Vereinsphilosophie für den HSV: Happelisierung des Traditionsklubs

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Bei aller Diskussion um die inhaltlichen Probleme des Hamburger SV gibt es zwei akute, omnipräsente Grundthemen: die fehlende Philosophie und Konstanz sowie die außergewöhnliche Tradition des Vereines, der er selbst nicht mehr gerecht werden kann. Dabei könnte das eine die Lösung für das andere sein. Der HSV sollte sich erinnern, wofür Vereinslegende Ernst Happel stand.

Das Selbstverständnis hoher Geltung

Das österreichische Trainergenie war es, der den Sportverein zum größten Erfolg seiner Geschichte führte, indem Juventus Turin 1983 im Finale des Pokals der Landesmeister geschlagen wurde. Die erfolgreiche Zeit zu Beginn der 80er ist bis heute das Fundament des Hamburger Selbstverständnisses. In der Hansestadt ist klar, dass der HSV einer der größten Vereine Europas sein soll und ins internationale Geschäft gehört. Als einziger Verein, der seit Einführung der Bundesliga ohne Ausnahme im deutschen Oberhaus agiert, umweht den „Dino“ eine einzigartige Aura.

Dieses Selbstbild muss sich im Fußball der Hamburger Mannschaft widerspiegeln – um dem Anspruch des Vereins und den Erwartungen der Fans gerecht zu werden, aber auch damit die Mannschaft den Vereinsmythos für sich nutzen kann. Das langfristige Ziel sollte daher ein Fußball sein, der herausragt und einzigartig ist. Stilprägend müssen Dominanz und Gelassenheit sein, dann spielt der HSV auch Hamburger Fußball.

Leitendes Pressing und ausgewogener Ballbesitz

Übersetzt man diesen Anspruch in taktische Vokabeln, ergibt sich ein ruhiges Ballbesitzspiel und ein kluges Pressing. Der Gegner sollte in jeder Spielphase beherrscht werden.

„Man muss dem Gegner seinen Stil aufzwingen und darf ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.“ – Ernst Happel

Im Ballbesitzspiel sollte das Zentrum kontrolliert werden. Das erfordert eine spielstarke Abwehr und technisch versierte Mittelfeldspieler. Diese sollen das Spiel strategisch kontrollieren, zwischen vertikalerem Spiel und eher defensivem Ballbesitz wechselnd; gezielte Rhythmuswechsel passen in den dominanten Ansatz.  In der DNA des Vereins sind auch komplette Stürmer und außergewöhnliche Spielmacher vermerkt: Spieler wie Seeler oder van der Vaart entsprechen dem Stil des Klubs. Diese Spieler benötigen unterstützende Flügelstürmer, die Präsenz im Strafraum zeigen und als Abnehmer für Aktionen im Zentrum dienen. In dieser Konstellation müssen die Individualisten aus der kollektiven Kontrolle ausbrechen und im Zusammenspiel für Glanzmomente sorgen.

„Ich bin für offensiven Fußball, von hinten raus, das ist das totale Spiel. Bei einem starken Gegner muß man jedoch auch zunächst defensiv spielen und dann schnelle Konterangriffe führen. Immer muß der Gegner früh angegriffen werden. Alles zusammen nenne ich Pressing.“

Für das Spiel gegen den Ball ergibt sich ein Pressing, welches vor allem über taktische Intelligenz funktionieren sollte. Das wilde Jagen des Gegners, das von Außenseitermannschaften wie Freiburg praktiziert wird, passt nicht perfekt zum Dino. Eine gelassene, zielgerichtete Herangehensweise passt besser; wobei eine hohe Grundintensität und gezielte Bissigkeit in den richtigen Momenten dennoch unabdinglich sind. Die Beherrschung von Raum und Ball ist jedoch oberste Priorität. Das ist mit einer flexiblen, optionsorientieren Raumdeckung erreichbar. In dieser Grundausrichtung kann ein dominantes Hamburg immer wieder zockende Elemente einstreuen: Offensivspieler klinken sich aus der Defensive aus und positionieren sich gefährlich für das Umschaltspiel – strategische das Spiel kontrollieren, die eigene Klasse hervorheben, den Gegner einschüchtern.

die Hamburger spielten mit dem verkappten und aufrückenden Libero Hieronymus, mit der personifizierten Bananenflanke Manni Kaltz auf rechts, einer Asymmetrie und Spielgestalter Magath, welcher die gegnerische zona libera nutzte, um den Siegtreffer zu erzielen

Das 4-3-3 der Hamburger aus dem Jahr 1983 könnte auch heute noch in ähnlicher Spielweise angewandt werden.

Grundsystem: 4-2-1-3 als 4-3-3-Variante

Für diese ambitionierten Ziele eignet sich als formationstaktische Grundlage eben das System, welches unter Happel den Pokal der Landesmeister brachte: Ein 4-3-3 mit einer 2-1-Stellung im Mittelfeld erlaubt Flexibilität und unterstützt die entscheidenden Spielertypen.

Ein Dreiersturm erlaubt frühen Zugriff im Pressing und flexible Durchschlagskraft beim Spiel in den Strafraum. Die 2-1-Stellung der Mittelfeldzentrale gibt dem Zehner viele Freiheiten, erlaubt jedoch auch eine sehr flexible Fluidität über die Rolleninterpretation der Doppelsechs. Von unterschiedlichen Richtungen kann das ausgewogen besetzte Zentrum überladen werden – über eine falsche Neun, aufrückende Innenverteidiger, hereinkippende Außenverteidiger oder kombiniernde Flügelstürmer lassen sich verschiedene moderne taktische Mittel einbringen.

„Bei uns kann jeder machen, was er will, es muss nur im Sinne der Mannschaft sein.“

Über eine breitere oder kompaktere Stellung der Angreifer lässt sich auch die Art und Weise des Pressings flexibel regeln. Die räumlichen Schwachstellen der Formation sind in den Bereichen vor den Außenverteidigern und neben dem Zehner. Diese sind aber schwer zugänglich, da die Flügelstürmer gegnerische Außenverteidiger binden. Außerdem sind die Dreiecke der Formation so aufgespannt, dass man aus den Lücken mit der richtigen Intensität leicht Pressingfallen kreieren kann.

Zudem ist diese Formation zu vielen formativen Varianten stilähnlich. Durch Zurückziehen der Flügel ergibt sich ein 4-2-3-1 oder 4-4-1-1. Eine leicht veränderte Staffelung im Mittelfeld erlaubt ein klassisches 4-3-3 in der Barca-typischen 4-1-2-3-Rollenverteilung. Mit der klaren 1-3-Aufteilung vorn ist auch ein 3-3-1-3 ohne kompletten Umbau möglich. So taugt das System in der dominanten Interpretation als Basis einer Spielidee, ohne dass man dadurch unflexibel in der taktischen Umsetzung wird.

Die richtigen Spielertypen: Mannschaftsdienliche Individualisten

Auch Transferpolitik und Spielerausbildung sollten auf den taktischen Stil ausgerichtet sein. Daher sollte man grundsätzlich nach passenden Spielertypen Ausschau halten, wofür man diverse Eckpunkte ausmachen kann.

Zuerst einmal sollte für einen Verein wie Hamburg ein hohes technisches Grundniveau eine fundamentale Voraussetzung sein; die skizzierte Spielidee unterstreicht, wieso das der Fall ist.

„Wenn der Spieler nicht den Ball beherrscht, sondern der Ball beherrscht den Spieler, dann ist es vorbei.“

Darüber hinaus gibt es für alle Grundpositionen spezielle Kriterien.

  • Taktisch starke Innenverteidiger: Neben einer vernünftigen Passtechnik ist für die Innenverteidiger vor allem die taktische Schulung wichtig. Für ein flexibles Pressing sind all zu eindimensionale, nur auf Sicherheit bedachte Hintermänner oft eine große Schwächung; gleichzeitig kann zu riskantes Spiel zu leichten Durchbrüchen mit langen Bällen führen. Zudem diktiert der Ballbesitzfokus eine abgeklärte Entscheidungsfindung am Ball. Viel Holger Hieronymus, viel Willi Schulz – nicht so viel Khalid Boulahrouz.
  • Komplette Außenverteidiger: Manfred Kaltz hat es vorgemacht. In einem HSV-typischen Spiel ist der Außenverteidiger kein Rädchen im System, das nur zuverlässig seinen Job erledigen soll. Hinter den diagonalen Flügelstürmern muss er alleine für Breite und Flanken sorgen, außerdem die Innenverteidiger unterstützen und spielstark die Verbindung zum wichtigen Zentrum halten. Defensiv müssen die Außenverteidiger auch dann klarkommen, wenn mal die Unterstützung etwas fehlt. Es braucht hier möglichst vielseitig veranlagte Talente.
  • Flexible Sechser: Sie müssen dem Zehner zuarbeiten, die Verbindungen halten, im Pressing viel Raum abdecken und dabei technisch auf hohem Niveau agieren, damit sie kontrollieren und nicht kontrolliert werden. Wie bei den Außenverteidigern braucht es vielseitig veranlagte Spieler, wobei die taktische Klasse über jeden Zweifel erhaben sein sollte. Generell lässt sich über die Wahl der Sechser auch die taktische Struktur des 4-2-1-3 beeinflussen – es empfiehlt sich also, hier auch auf unterschiedliche Typen zu setzen.
  • Mannschaftsdienliche Stars: Wie schon angedeutet sind Zehner- und Stürmerposition entscheidende Rollen in einem Hamburger Fußball. Sie müssen das Außergewöhnliche beherrschen, für die Überraschungen sorgen. Im Sinne der Dominanz und Konstanz wären jedoch mannschaftsdienliche Typen eine besonders gute Wahl. Akteure, die über reine Einzelaktionen funktionieren, passen weniger gut ins Konzept. Die Glanzmomente sollten im Zusammenspiel erfolgen. Ein Zehner, der sich wie Magath über seine Zuspiele definiert, ein mitspielender, kombinierender Stürmer wie Seeler, so sieht der hanseatische Idealtypus aus.

„Die Leute mögen die Fantasie eines Spielers, schließlich wollen die Zuschauer etwas geboten bekommen. Und weil Fussball nur ein Spiel ist, muss man dabei auch Spaß haben können.“

  • Laufintelligente Flügel: Dementsprechend sind für die Flügel auch nicht die klassischen Dribbler gefragt. Vor allem im Spiel ohne Ball sollen die Außenstürmer überragen. Im Finale von 83 agierte beispielsweise mit Bastrup ein verkappter Mittelstürmer auf dem Flügel. Intelligenz im Pressing und Läufe in den Strafraum sind Kernkompetenzen. Kombinationsstärke ist ebenfalls besonders wertvoll. Abschluss- und Flankenstärke erhöhen das Portfolio sinnvoll und Fähigkeiten im Dribbling können selbstverständlich keineswegs schaden.

Das fußballerische Konzept ist damit umrissen. All dies ist nur ein grober Entwurf, mit dem ein bestimmter Stil fokussiert werden kann. Für die optimale Umsetzung sollte man dennoch stets für alles offen sein, ohne dabei den eigenen Anspruch aus den Augen zu verlieren.

Was vielleicht auch zu einer Vereinsphilosophie gehört, ist der Stil neben dem Platz. Da das nicht zu unserer Kernkompetenz gehört, überlassen wir die Richtlinie dazu ganz einfach noch einmal dem großen Ernst Happel:

„Es sind immer die kleinen Rechthabereien, die eine große Liebe zerstören.“