Türchen 23: Hamburger SV – Juventus Turin 2000

4:4

Einen Tag vor Heiligabend gibt es noch einmal ein „Jahrhundertspiel“ im Adventskalender: das 4:4 des Hamburger SV gegen Juventus Turin aus dem Jahr 2000.

13.09.2000, Champions League Gruppenphase

Fußball-Fans unterschlagen bei ihrer Liebe zum Spiel sehr gerne, dass Fußball eine durchaus langweilige Veranstaltung sein kann. Wie oft sind wir im Leben schon mit hohen Erwartungen an ein Fußballspiel herangetreten, das letztlich nichts mehr war als eine 90minütige Lebenszeitverschwendung? Oft scheint es sogar so, dass ein Fußballspiel umso langweiliger wird, je mehr Erwartungen wir hineinstecken. Man erinnere sich nur an so manches EM- oder WM-Finale.

Nun stellen Sie sich vor, Ihrem Lieblingsverein gelingt zum ersten Mal in seiner Geschichte die Qualifikation zur Champions League. Dort kommt es direkt im ersten Gruppenspiel zum Aufeinandertreffen mit einem der größten Klubs der Welt. Sie als Fan warten tagelang auf diesen Moment, und der halben Stadt geht es genauso. Realistisch betrachtet werden Sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit enttäuscht. So ist eben der Fußball: Meist gewinnt der Favorit ungefährdet mit 3:1, oder es entsteht ein 1:1 mit viel Ballgeschiebe, das man nach zwei Tagen wieder vergessen hat.

Dieses Spiel war die goldene Ausnahme von der Regel.

Die Ausgangslage

Wir schreiben das Jahr 2000. Der Hamburger SV hat sich zum ersten Mal für die Champions League qualifiziert und traf dort direkt auf Juventus Turin. Eine Paarung mit Historie, schließlich kämpften beide Teams 17 Jahre zuvor um den Europapokal der Landesmeister. Die Außenseiter aus Hamburg gewannen das Spiel.

Fast zwei Jahrzehnte später waren die Hamburger wieder der Außenseiter, diesmal jedoch in viel größerem Ausmaß. Juventus Turin hatte zwar etwas an Glanz eingebüßt, nachdem sie zwischen 1996 und 1998 dreimal in Folge im Champions-League-Finale standen. Doch allein der Kader stand für Fußball von allerhöchstem europäischen Niveau: Edwin van der Sar, Edgar Davids, Filipe Inzaghi und an der Spitze: Zinedine Zidane. Bei ihrem Champions-League-Debüt waren die Hamburger also krasser Außenseiter.

Die taktischen Grundordnungen

Grundformationen zu Beginn des Spiels

Grundformationen zu Beginn des Spiels

Trainer Frank Pagelsdorf ging dementsprechend bei der Aufstellung seiner Mannschaft mit Bedacht vor. Die Namen, die er auf das Feld schickte, sprachen durchaus für Offensivfußball: In der vordersten Linie tobten sich Medhi Mahdavikia, Sergej Barbarez und Anthony Yeboah aus, dahinter agierte der nicht minder offensiv denkende Spielmacher Rodolfo Cardoso. In der Defensive wurde aus der 3-1-3-3-Formation jedoch ein sehr kompaktes 5-4-1. Die Hamburger verteidigten mit einer Raumdeckung, bei der einzelne Verteidiger ihre Gegenspieler mannorientiert verfolgten.

Juventus‘ Trainer, ein gewisser Carlo Ancelotti, hatte sich ebenfalls was ausgedacht. Turin lief in einer Formation auf, die man wohl am ehesten als Raute bezeichnen kann. O’Neill sicherte vor der Abwehr ab. Zinedine Zidane genoss als Zehner eine Freirolle, er war praktisch überall und nirgendwo auf dem Rasen zu finden. Edgar Davids und Alessio Tacchinardi pendelten dazwischen als Achter zwischen Sechser- und Zehnerraum. Die Abwehrkette war asymmetrisch aufgestellt: Linksverteidiger Gianluca Pessotto schaltete sich immer wieder in die Offensive ein, während sich Igor Tudor auf der anderen Seite stark zurückhielt. Juventus pendelte damit zwischen Dreier- und Viererkette.

Taktische Wechselwirkungen und Verlauf der Partie

Der Außenseiter sorgte in dieser Partie für erste Akzente. Die Hamburger störten überraschend früh. Ihre drei Angreifer konnten einen hohen Druck auf die gegnerische Abwehrreihe aufbauen. Vor allem nach Ballverlusten in der vordersten Linie setzen die Hamburger mit Wucht nach. Es war kein kollektives Gegenpressing, aber ein von individueller Leidenschaft geprägter Versuch, jedem verlorenen Ball sofort wieder nachzujagen.

Nach Turins früher Führung durch einen Eckball fand die Partie ihr Muster: Die Hausherren ließen den Ball laufen, die Turiner setzten auf Konter. Turin verteidigte zunächst in einem 4-1-3-2, das zwei Schwachstellen bot: Zum einen besetzten die Turiner den Raum vor der eigenen Abwehr eher unsauber. Da die Abwehrspieler nicht herausrückten und die Achter sehr hoch agierten, stand O’Neill oftmals allein auf weiter Flur. Vor allem Linksaußen Barbarez nutzte dies immer wieder, um in die Lücken vor der Abwehr zu stoßen.

Die zweite große Schwachstelle der Turiner: Sie hatten dem Vorwärtsdrang der Hamburger Außenverteidiger wenig entgegenzusetzen. Diese interpretierten ihre Rolle, wie dies für eine Fünferkette jener Zeit üblich war, nämlich extrem offensiv. In den ersten Minuten war es Bernd Hollerbach, der immer wieder mit Dribblings aus der Tiefe nach vorne startete. Nach der Pause brachte der eingewechselte Marcel Ketelaer sein Tempo ein und düpierte die Turiner Abwehr ein ums andere Mal.

Die größte Waffe der Hamburger war in diesem Spiel eine andere: ihre Standards. Sobald es einen Freistoß in der gegnerischen Hälfte gab, schlug Cardoso, sonst meist im Achterraum abgetaucht, den Ball in den Turiner Strafraum. Die Hamburger übertrumpften Turin mit ihrer schieren physischen Präsenz, indem sie gleich mit fünf oder sechs Spielern am Fünfmeter-Raum lauerten. Somit konnten sie bereits nach 17 Minuten nach einem Freistoß ausgleichen.

Hamburg greift an – und Juventus kontert

Auch nach dem Treffer zum 1:1 blieb Hamburg die aktivere Mannschaft. Oft nutzten sie direkte Bälle in die Spitze auf Yeboah oder in den Halbraum zu Barbarez. Nico Kovac rückte aus dem Mittelfeld nach vorne und bot sich für Ablagen an. Hamburg kam zu einigen Gelegenheiten durch Fernschüsse, nach Flanken oder über Standards.

Hamburgs Defensivformation war für die damalige Zeit äußerst kompakt.

Hamburgs Defensivformation war für die damalige Zeit äußerst kompakt.

Die Tore zwei und drei erzielte jedoch Juventus. Zidane stieg nun zur entscheidenden Figur auf. Pagelsdorf entschied sich dagegen, Zidane einen festen Manndecker zuzuweisen, und setzte auf ein eher mannorientiertes Herausrücken aus dem 5-4-1. In vielen Situationen funktionierte dies gut und verleitete Zidane dazu, sich weit nach hinten fallen zu lassen, in die Peripherie des Spiels, von wo aus er gegen Hamburgs kompakte Formation keine Akzente setzen konnte. Einige Male kam er jedoch kurz hinter dem Mittelkreis an den Ball und konnte ohne Gegenspieler zum Pass ansetzen.

Das Hauptproblem war weniger das Verhalten des Mittelfelds als vielmehr die unabgestimmt wirkende Abwehrreihe. Die Fünferkette spielte durchaus modern für ihre Zeit. Die Spieler agierten auf einer Linie und spielten oft auf Abseits. Es zeigten sich hier jedoch zahlreiche Kinderkrankheiten, die typisch sind für die Übergangszeit, in der aus Manndeckern Innenverteidiger wurden. So orientierte sich sowohl beim 1:2 (36.) als auch beim 1:3 (52.) ein Verteidiger an seinem Gegenspieler und verpasste dadurch, dass seine Mitspieler vorrückten und auf Abseits spielten. Inzaghi schlich sich jeweils in seiner unnachahmlichen Art davon und versenkte den Ball. Es waren zwei schnell gespielte Angriffe, die Juventus‘ Stärken unter dem damaligen Umschalt-Trainer Ancelotti zeigten.

Hamburg wird nicht belohnt

Spätestens das 1:3 war für die Hamburger das Signal, alles nach vorne zu werfen. Die Außenverteidiger hielt nichts mehr hinten, es entstand immer häufiger ein situatives 3-2-5. Barbarez nutzte die hohe Rolle der Außenverteidiger, um immer zentraler zu agieren. Zusammen mit Kovac war er nun der präsenteste Hamburger Spieler. Es blieb jedoch dabei, dass Hamburg vornehmlich über die Flügel nach vorne kamen. Das verstärkte sich noch, als mit Präger ein weiterer Rückraum-Stürmer ins Spiel kam.

Grundformationen nach den Wechseln in der Schlussphase

Grundformationen nach den Wechseln in der Schlussphase

Ancelotti reagierte durchaus klug. Er brachte Darko Kovacevic für Alessandro del Piero aufs Feld. Kovacevic ging nicht in den Sturm, sondern postierte sich auf Linksaußen. Er sollte die Räume ausnutzen, die durch die hohe Rolle der Außenverteidiger entstanden. Juventus‘ Achter zogen sich nun zurück, sodass Juventus meist in einem asymmetrischen 4-3-1-2 agierte. Juventus konterte nun über die linke Seite und hatte gleich zweimal die Chance, alles klarzumachen. Der Fußballgott war jedoch auf Hamburger Seite, und so erzielten sie nach einer Flanke (65.) und per Elfmeter (68., Schütze: Torhüter Hans-Jörg Butt) zwei Treffer.

Nach einer kurzen Unterbrechung – Hamburger Fans warfen Sitzkissen auf das Feld – setzten die Hamburger zum Sturmlauf an. Sie agierten nun praktisch durchgehend im 3-3-4, wobei die beiden Außenverteidiger hier dem Mittelfeld zugerechnet werden. Praktisch war es immer häufiger ein 3-1-6, bei dem selbst Kovac und Abwehrchef Nico-Jan Hoogma an die letzte Linie vorrückten. Mit dieser Formation versuchten sich die Hamburger vor allem an Brachialfußball mit vielen Flanken und Fernschüssen. Zidane tauchte in dieser Phase jedoch ab – und das, obwohl im Hamburger Mittelfeld genug Konterräume vorhanden gewesen wären. Juventus wirkte müde, was wohl auch daran lag, dass in Italien die Saison noch nicht begonnen hatte.

Gleich zweimal kam es, wie es kommen musste. Zunächst erzielten die Hamburger das folgerichtige 4:3 – nach einem Standard, natürlich (82.). Wie so häufig, wenn eine Mannschaft erfolgreich einen Sturmlauf abgeschlossen hat, fanden die Hamburger nicht direkt in eine kompakte Defensive zurück. Noch immer standen häufig nur drei Verteidiger in der letzten Linie. Zidane tauchte plötzlich wieder in den Räumen neben Kovac auf. Kurz vor Schluss schickte er Inzaghi auf die Reise, der nutzte einen kurzen Zupfer von Barbarez und fiel hin – Elfmeter (87.). Das 4:4 markierte den Schlusspunkt einer torreichen Partie.

Das Vermächtnis

Der Legendenstatus dieser Partie dürfte nicht ausschließlich vom verrückten Spielverlauf herrühren. Vielmehr war es eine der wenigen Partien der Fußballgeschichte, bei der die eigentlich viel zu hohen Erwartungen sogar noch übertroffen wurden. Die Hamburger sehen ihre Stadt seit jeher ein Stückchen größer, als sie ist. Das Spiel gegen Juventus sollte die Rückkehr auf die ganz große Fußballbühne markieren – dort, wo die Hamburger aus eigener Sicht eigentlich hingehören. Tagelang gab es in Hamburg kein anderes Thema. Die Rückkehr gelang mit einem Knall.

Was vielleicht nicht minder wichtig war: Die Partie stieg zu einem frühen Zeitpunkt der Saison. Die Fans hofften auf ein großes Jahr national wie international. Schnell landete der HSV aber wieder auf dem Boden der Tatsachen. Die Mannschaft war spielerisch ungleich besetzt, abhängig von genialen Ideen der Einzelspieler oder Standardsituationen. Es fehlte das Tempo im Kader und in der Defensive.

Daran möchte aber in Hamburg niemand gerne erinnert werden. So zeigte der HSV beim 3:1 im Rückspiel eigentlich eine stärkere Leistung. Allerdings schieden sie kurze Zeit später aus der Champions League aus, genauso wie Juventus Turin, die sich in dieser Saison als zu schwach für die Königsklasse herausstellten. Kein guter Stoff für Legenden. Das Hinspiel passt besser in das in Hamburg gelebte Narrativ, man sei eigentlich ein großer Verein, der zu „Jahrhundertspielen“ wie dem 4:4 fähig sei.

Man könnte fast sagen: ein bittersüßer Triumph. Denn so großartig dieses Spiel war – Partien wie diese vernebeln noch heute so manchem in Hamburg die Sicht darauf, wo der Verein seit dem Weggang von Ernst Happel eigentlich steht.

Danox 23. Dezember 2016 um 20:40

Auch Hollerbach und groth müssen die Seiten tauschen…

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Izi 23. Dezember 2016 um 16:01

Ein — wie immer — gelungener Artikel, der auch schön die Probleme im Hamburger Umfeld aufgreift. Nach diesem tollen Spiel folgte dann das unrühmliche Ende der Saison auf Platz 13. Und täglich grüßt das Murmeltier — der Ha-ha-ha-SV spielt grauslig, der Trainer wird entlassen, das Spiel wird nicht besser und das Umfeld beklagt sich, dass man so weit weg vom eigenen Selbstverständnis ist. Woher kommt eigentlich diese Überheblichkeit des Hamburger Spott Vereins?
Schade ist es für die Fans, denen der Verein etwas bedeutet. Die leiden nicht nur unter den Grottenkicks, sondern auch unter den (zutreffenden) Wortspielen, wie ich und Andere sie bemühen. Und schade auch für jeden Trainer, der eigentlich gute Ideen hat, diese aber nicht umsetzen kann, weil “der Klassenerhalt” als Saisonziel nicht erlaubt ist — “Europa” muss es sein…

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Cranky 10. Februar 2017 um 11:40

Das Problem ist ja das die ach so leidenden Fans es selbst sind die diese Überheblichkeit forcieren und auch ausleben, wenn ich mir HSV-Fans aus meinem bekanntenkreis anschaue, dann gehen sie direkt bei jedem neuen Kauf davon aus, dass wäre der nächste Van der Vaart oder Uwe Seeler, werden dann allerdings spätestens 18 Spieltage später in der unteren Tabellenhälfte wieder von der Realität eingeholt und merken, naja vielleicht krieg tman ihn ein bisschen entwickelt und ein paar Millionen Gewinn raus.

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foo 23. Dezember 2016 um 09:39

Der 2. Hoogma in den Grafiken müsste Panadic gewesen sein.

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TE 23. Dezember 2016 um 13:56

Was wäre ein TE-Artikel ohne Fehler? Danke für den Hinweis, habe es ausgebessert!

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