorerst eine durchwachsene Bilanz aufweisen.
Der dominante Ballbesitzfußball Marke FC Barcelona gilt mittlerweile als Ideal und Richtwert für große Teile des europäischen Fußballs. Im Sommer machte sich auch der italienische Hauptstadtklub, die berühmte Roma, daran, auf diesen Zug aufzuspringen, indem man sofort einen ausgewiesenen Fachmann in diesem Bereich verpflichtete – Luis Enrique war jahrelang Spieler und Publikumsliebling bei den Katalanen und bis zum Sommer auch Trainer der zweiten Mannschaft und enger Vertrauter von Erfolgstrainer Guardiola, also jemand, der die Philosophie des Champions-League-Siegers bestens kennt.
Sogleich wurden auch einige ins System passende Spieler in die ewige Stadt gelotst, unter anderem Bojan, der von Barcelona mitgebracht wurde. Taktisch gesehen orientierte sich Luis Enrique am Grundschema Barcelonas und ihrer stilkennzeichnenden heiligen Zahlenformel 4-3-3. Während im Tor mit dem von Ajax ausgebildeten Maarten Stekelenburg ein passender moderner Antizipationskeeper kam, baute man die Formation auf dem Feld nach dem groben Vorbild der letztjährigen Mannschaft Barcelonas auf.
Luis Enrique entschied sich für sehr offensive und weit aufrückende Außenverteidiger, welche für Breite und zusätzliche Stärke im Mittelfeld sorgen sollen und durch eine bei Ballbesitz übergangsweise bestehende Dreierkette abgesichert werden, indem sich der Sechser des 4-1-2-3 vor seine beiden Innenverteidiger fallen lässt und die Bälle verteilt. Es verbleiben zwei spielstarke und kreative Mittelfeldspieler im Zentrum (Pjanic, ein sehr guter Spieler), die zudem von einem sehr spielstarken Mittelstürmer unterstützt werden, der sich wie eine Falsche 9 nach hinten fallen lässt – Totti und Bojan stellten exzellente Varianten da, doch die Galionsfigur kam bisher nur auf fünf Ligaeinsätze. Große Torgefahr lastet damit auf den beiden anderen Stürmern, die sich auf den Halbpositionen für Loch- oder Kurzpässe, selten auch für Kombinationen anbieten, und vom Raum, den ihnen die Falsche 9 und die Außenverteidiger schaffen, profitieren sollen.
Bereits zu Beginn der Spielzeit schien es so, als ob sich der Neuanfang unter dem spanischen Trainer auszahlen würde, denn viele Spieler schienen gut in das System zu passen (viele allerdings auch gar nicht) und die Grundlagen der Philosophie wurden rasch verstanden und umgesetzt. Man dominierte und kontrollierte die Spiele bereits, drängte den Gegner nach hinten, doch nur die letzte Konsequenz und Feinabstimmung fehlte noch.
So erklärte man sich die durchwachsenen Ergebnisse, doch die Schwankungen wurden nicht kleiner. Es dauert eben doch seine Zeit, bis ein solches Konzept mit derart hohen Anforderungen komplett ausgeführt werden kann, vor allem deshalb, weil schon kleinere Fehler- und Störquellen bei einem solch proaktiven und druckvollen Konzept zu großen Blockaden im System führen können. Das Spiel der Roma ist noch in der Findungsphase, sieht daher meistens nett aus, ist aber relativ harmlos und noch zu selten richtig getimt.
Man bemüht sich zwar immer redlich, nimmt die Kontrolle an sich, passt, verlagert und rochiert, versucht, Kombinationen sowie Pärchen – oder Dreiecksbildung aufzuziehen, doch es klappt noch nicht so ganz – die letzte Reife, die letzte Überzeugung, das letzte Selbstvertrauen sind eminent wichtig, aber derzeit nicht vorhanden.
Diese großteils psychologischen Aspekte könnte man auch mit fehlender Durchschlagskraft umschreiben, was wieder Verbindungen zum taktischen Bereich zu ziehen ermöglicht, denn diese fehlende Konsquenz im letzten Drittel hängt neben der nicht zu unterschätzenden psychologischen Konstante (Spiel in engen Räumen, Mut bei der entscheidenden Aktion, Übernehmen der Initiative) stark mit dem Konzept der Falschen 9 zusammen.
In der Theorie hört sich diese Idee von der Falschen 9 wunderbar an und man hat auch die richtigen Akteure für diese Rolle, die auch bezüglich ihrer Ausführung nicht unbedingt Kritik verdienen, doch auch wenn eine Falsche 9 sicherlich auch selbst von ihren Bewegungen in vielerlei Hinsicht (Räume, Spielgestaltung, Vorstöße aus der Tiefe) profitiert, müssen primär die Sturmkollegen diese ausnutzen und aus ihr Kapital schlagen, was der Roma aktuell nicht gelingt, denn mit Ausnahme von Toptorschütze Osvaldo hat sich hier noch niemand wirklich aufdrängen können, wobei auch der Argentinier seine Spielweise nicht konstant durchhält.
Es gibt hier insgesamt ein relativ klares Problem: Man bringt zu wenige Spieler nach vorne ins letzte Drittel bzw. den Strafraum, um genug Gefahr ausstrahlen zu können und spielt zu sehr vor dem Gegner. Die Statistiken untermauern die Situation, in der man sich befindet: Mit 59 % durchschnittlichem Ballbesitz hat man den drittbesten Wert der Liga, mit 15,6 durchschnittlichen Abschlüssen ebenfalls und mit 85,5 % sogar die beste Passgenauigkeit, doch bei den Schüssen, die auch wirklich auf das Tor gehen, befindet man sich nur im Mittelfeld der Serie A.
Desweiteren gibt es zwei große wichtige Faktoren, die zur aktuellen Lage der Roma beitragen, wobei man auch noch einmal anmerken muss, dass sie durchaus in einigen Spielen durch frühe Rückstände oder Platzverweise Pech hatten bzw. geschwächt wurden, und außerdem, dass sie so schlecht gar nicht platziert sind mit einem annehmbaren Abstand von 3 Punkten auf die internationalen Ränge.
Der erste Faktor sind die Probleme, die man mit einzelnen Rollen bzw. Positionsauslegungen aufweist. So ist Luis Enrique beispielsweise bei den beiden Außenverteidigern, die eine sehr wichtige Rolle bekleiden, hier noch in der vollen Experimentierphase, testete bereits diverse Spieler aus, wovon allerdings nur José Angel sowie mit Abstrichen Rosi wirklich überzeugen konnten. Problematisch ist nicht nur die eingeschränkte Kompatibilität der Spieler mit den Anforderungen, sondern auch die Anforderungen an sich sind es, denn es wurde noch nicht ersichtlich, welche Aufgaben die Außenverteidiger nun genau haben sollen, welche Laufwege sie haben, wie sie angespielt und welches Verhalten sie an den Tag legen sollen, was nicht nur durch die ständigen Wechsel hervorgerufen sein worden kann. Ähnliche Schwierigkeiten gibt es im Mittelfeld, wo der sehr dynamische und aggressive Kämpfer Daniele de Rossi nicht unbedingt der ideale Kandidat für den zurückfallenden Sechser ist, denn auch wenn gewisse Ähnlichkeiten zum Fall Tomas Rincón vorliegen mögen, so sind de Rossis Vorstöße aus der Tiefe und sein frühes Attackieren doch etwas sehr Wertvolles, was man hier etwas verschenkt. Wenn das Angriffsspiel stockt oder man weit genug aufgerückt ist, geht er zwar mit nach vorne, aber in den letzten Spielen hat man dies auch Sicherheitsgründen nicht mehr ganz so stark praktiziert.
Hier kommen wir zum zweiten Aspekt – den defensiven Schwächen. Besonders aufgrund der offensiven und dominanten Ausrichtung fallen hier zwei Punkte ins Auge, welche auch miteinander zu tun haben. Zwar steht man sehr hoch und könnte beim Gegenpressing den Raum sehr eng machen, doch hat man in der Umsetzung und Organisation des Pressings noch Probleme (wenigsten gewonnenen Tacklings und zweitwenigsten Fouls der gesamten Liga), was Konter wahrscheinlicher macht und damit auch die fehlende Schnelligkeit einiger Innenverteidiger in dieser hohen Abwehr komplett entblößt, weil auch die Außenverteidiger sehr weit aufgerückt sind – auf diese Weise musste man schon einige Tore hinnehmen und sah die eigene Leistung mit einem Mal zerstört. Im letzten Spiel bei der Fiorentina fielen erneut die Probleme im Luftzweikampf ins Auge – Gamberini traf nach einer Ecke gegen eine Startelf, deren größter Spieler 184 cm maß und deren zweitgrößter (182 cm) einen schnellen Feldverweis kassierte – die durchschnittliche Größe lag übrigens bei 178 cm. Auch hier braucht es Zeit, um diese Nachteile mit guten Taktiken bei Eckstößen auszugleichen.
Fazit
Trotz der durchwachsenen Leistungen muss man am Ende festhalten, dass Luis Enrique bereits einiges bewirkt hat und eine Handschrift zu erkennen gibt. In manchen Entscheidungen fehlen ihm allerdings noch die Balance und die richtige Auswahl. Das kommende Wochenende mit dem Topspiel gegen Juventus, für welches Juan, Gago und Bojan aufgrund der Platzverweise gegen die Fiorentina fehlen, könnte einen entscheidenden Wink für die Zukunft geben, muss man doch gegen einen Titelkandidaten nun seine Klasse beweisen. Generell werden die nächsten Wochen Schlüsselcharakter besitzen für ein interessantes Projekt, welches man als Beobachter begrüßen und positiv bewerten sollte. Nach der Hinrunde sollten die Experimente mit dem Testen von Spielern beendet sein.
4 Kommentare Alle anzeigen
LS 7. Dezember 2011 um 15:45
Gute Analyse der momentanen Situation der Roma.
Für meinen Geschmack geht ihr aber etwas zu hart mit den Außenverteidigern ins Gericht. Die sind eher die leidtragenden der (um mal ehrlich zu sein) nicht erstligareifen Innenverteidigung. Juan und vor allem Heinze haben ihre besten Tage schon lange hinter ihnen, Burdisso hatte im Grunde nur eine gute Saison bei der Roma (09/10 als er noch ausgeliehen war) und dieser blonde VW-Däne hat alles, außer Konstanz.
Nötig wären einfach 2 starke Innenverteidiger, die auch in der Lage sind das Spiel zu eröffnen und die nötige Souveränität ausstrahlen.
Und zu Totti: Kann er nicht unter Enrique oder WILL er nicht?
Der Libanese 7. Dezember 2011 um 18:32
@Totti: Anfangs gab es wohl kleinere Missverständnisse mit Luis Enrique während der EL-Quali. In der Meisterschaft hat er durchwegs gespielt, hat sich dann aber Anfang Oktober eine Muskelverletzung zugezogen und hat dann erst wieder Ende November 20 Minuten gegen Lecce gespielt um sich in der darauffolgenden Woche am Knöchel zu verletzen. Gegen Fiorentina war er zum ersten Mal wieder auf der Bank, wurde aber ob des Resultates und der doppelten Unterzahl nicht eingewechselt. Seine Saison geht erst jetzt los. DAJE CAPITÁ
juventino 5. Dezember 2011 um 23:26
toller bericht! würde mich über etwas ähnliches mit conte und juve freuen. ich muss sagen, ich habe viel erwartet von der roma und wurde ziemlich entäuscht. vorallem bojan ist für mich ein ziemlicher flop, was ich schade finde. ich glaube aber, dass wenn dieses projekt genug geduld erhält, noch sehr spannend wird. danke für die tolle berichterstattung!
Jakob 6. Dezember 2011 um 00:09
Auch von mir: einen Glückwunsch zu einem fundierten und tollen Bericht!
Als Juventus Fan würde ich mich ebenso sehr über eine Analyse der Juve freuen, ich denke dank Antonio Conte und teils sehr starker neuzugänge sowohl vor allem aufgrund des neuen Systems würde sich dies lohnen. Danke für Eure Arbeit!