Türchen 5: Inter – Bayern 2010
Zum Ende eines international ernüchternden Verlaufs der 2000er-Jahre stand Bayern 2010 auf einmal wieder in einem Champions-League-Finale, als Überraschungsteam. Bereits in den Anfangsminuten zeichnete sich ab, dass im Endspiel nicht viel zu holen sein würde – aber nicht so sehr bedingt durch den Gegner, sondern in erster Linie durch eigene Unzulänglichkeiten.
Bayern verschwendet Raum

Grundformationen
Dass Bayern gegen José Mourinhos Defensivkünstler kaum ein Durchkommen fand, lag weniger daran, dass Inter so unbezwingbar gewesen wäre, sondern mehr daran, dass selbst eine der damals am besten organisierten Ballbesitzmannschaften noch weit von dem Level entfernt war, das sich in den folgenden Jahren entwickelte – zumindest in dieser Partie. Denn zugleich legten die Münchener einen ihren schwächsten Auftritte unter Louis van Gaal an den Tag. Dieses Finale passte tatsächlich einmal zu den Vorwürfen des „statischen“ Positionsspiels, die in der Folgesaison so oft erhoben wurden.
Gegen einen passiven, zurückgezogenen Defensivblock verschwendeten die Münchener in den ersten Aufbaulinien viel Raum und unnötiges Personal. Die Außenverteidiger hielten sich häufig in flachen bzw. „normalen“ Positionen statt weiter aufzurücken. Andribbeln von den Innenverteidigern, das in Person von Martin Demichelis für Viertel- und Halbfinale noch sehr wertvoll gewesen war, gab es kaum bzw. nur in linearer Umsetzung. Das lag auch an den meistens zurückhaltenden Positionen der beiden Sechser, die sich mehrmals Bälle außerhalb der gegnerischen Defensivformation abholten, um Verlagerungen oder horizontale Pässe zu spielen, die auch die Innenverteidiger hätten erledigen können.
Irgendwann gingen die Bälle auf die Außenstürmer Robben bzw. Altintop, die das Dribbling suchten und verspätet Unterstützung von ihrem Außenverteidiger erhielten. Zum einen schafften es die Bayern wegen der Raumverschwendung der Aufbauspieler, besonders deutlich beim fehlenden Andribbeln van Bommels, kaum einmal, diese Zuspiele wirksam vorzubereiten, indem Inter innen gebunden und so die Wege im Verschieben verlängert worden wären.
Zum anderen hatten die Flügelstürmer ohnehin kaum Optionen – außer etwas auf eigene Faust zu versuchen oder auf ein 2gegen2 mit dem Außenverteidiger zu warten. Der bewegliche „Schattenstürmer“ Müller wäre noch in Frage gekommen, befand sich aber interessanterweise oft fast in Manndeckung durch Cambiasso (die Inter bei Müllers Großchance Anfang der zweiten Halbzeit beinahe auf die Füße gefallen wäre, weil dadurch in der Entstehung der Vertikalpass zwischen den Sechsern hindurch auf Olic aufging).
Folglich entstand in diesem Finale tatsächlich einmal die Problematik der vermeintlich „unflexiblen“ Bayern unter van Gaal. Von offensiveren Staffelungen innerhalb des Mittelfelds für aggressives Ablagenspiel, von Variationen mit beiden Flügelstürmern auf einer Seite oder von klaren Asymmetrien über die Stürmerrolle war kaum etwas zu sehen – im Vergleich zu früheren, aber auch zu späteren Partien der Amtszeit des Niederländers. Erst in der absoluten Schlussphase, bereits nach dem 0:2, begannen sich entsprechende Ansätze anzudeuten.
Strafraumverteidigung als Faustpfand für Inter
Der ungewöhnlich schwache Auftritt der Münchener war der Hauptgrund dafür, warum Inter kaum in die Bredouille kam – und gar nicht so sehr die Defensivqualität der Mailänder. Von einem Bollwerk jedenfalls lässt sich nicht sprechen. Dafür ergaben sich zu viele Lücken, die die Bayern aber selten auszunutzen vermochten. Inter verteidigte viel und Inter verteidigte häufig zurückgezogen, doch wirklich stark war allein die Strafraumverteidigung – und dies auch nicht durch die Bank, sondern auf ausgewählten Positionen. Während Maicon im Duell mit dem nicht besonders sprintstarken Altintop mehrmals sehr nachlässig verteidigte, gelang es Chivu auf der Gegenseite, Robben relativ konstant auf dessen schwachen rechten Fuß zu lenken.
Für das starke Umschalten auf Manndeckung im Strafraum gebührt Mourinho letztlich aber Glanz und Gloria. Das machte Inter diszipliniert und kampfstark. Vor allem Walter Samuel agierte konsequent im Markieren gegen den umtriebigen Olic im Münchener Angriff. Wenn der Argentinier das 1gegen1 mit dem Stürmer führte, reagierte Lucio geschickt darauf, indem er in der Strafraumverteidigung höher blieb, die flachen Zonen seinem Torhüter überließ und dadurch Zugriff auf den Rückraum aufrecht erhielt. Von dort hätte Müller Gefahr ausstrahlen können, der es dadurch noch schwerer hatte als gegen das Verfolgen des ebenfalls in der Strafraumverteidigung geschickten wie disziplinierten Cambiasso ohnehin schon.
Letztlich kam das Flügelspiel der Bayern gar nicht so selten seitlich neben dem Strafraum zur Grundlinie, zumal Robben phasenweise eine äußerst attackierende Entscheidungsfindung spielte. Aber aus den breiten Positionen im 1gegen1 oder 1gegen2 war es kaum einmal möglich, bis in den Sechzehner hinein zu drängen. Als der Fokus auf Robben in Halbzeit, gerade etwa ab der 55. bis 60. Minute, immer größer und die Unterstützung durch Lahm offensiver wurde, reagierte Mourinho gut und ließ seine Mannschaft mehr zu jener Seite durchschieben. Vor allem Cambiasso sicherte gut das Sechzehnereck und übergab Müller häufiger an Zanetti. Auch Sneijder schob etwas kompakter von oben nach. Im tieferen (und dauerhaften) Abwehrpressing war es für Inter ohnehin nochmals leichter, gegenüber dem nicht so überzeugenden Mittelfeldpressing an Kompaktheit zu gewinnen.
Ungenutzte Mittelfeldlücken
Da das Flügelspiel der Münchener also auf Eis gelegt blieb, hätte ihre Chance dementsprechend im offensiven Mittelfeld gelegen. Dort verteidigten die viel gerühmten Defensivspezialisten von Mourinho, wie allgemein im Feldzentrum insgesamt, nicht besonders kompakt, auch wenn die massive Laufstärke von Routinier Zanetti als zweiter Sechser manche Lücke stopfen konnte. Das Problem für die Bayern bestand nur darin, dass sie außer Müller kaum einmal irgendeinen Spieler in diesen interessanten Freiräumen hatten.
Sobald es auch nur einmal zu einer Ausnahme kam und entweder einer der Sechser weiter aufrückte oder der am Flügel ohnehin mittelmäßig passend aufgehobene Altintop sich in den Halbraum wagte, kam „plötzlich“ Dynamik in die Angriffe und Inter geriet schneller in Schwierigkeiten als erwartet. Die vertikale Kompaktheit zwischen den italienischen Linien war zumindest nicht berauschend und noch mehr galt das für die horizontalen Abstände, da Eto’o und Pandev auf den offensiven Flügeln nur rudimentär an die zentralen Bereiche anschlossen, sich vielmehr lose an den Münchener Außenverteidigern orientierten.
Sofern Badstuber auf halbe Höhe vorschob, drohte Eto’o schnell in der Luft zu hängen. Mit einem darauf folgenden Einrücken konnte Altintop in der Schnittstelle zwischen Eto’o und Zanetti sehr leicht für einen Vertikalpass frei werden. Zum einen hätte Bayern diese Strukturen noch viel systematischer und damit häufiger forcieren müssen, aber das passierte letztlich seltener als in anderen Partien.
Luft nach oben im Ausspielen gegen Inters geschickte Rückraumverteidigung
Zum anderen konnten die Münchener aus den punktuell hochwertigen Momenten im Zwischenlinienraum fast nichts machen, weil das Ausspielen damals noch nicht so weit war. Nach dem ersten Aufdrehen verpassten die Spieler zunächst oft das direkte Andribbeln. Zudem ließen sie sich von den im ersten Moment großen Räumen und der geringen Bedrängnis dazu verleiten, die Möglichkeit auf den erstbesten freien Abschluss wahrzunehmen, statt den Angriff weiter fortzusetzen.

Eine seltene Szene mit höheren Sechsern, aus der Bayern aber nichts machte: Robbens Dribbling war vom Tor weg und weit nach hinten geleitet worden. Gegen ausgeprägte Passivität von Inters Offensivquartett konnte Robben jedoch van Bommel in einem großen Zwischenraum im Zentrum finden. Das anschließende Aufdrehen dauerte aber zu lange. Wenngleich sich Schweinsteiger und Müller von ihren Gegenspielern absetzten, musste van Bommel nach der vergebenen Zeit schließlich zu einem hektischen Distanzschuss gegen Samuels Herausrücken greifen.
Insgesamt bietet dieses Finale zahlreiche Beispielszenen dafür, wie weit der Weltfußball anno 2010 von dem der Jahre 2025, 2020 oder selbst 2015 entfernt war. Hinzu kamen bei der Verteidigung des Rückraums zudem starke Aktionen von Lucio und vor allem wiederum Samuel, die bei flachen Positionen von Cambiasso und/oder Zanetti das Herausrücken auf den Ballführenden übernahmen. Sie schoben damit über die Position ihres Sechsers hinaus – eine Dynamik, die die offensive Orientierung für das Ausspielen nochmals komplexer machte. Zum damaligen Zeitpunkt war dieses Verhalten der Innenverteidiger Inters besonders mächtig.
Beispiele für gutes Ausspielen kamen für den Maßstab eines Champions-League-Finals nur selten vor. Die große Müller-Chance zum möglichen 1:1, eingeleitet per Hacke von Olic nach einem Vertikalball Schweinsteigers aus dem Halbraum, gehörte zu den Ausnahmen und ansonsten noch ein paar Konter auf Seiten Inters. Die Mailänder Umschaltmomente zehrten neben zügigem Nachrückverhalten und sinnvoller Orientierung auf den Rückraum vor allem von Militos starker Entscheidungsfindung in Ausweichzonen, von wo der Argentinier immer wieder kluge verzögernde und ballverteilende Aktionen einbrachte.
Fazit
Wie viel sich in 15 Jahren fußballerischer Entwicklung doch verändern kann. Das Finale von 2010 ist sehr weit weg von dem Fußball, der heute in der europäischen Spitze gespielt wird. Der größte Teil dieses massiven Entwicklungssprungs vollzog sich insbesondere in der unmittelbar nach diesem Endspiel folgenden Zeit, zwischen 2010 und ca. 2015.
Dementsprechend steht auch der Mythos von Inters defensivem Bollwerk auf wackeligen Füßen. Starkes Verhalten der Innenverteidiger im Markieren im Strafraum und beim Herausrücken in die Rückraumverteidigung sowie nach der Pause auch vermehrt die Absicherung der Flügelverteidigung gegen Robben waren wichtige Schlüssel zum Sieg. Aber die Kompaktheit gerade im Zentrum und auch viele andere Details im Defensivverhalten vermochten nicht zu überzeugen und wären von einem stärkeren Gegner (oder den Bayern aus den meisten anderen Saisonspielen) bestraft worden. Dass Inter trotz zahlreicher schwacher Münchener Angriffe durch fahrige Unkonzentriertheiten dermaßen viele gefährliche Abschlüsse in ziemlich zufälligen Situationen zuließ, stand exemplarisch dafür.
Aus Bayern-Sicht war es eine äußerst enttäuschende Partie. Sie scheint jegliche landläufige Kritikpunkte zu bestätigen, die van Gaal als Trainer in München vorgeworfen worden sind. Allerdings kann man gerade von dieser Ausnahmepartie nicht auf den Großteil seiner Amtszeit schließen, für die das Finale von 2010 nicht repräsentativ steht.
Am Ende bleibt von Inters Titelgewinn auch noch eine bis heute ungelöste – und für den Kollegen Martin Rafelt wohl auf ewig drängende – Frage: die Frage, warum Mourinho ausgerechnet für die Rückspielniederlage im Halbfinale gegen Barcelona mit seinem geparkten Bus (tendenziell ähnlicher zu diesem Finale) so sehr gefeiert wird und gerade nicht für den viel entscheidenderen 3:1-Hinspielsieg, der auf Phasen höheren Pressings (unähnlicher zu diesem Finale) gründete.

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