Türchen 8: Inter – Benfica 1965
Die argentinische Trainerlegende Helenio Herrera hat sich immer dagegen gewehrt, ein reiner Catenaccio-Vertreter gewesen zu sein. Das siegreiche Landesmeister-Finale 1965 mit Inter über Benfica gibt ihm zumindest Recht – also ausgerechnet eine derjenigen Partien, die oft zu den Paradebeispielen für vermeintlichen Mauerfußball gezählt wird.
Gegen die ballgewandten Portugiesen um Eusébio und Coluna spielte Inter beim minimalistischen 1:0 munter mit und entpuppte sich als komplette und kombinative Truppe. Insgesamt waren die beiden Finalisten kein krasser Antagonismus zueinander, sondern sich vielmehr ziemlich ähnlich.
Benfica im Aufrücken vorsichtiger als Inter

Grundformationen
Tatsächlich ging am ehesten das spielstarke Benfica vorsichtiger in die Partie und dosierte das eigene Aufrückverhalten. Der rechte Außenspieler Augusto hielt sich nochmals deutlich mehr im Mittelfeld auf als zwei Jahre zuvor im Finale gegen Milan und blieb diesmal oft hinter dem Ball. Diese eingerückte Spielweise kam Inter strukturell entgegen, da Facchetti wenig in der Defensivarbeit am Flügel gebunden wurde und somit der fehlende „echte“ Linksverteidiger in der eigenen asymmetrischen „S-Formation“ keine großen Probleme machte.
Colunas Nebenmann Neto konzentrierte sich, anders als Santana, vorwiegend auf die Absicherung. Von den Außenverteidigerpositionen rückte Cavém etwas seltener auf als in anderen Partien, während Cruz ohnehin nur ausnahmsweise vorne zu finden war. Dadurch geriet Benfica immer wieder in Unterzahlangriffe, die es gegen Inters Libero-Logik (mit Bedin gegen Eusébio und Guarneri gegen Torres) schwer hatten durchzubrechen – zumal Eusébio und Co. zunächst einige Zeit brauchten, um sich an den regengetränkten Rasen mit seinen zahlreichen Pfützen zu gewöhnen.
Damit hatte Herreras Inter weniger Schwierigkeiten, das die eigenen Offensivaktionen häufiger – neben manchen flachen Übergangen – auch mit längeren Bällen oder Chip-Pässen einleitete. Die Angriffe selbst spielte das vermeintliche Defensivteam fluide und kombinationsstark, meist in kurzen Abständen mit immer wieder wechselnden Überladungen. Durch Facchettis Offensivdrang konnte der elegante Corso praktisch einen zweiten linksseitigen Zehner neben dem rechtsseitigen Halbstürmer und Superstar Mazzola bilden und tauchte fast überall auf dem Feld auf.
Situativ schalteten sich auch Facchetti und der laufstarke Suarez in die Überladungen ein, ebenso wie Mittelstürmer Peiró, der unentwegt ausweichende Läufe unternahm, um lange Bälle festzumachen und eine Seite zusätzlich als Tiefengeber zu verstärken. Inmitten dieser verschiedenen Bewegungen stellte sich das Aufrückverhalten des vermeintlichen Catenaccio-Teams mitunter sogar recht sorglos dar, da die Spieler eine ausgewogen verteilte Absicherung nicht allzu genau nahmen. Dank der Platzverhältnisse war dies aber verkraftbar, da der nasse Rasen das Balltempo erheblich senkte und so die potentielle Wucht schneller Konter reduzierte.
Überladende Ballungen in mehreren Wellen
Besonders auf dem rechten Flügel kamen die Überladungen stark zum Tragen – auf der Seite, wo Inter, anders als links, mit dem ballschleppenden Brasilianer Jair über einen Flügelstürmer verfügte. Dieser pendelte sehr viel in der Vertikalen, aber wenig in der Horizontalen. Oft bleib er als die breite Ausweichoption, wenn sich Überladungsansätze im Halbraum festzulaufen drohten. Herausragend war bei Inter generell die Umsetzung vertikal gestaffelter Positionen. Innerhalb von Überladungen eines bestimmten Raumes standen sie kaum einmal chaotisch oder unbedacht da, sondern bewegten sich in mehreren Wellen.
Bei Chip-Bällen bedeutete das etwa, dass sich ein etwas flacher positionierter Spieler klar auf den Bereich hinter dem ersten Ball hin absetzte. So entstand auch das Siegtor kurz vor der Pause folgerichtig nach einer schönen Kombination zwischen Mazzola, Corso und Jair im Anschluss an einen festgemachten Chip-Ball ins offensive Mittelfeld. Wie in vielen anderen Situationen formierte Inter eine Ballung von gleich drei nahen Spielern in einem Zwischenraum, in diesem Fall halbrechts.
Der Mythos des Catenaccio
Die anschließende zweite Halbzeit entspricht noch weniger dem klassischen Narrativ der Partie als die erste. Aufgrund einer Verletzung des eigenen Keepers musste Benfica einen Verteidiger ins Tor stellen und in Unterzahl weiterspielen. Selbst Jonathan Wilson greift in seinem Standardwerk Inverting the Pyramid den Mythos wieder auf, Inter habe diese Ausgangslage überhaupt nicht für sich zu nutzen versucht, sondern im 11gegen10 zur Enttäuschung der Zuschauer nur die Führung verteidigt. Über weite Strecken agierte Herreras Team aber vielmehr so, wie man es in einer solchen Situation von einer guten Mannschaft erwarten würde: Sie machte weiter wie zuvor. Mit den Überladungen, nun vermehrt mit dem ausweichenden Peiró auf Benficas geschwächter rechter Seite, sorgten die Mailänder für zahlreiche schwungvolle, sehenswerte Szenen und waren nach der Pause klar überlegen.
Für Benfica stellte die Unterzahl eine massive Hypothek dar. Verteidiger Germano als improvisierter Torwart meisterte seine Aufgabe auf der Linie nicht schlecht, aber schenkte durch überambitionierte Abschläge aus der Hand reihenweise Ballbesitzmomente weg. Wie extrem hektisch Benfica auf beinahe allen Positionen auf die Unterzahl und den Rückstand reagierte, war in der Form doch überraschend.
Die fortan fast katastrophale Entscheidungsfindung nahm den spielstarken Portugiesen praktisch jede Aussicht, noch einmal in die Begegnung zurückzukommen. Obendrein wurde Eusébio immer häufiger auf den unterbesetzten rechten Flügel nach außen gezwungen, dadurch aber zunehmend von seinem Mitspielern isoliert. Weil sich die eine oder andere Pfütze gelegt hatte, stellten sich die Platzverhältnisse nach dem Seitenwechsel nicht mehr ganz so problematisch dar, aber daraus konnte nur Inter Nutzen ziehen.
Fazit
Die Umstände mit der Verletzung des gegnerischen Keepers begünstigte Helenio Herreras Inter bei einer erfolgreichen Titelverteidigung, aber dazu griff sein Team bei weitem nicht allein auf Catenaccio zurück. Inter spielte in einer gefälligen Partie sowohl mit 11gegen11 als auch mit 11gegen10 offensiv mit und stand Benficas fußballerischer Klasse nicht nach. Die sehenswerte Kombination vor dem goldenen Tor von Jair war nur einer von zahlreichen gelungenen Spielzügen der Defensivkünstler.

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