Türchen 23: Christoph Kramer

22. November 2013:

„P.S.: Kramer muss in die Nationalmannschaft.“

Das brachte mir bzw. den „realitätsfernen Fußballnerds von Spielverlagerung“ einige Kritik ein ebenso wie ein leicht belustigtes Schmunzeln von Christoph Kramer persönlich, als er auf seinem privaten Facebookkanal darauf hingewiesen wurde. Etwas über ein Jahr später ist Kramer Weltmeister und begann im Finale sogar von Beginn an (auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern kann).

Seine Entwicklung ist dennoch nicht abgeschlossen; er macht sich auf einer der interessantesten Spielertypen im internationalen Fußball werden zu können.

„Umtriebigkeit“ als Stilmittel

In oben verlinkten Artikel schrieb User „fewepe“ in den Kommentaren das schöne Stichwort „Umtriebigkeit“, welches fast perfekt als Beschreibung von Kramers Spielercharakter passt. Kaum ein Spieler ist so aktiv, präsent und „umtriebig“ wie Kramer. Er ist gegen den Ball in jeder Rolle zu gebrauchen – gleichzeitig. Er kann aufrücken und die höheren Spieler mit herausrückenden Läufen unterstützen, er kann sich als Jäger oder  Sammler betätigen, bleibt in einigen Situationen und Spielen auch passiv auf seiner Position, um mit einer positionsorientierten Spielweise die Formation zu wahren und würde wohl auch als Manndecker eine gute bis sehr gute Figur abgeben.

Offensiv ist genau das Gleiche der Fall. Wenn man einen spielstarken und pressingresistenten Aufbauspieler als tiefen Unterstützer für die Innenverteidiger benötigt, macht Kramer zwar manchmal Eigentore gegen den BVB, erfüllt seine Rolle aber ansonsten sehr gut. Seine lässige Mischung körperlicher Stärke, hoher Präsenz durch seine Ausdauer, seiner Spielintelligenz und seinen technischen Fähigkeiten ermöglicht es ihm sich aus engen Situationen im Sechserraum variabel und teilweise auch spektakulär zu befreien.

In anderen Partien kann er aber effektiver als vertikal agierender und höherer Sechser oder als Achter agieren. Kramer ist der Prototyp des modernen box-to-box-Mittelfeldspielers: Er arbeitet mit enormer Power von Strafraum zu Strafraum, ist athletisch, laufintensiv und präsent gegen den Ball, aber definiert sich trotzdem nicht über seine Physis, sondern über intelligente Laufwege und Kombinationsstärke. Die Omnipräsenz ist nur Mittel zum Zweck, um seine Fähigkeiten maximal ins Spielgeschehen einbinden zu können.

Diese Spielweise sorgt dafür, dass Kramer gewisse Paradoxe in seiner Spielweise entwickelt hat.

Spielmacher, ohne spielzumachen

Durch seinen enormen Bewegungsradius und seine gekonnte Selbst-Involvierung in fast jeden Angriff und dessen Aufbau drückt Kramer zwangsläufig dem Spiel seinen Stempel auf. An sich ist er kein Spielmacher; nicht jeder Ball geht in erster Instanz zu ihm, er entscheidet nicht direkt im Aufbau über den folgenden Angriff und er spielt auch nicht die langen Bälle oder tödlichen Pässe, die oft mit einem Spielmacher verbunden werden. Anstatt dieser verrichtet Kramer spielgestalterische Aufgaben Stück für Stück.

Er mag nicht der Passgeber im Aufbauspiel sein, doch er ist bei längeren Passfolgen immer beteiligt und gibt mit seinen vielen beteiligten Aktionen – raumöffnende Läufe, Infiltration von Räumen, schnelle Ablagen oder vorstoßende Dribblings – dem Angriff einen kramerhaften Charakter. Ein Spielmacher und –gestalter also, doch ohne dabei dem klassischen Typus eines Spielmachers zu entsprechen oder dies gar auf die konventionelle Art und Weise zu tun. Ein Zitat aus Gladbach gegen Hoffenheim:

„Die Gladbacher mussten sich zwar bemühen, um in die Kompaktheit einzudringen, doch fanden recht häufig Wege. Vor allem Kramer war dafür sehr wichtig, der eine recht verrückte Rolle spielte. Während Nordtveit quasi permanent die Position hielt, kippte Kramer regelmäßig zwischen die Innenverteidiger ab, überlief Nordtveit dann und schaltete sich mit in die Offensive ein. Das war strukturell wegen des Übergangsmomentes nicht optimal, erleichterte aber der ganzen Mannschaft das Positionsspiel – Kramerbewegung statt Mannschaftsbewegung.“

Dies ist bei einem anderen Aspekt von Kramers Rolle ähnlich.

Freirolle, ohne frei zu sein

Wer sich so aktiv und umtriebig im Spiel seiner Mannschaft engagiert, kommt automatisch in Situationen, die eigentlich nicht seiner Rolle und Position entsprechen. Hält man sich relativ nahe an seinem eigentlichen Verantwortungsbereich auf, sind die Grenzgebiete der gruppentaktischen Entscheidungsfindung weit weg. Kramer hingegen tastet diese Grenzen immer wieder ab und durchbricht sie vereinzelt, ohne aber für Instabilität zu sorgen.

Seine Feinfühligkeit in nachstoßenden, vorrückenden oder ausweichenden Bewegungen ist beeindruckend, offensiv wie defensiv. Auch seine Aktionen selbst grenzen an positiven Wahnsinn: Wann und wo er sich wofür und wie entscheidet ist öfters außerhalb der Norm, aber selten durchgehend unüblich. Diese Mischung ermöglicht es ihm sich überall herumzutreiben, teilweise weit von seiner eigentlichen Position zu driften, aber trotzdem aus taktischer Sicht sehr diszipliniert zu spielen.

Hier ein Beispiel aus dem letzten Spiel vor Beendigung dieses Porträts:

Fußballgott Kramer meidet bewusst die "Netzer-Zone" lauffauler Spielmacher und bewegt sich aktiv in ... alle anderen Zonen auf dem Feld. #waszumKramer

Fußballgott Kramer meidet bewusst jene Räume seiner Antithese, nämlich der lauffaulen Spielmacher (oder: die „Netzer-Zone“) und bewegt sich aktiv in … alle anderen Zonen auf dem Feld. Er findet sich überall, nur nicht im Mittelkreis. Nicht schlecht für einen Sechser, oder? #waszumKramer (Grafik von Bundesliga.de)

Doch nicht nur in weitreichenden und abstrakten Rollenverteilungen ist Kramer ein Unikat. Sogar einzelne Aspekte seiner Spielweise und seine ganz eigene Art bestimmte Fußballaktionen umzusetzen sind außerhalb der Norm.

Dribbler, ohne zu dribbeln

Häufig setzt sich Kramer an Gegenspielern durch, ohne ein Dribbling, teilweise gar ohne Körpertäuschungen zu nutzen. Im Endeffekt ist seine Spielweise im Dribbling wie Kramer selbst: Simpel, aber effektiv, unspektakulär, aber nur allzu logisch. Meistens visiert Kramer nur offene Räume und passende Dynamiken an, die er mit Ball am Fuß anläuft. Sein Dribbling ist oftmals eher ein „Vorbeilaufen“, doch der Raumgewinn und der Nutzen für seine Mannschaft sind trotzdem überaus hoch. Und kann er nicht sich selbst mit dem Ball aus dem gegnerischen Zugriff entziehen, nutzt er seinen Körper und Drehungen, um den Ball zu stoppen. Phasenweise kann dieses Ausweichen von Gegnern sogar enorm spektakulär werden:

Der Mut zu dribbeln, aber das fast schon sterile Erreichen der Ziele eines Dribblings, passen zu Kramers (Fußballer-)Naturell wie die Faust aufs Auge – und machen ihn zu einer Allzweckwaffe, weil sie seine Fähigkeiten in der Offensive mit seiner läuferischen Präsenz, seinem starken Timing im Bewegungsspiel und seiner sehr guten Pass- und Kombinationstechnik ergänzen und ihn noch unberechenbarer machen. Sie ermöglichen ihm auch mit Ball am Fuß aufrückende Vorstöße durch das Mittelfeld, sogar durch das Dickicht eines gegnerischen Pressingverbunds; eine rar gewordene Fähigkeit seit dem Abgang Roy Keanes aus dem Weltfußballs. Dies ist nicht nur offensiv, sondern auch defensiv der Fall bei Kramer.

Zweikampfmaschine, ohne zweizukämpfen

Trotz seiner 1,90m und seine laufintensive Spielweise definiert sich Kramer wie schon erwähnt eigentlich nicht über seine Physis. Sonst wäre er ja auch kein SV-Liebling. Dennoch kann er physische Präsenz in klassischer Manier entfalten: Mit markigen Fouls, hochdynamischen und risikoreichen Zweikämpfen mit Körperkontakt oder weit angelegten Grätschen. Sie kommen nur selten, weil sie schlichtweg nicht in vielen Situationen benötigt werden. Was Kramer aber häufig macht – auch wenn das unter Favre aus taktischen Gründen nicht mehr so zum Vorschein kommt – ist es Zweikämpfe genau in jenen Momenten zu führen, in welchen der Gegner nicht mit„kämpfen“ kann. Besonders in seiner noch wilderen und herausrückenderen Phase beim VfL Bochum unter Karsten Neitzel oder auch heute noch im Gegenpressing sticht das ins Auge.

Sehr oft kommt Kramer effektiv in Ballnähe und kann sehr viel Zugriff für sich und seine umliegenden Mitspieler entwickeln, ohne wirklich die Zweikämpfe selbst zu suchen und zu fokussieren. Im Verlauf der Attacke wird eine Ungenauigkeit beim Gegner abgewartet (ähnlich wie beim Kramer’schen Abfangen von Pässen übrigens), um den Ball zu erobern oder einfach den Ballverlust durch Druck abzuwarten. Vielfach presst Kramer auch einfach genau in jenem Moment der Ballannahme des Gegners, wo er den Ball noch nicht hat, sich aber auf die Annahme selbst konzentriert.

Um es zusammenfassend mit den Worten meines Kollegen Constantin Eckner zu halten:

„Bei Kramer sind es auch keine richtigen Zweikämpfe. Er schnappt sich manchmal den Ball einfach vom Fuß des Gegners.“

Fazit

Auch das Ende möchte ich kurz halten:

Wie oft sah man Kramer im Vergleich zu seinem Nebenmann oder einem 08/15-Sechser der Bundesliga weit weg von seiner eigentlichen Position? Und wie oft wurde es im Vergleich zu anderen bestraft? #waszumKramer

 Wer etwas Zeit und Lust hat und mir einen Gefallen erweisen möchte, den bitte ich sich den ersten Kommentar unter dem Artikel anzusehen.

fichtenelch 23. Dezember 2014 um 13:58

kleine frage, da sv ja meine mailadresse sehen müsste. kann es sein, dass ich fewepe bin? 😀

Antworten

RM 23. Dezember 2014 um 20:13

Jap, wobei du anscheinend 10+ Accounts hast. 🙂

Antworten

Matthias 23. Dezember 2014 um 12:22

Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen „Ball schleppen“ und „Kramer dribbelt“?

Antworten

mk 23. Dezember 2014 um 11:14

Oh, ich hatte mich schon auf Kramer hinter dem 24. Türchen gefreut… da liegt die Messlatte für morgen dann aber unmenschlich hoch.
Man kann es denke ich kurz machen: Kramer ist ein Tier (ohne ein Tier zu sein?).
Und was deine Umfrage angeht: „Unterschied zwischen Winter“? Österreichische Redewendung oder ein kleiner Fehler (so wie im Artikel „Sonst wäre er ja auch nicht kein SV-Liebling.“)?
Klasse Artikel.

Antworten

mk 23. Dezember 2014 um 11:21

Oh oh, ziehe das letzte zurück. Es war spät gestern…

Antworten

RM 23. Dezember 2014 um 11:26

Kramer hatten wir als Idee für den 24sten, aber ich glaube, wir haben einen noch passenderen Spieler gefunden. Ich bin guter Dinge, dass ich morgen ausnahmsweise die Erwartung der Leser erfüllen beziehungsweise übertreffen kann.

Danke, habe nun beides korrigiert! =)

Antworten

mk 23. Dezember 2014 um 14:18

War ich also doch nicht ganz vernebelt, zwischendurch dachte ich kurz wieder, dass es in der ursprünglichen Formulierung doch richtig gewesen wäre.
Wenn man daraus schließen kann, dass du morgen wieder als hauptverantwortlicher Autor dran bist, habe ich ne Vermutung, aber äußere sie lieber nicht ;). Alle SV-Autoren zusammen wäre auch mal wieder schick…
Aber ihr alle übererfüllt beständig jede Form von hoher Erwartung (zumindest aus meiner Sicht), von daher ist von einer Enttäuschung nicht auszugehen. Ich bin gespannt.

Antworten

RM 23. Dezember 2014 um 10:39

Hallo! Für eine Seminararbeit führe ich gerade eine kleine Befragung durch, wo es um den Unterschied zwischen Winter und Sommer geht. Wer mir dabei helfen mag, der darf sehr gerne diesen Fragebogen ausfüllen und mir auf [email protected] zuschicken. Frohe Weihnachten!

Antworten

Dr. Acula 23. Dezember 2014 um 14:20

Nur an ü21 jährige adressiert?

Antworten

Izi 23. Dezember 2014 um 18:37

So viel, wie ihr das ganze Jahr über für uns Leser leistet, erwidere ich diesen Gefallen gerne! 🙂

Klasse Artikel zu einem wahnsinns-Typen!!! 😀

Antworten

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*