Türchen 11: Leverkusens Spiel in den Druck
Die große Überraschungsmannschaft von 2023/24 hat viele Qualitäten, doch aus taktischer Sicht gibt es zwei Faktoren, die herausstechen. Alonsos Leverkusen hat zwei Dogmen des modernen Positionsspiels aufgebrochen – und diese damit überhaupt erst als Dogmen identifiziert. Zum einen setzt die Mannschaft auf fast unnatürlich kleine Abstände für ein schnelleres, kürzeres Passspiel und eine dichtere Absicherung.
Zum anderen hat Bayer die Idee des freien Spielers ein bisschen über Bord geworfen. Natürlich spielt auch Leverkusen oft genug einfach den Ball zu dem Mitspieler, der frei steht. Doch dieses Kriterium ist bei weitem nicht so vordergründig wie für andere Ballbesitzmannschaften, die es nahezu als Ausschlusskriterium für andere Optionen behandeln: „Solange einer frei steht, spiel ihn an. Mitspieler unter Druck spielen wir nur an, wenn wir müssen.“
Immer wieder anklopfen und abtasten
Bayer ignoriert regelmäßig den „einfachen, klaren“ Pass und spielt stattdessen auch mal auf Verdacht einen Sechser oder Zehner unter Druck an, wenn dieser den Ball fordert. Häufig wird der Ball einfach zurückgeprallt, punktuell gibt es mal Aufdrehbewegungen oder schnelle Kombinationen durch das Zentrum.
Durch die kurzen Abstände, die vielen Ablageoptionen und die hohe Passqualität bekommt der Gegner darauf fast nie Zugriff. Leverkusen ist hervorragend darauf eingestellt und befreit sich immer wieder aus dem Druck und vor allem Wirtz kann dadurch auch immer wieder überraschend nach vorne auflösen.
Bemerkenswert ist, dass die kurzen Abstände zum Gegenspieler zum Teil dadurch kompensiert werden, dass auch die Passdistanzen sehr kurz sind und der Gegner deshalb keine Zeit zum Reagieren bekommt. Leverkusen nutzt, dass Loslaufen sehr viel langsamer ist als Weiterlaufen. So kommt der Gegner immer wieder zu spät.
Auf diese Weise kontrolliert Leverkusen das Spiel nicht nur von den Flügeln aus per Zirkulation wie es Manchester City oder Arsenal tun, sondern kämpfen aktiv ums Zentrum. Immer wieder zwingen sie den Gegner, mit extrem vielen Spielern ins Zentrum zu „kollabieren“ und die äußeren Räume komplett aufzumachen, oft bis tief in die Halbräume hinein.
Physischer und psychischer Abnutzungskampf
Sehr viele dieser Pässe in den Druck der Leverkusener enden in Rückpässen oder Verlagerungen und wirken deshalb ineffektiv oder gar wie ein nutzloses und überflüssiges Risiko. Bei genauerer Betrachtung gibt es aber mehrere sehr positive Effekte für die Leverkusener.
- Beim Pass ins Zentrum müssen häufig sehr viel mehr Spieler reagieren als beim Pass nach außen. Die Folgeaktion ist unberechenbarer. Der Gegner kann nicht einfach verschieben, sondern muss mental aktiv sein.
- Dazu kommen viele Drehungen für den Gegner, die es einfacher machen, sich im Rücken der Spieler freizulaufen, und die Orientierung deutlich schwieriger machen. Die Chance steigt, dass der Gegner etwas hinter sich vergisst oder übersieht. Man „spielt den Gegner schwindlig“ – beinahe im Wortsinne.
- Auch physisch sorgt der Ball in den Druck für mehr Belastung. Wenn der Gegner den potentiellen Druck auch wirklich effektiv ausüben will, muss er mit Spannung in den Zweikampf, was anstrengend ist. Das hat einen ermüdenden Effekt, die Zweikampfhärte der Gegner lässt eher nach.
- Die Gegner werden auf Dauer frustriert, weil sie immer wieder vergeblich in Balleroberungsversuche ansprinten. Es gibt keinen „pay-off“ für den physischen Aufwand. Dadurch werden Gegner passiver und machen es den Leverkusenern leichter. Außerdem wird damit die Entscheidungsfindung der Defensive zermürbt: Wenn ich andauernd denke, dass ich den Ball erobern kann, aber ich kann es eigentlich nicht – wann soll ich denn dann versuchen, den Ball zu erobern?
Also sowohl mental als auch physisch ist diese Spielweise ein Abnutzungskampf gegen den Gegner, der mehr „Schaden“ verursacht als wenn die verteidigende Mannschaft nur von Seite zu Seite schieben muss.
Die Folgeeffekte:
- Die Gegner werden häufiger in kleine Orientierungs- und Stellungsfehler gedrängt, die vielleicht nicht sofort mit dem Pass in den Druck erzeugt und ausgenutzt werden, aber es einfacher machen, in den folgenden Pässen das Anspiel auf freie Offensivspieler zu ermöglichen.
- Da der Gegner gezwungen wird, noch mehr Raum auf den Seiten freizugeben, haben es die Leverkusener dort und auch in der hintersten Linie in der Folge leichter. Sie können sich freier positionieren, die Gegner brauchen ein bisschen länger, um in Zweikämpfe zu kommen. Grimaldo ist ein Schlüsselspieler, weil er diese Räume nutzen kann, doch wird auch erst durch dieses Raumschaffen um Zentrum so gut, wie er vergangene Saison gewesen ist.
- Die Gegner werden schneller müde und wohl auch am Ende noch müder als normalerweise; das ist zumindest schlüssig und wäre ein Erklärungsansatz für Leverkusens irre Durchschlagskraft zum Spielende hin.
- Das Spiel wird insgesamt schneller, wechselhafter und unter dem Strich unvorhersehbarer. Davon profitieren clevere Kreativspieler wie Wirtz.
Alle Bälle auf Wirtz
Das viel häufigere und frühere Anspiel der zentralen Offensivspieler lässt sich auch leicht statistisch ablesen. Vergangene Saison waren Florian Wirtz und Jonas Hofmann die Offensivspieler mit den meisten Ballkontakten (pro 90 Minuten) in der Liga. Wirtz spielte dabei 31% mehr Pässe als der nächstbeste nicht-Leverkusener (Enzo Millot).
In der aktuellen Saison ist der Fokus auf Wirtz noch einmal größer. Mittlerweile spielt Leverkusens Schlüsselspieler 70 Pässe pro 90 Minuten. Das ist mit großem Abstand mehr als alle anderen Offensivspieler: Grifo und Olise folgen mit 57, nur drei weitere (Musiala, Brandt, Schmid) liegen überhaupt über 40.
Diese Entwicklung hat auch mit Wirtz persönlich zu tun, der mehr gesucht wird und sich noch mehr einschaltet, auch in tiefere Räume. Er wird immer mehr zum omnipräsenten Spielmacher und ist etwas weniger der Veredler der Angriffe in Tor- und Abwehrnähe. Diese Entwicklung ist übrigens nicht unbedingt positiv zu bewerten, auch wenn Wirtz es meistens schafft nach seinen Aufbauaktionen noch rechtzeitig in die Offensivräume zurückzukommen; aber natürlich ist er unter’m Strich trotzdem weniger präsent in vorderen Räumen.
Eine unscheinbarere und entscheidendere Auswirkung davon ist aber eine andere: Dadurch, dass Wirtz die Bälle früher und tiefer fordert, fällt er vermehrt aus dem Druck heraus, wodurch Leverkusen seltener diese „abtastenden“ Bälle in den Druck und ins Zentrum spielt. Leverkusens spiel wird etwas mehr in die Breite gezogen und ist zwar schwerer zu greifen, aber etwas leichter zu antizipieren. Es hat sich den klassischen Positionsspielsystemen ein Stück weit angenähert.
Zudem ist das Spiel etwas vorhersehbarer, denn es gibt keinen Leverkusener wie zuvor Hofmann, der ebenfalls immer wieder überraschend angespielt wird. Martin Terrier zum Beispiel spielt nicht mal halb so viele Pässe wie Wirtz. Auch Hofmann bekam bei seinen wenigen Einsätzen viel seltener den Ball.
Es wird interessant sein, wie sich diese Entwicklung bei Leverkusen fortsetzt und wie sehr andere Vereine diesen Ansatz adaptieren werden. Bayern in etwa spielt in dieser Saison sicherlich mehr Bälle in den Druck auf Musiala, Kane, Olise oder auch Guerreiro.
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4 Kommentare Alle anzeigen
Koom 12. Dezember 2024 um 12:51
Danke für den Artikel, finde ich gut.
Ich stimme tobit zu, dass die grundsätzliche Idee an Pep erinnert und davon definitiv inspiriert ist: Bewusst eher kleinräumig, mit Druck spielen. Ballverluste dadurch eher gering halten und wenn doch, sind 4-5 Spieler direkt um den Ball herum vorhanden. Und man baut einen wahnsinnigen Druck auf den Gegner auf.
Ich denke mal, das Wirtz‘ tiefere Position verschiedener Faktoren geschuldet ist. Er hat nach dem Jahr und dem Nationalelf-Durchbruch mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wird vermutlich härter angegangen/mehr gedeckt – aber auch mehr vom eigenen Team gesucht, fordert vielleicht auch mehr den Ball.
Das kann seine Vorteile haben: Er zieht den Gegner etwas mehr heraus. Aber ich denke, die Nachteile überwiegend etwas: Er – und auch das restliche Team – sind weiter vom Tor weg.
Aber das ist eben das Problem der Feineinstellung. Sowas zu erkennen, zu korrigieren und durchzuziehen ist dann die Schwierigkeit. Letztes Jahr lief es einfach, dieses Jahr hat man mehr Dinge im Kopf, mehr Termine, mehr Streß.
tobit 12. Dezember 2024 um 09:31
Ich würde schon der ersten Prämisse des Artikels widersprechen. Spieler auf dem Level von Wirtz werden und wurden bei Pep schon immer unter Druck angespielt und diese Anspiele wurden auch ganz bewusst fokussiert, weil die Spieler selbst unter Druck der facto frei sind. Sie können halt aus der Situation immer noch bessere Lösungen finden als viele andere Spieler das ohne Druck können.
Du siehst das ja am Ende dann auch genauso, dass durch Wirtz‘ tiefes Fallenlassen und Ballkontakte ohne Druck sammeln das Team eher schlechter als besser wird. Ein Fakt den man auch bei Messi und Barcelona am Ende von und besonders nach Peps Zeit genau so gesehen hat (oder auch letztes Jahr mit KDB bei City). Klar bedingen sich das Nachlassen des Teams und die tiefere Selbsteinbindung der Megastars sich gegenseitig, es liegt aber eben nicht *nur* am Nachlassen des Teams.
MR 13. Dezember 2024 um 12:28
„Spieler auf dem Level von Wirtz werden und wurden bei Pep schon immer unter Druck angespielt“
1. spielt(e) Leverkusen aber auch Xhaka, Hofmann und Andrich so an
2. Bernardo, Foden, de Bruyne kriegen bei City dauernd den Ball im Druck?
Ein Zuschauer 15. Dezember 2024 um 05:59
Ich verstehe auch den Vergleich zu Messi nicht, den du auf aufmachst. Meines Empfindens nach hat der sich nie wieder so viel vor den gegnerischen Block fallen lassen wie unter Pep. Würde auch sonst nicht sagen, dass Pep so viel unter Druck anspielen lässt. Es wird schon eher versucht Abstände weit zu halten und so die Ballzirkulation über das ganze Feld aufzuziehen. Punktuelle Überladungen gibt es eher in Situationen, wo der Gegner dort eben gerade nicht so viel Druck herstellen kann. Gerade dieses Anspielen in den Sechserraum nur um Klatschen zu lassen kenne ich in der Häufigkeit nicht von Pep. (Ein wichtiger Unterschied ist vielleicht auch wie häufig mit Rücken zum Tor angespielt wird) Ein netter Nebeneffekt der Leverkusener Spielweise ist ja dass Xhakas häufig schlechte Positionierungen dadurch keine so große Rolle spielen.