Game of Chains: Eine taktische Schlacht der hohen Pressing Linien – MH

4:1

Der FC Barcelona empfang am dritten Spieltag der UEFA Champions League den FC Bayern München. Beide Mannschaften, bekannt für ihr aggressives und risikoreiches Pressingverhalten, sollten einen der abwechslungsreichsten Fußballabende seit langer Zeit liefern. Hier findet ihr die taktische Analyse des Spiels.

Barcelona agierte aus einem nominellen 4-2-3-1 mit Lewandowski als Wandspieler und dem schnellen Raphinha als linkem Flügel. Bayern agierte ebenfalls aus einem nominellen 4-2-3-1 mit Guerreiro als Rechtsverteidiger und Kimmich auf der Sechs. Schnell entwickelte sich ein abwechslungsreicher Schlagabtausch, bedingt durch das jeweilige Pressingverhalten und die hohen letzten Verteidigungslinien.

Barcas Spielaufbau vs. Bayerns Angriffspressing

Die Bayern pressten direkt ab der ersten Minute wie gewohnt mannorientiert über den gesamten Platz. Guerreiro schob dabei auf den gegnerischen Außenverteidiger drauf, während Upamecano ballnah hinter Guerreiro gegen Barcelonas linken Flügelspieler, Raphinha, verteidigte.

Barcelonas Spielaufbau war dementsprechend angepasst an das Münchner Pressing. Das Ziel war es, durch die +1 Überzahl mit Hilfe des Torwarts die gegnerischen Spieler zu locken, um so mehr Raum im Rücken des Gegners zu erzeugen. Mit Hilfe von gegenläufigen Bewegungen auf der hohen letzten Verteidigungslinie der Bayern, wollte man die Mannorientierung zerstören und in den Rücken der Abwehr gelangen. Zudem wollte man immer wieder die Innenverteidiger aus der hohen letzten Linie der Münchner rausziehen.

Bereits in der ersten Minute funktionierte das hervorragend. Der Entgegenkommende Lewandowski wird von Außenverteidiger Balde als Wandspieler eingesetzt und zieht dabei Innenverteidiger Kim raus. Der nun überlaufende Sechser Pedri wird als Klatschoption eingesetzt, gleichzeitig kreuzen 10er Fermin, nach außen, und Flügelspieler Raphinha, ins Zentrum, auf letzter Linie. Somit wurde ein Übergabemoment zwischen den auf der letzten Linie agierenden Kimmich und Upamecano provoziert, welcher ausreicht, um den tief gehenden Raphinha relativ frei einzusetzen. Zudem schaffte man damit das Missmatch eines Laufduells zwischen dem schnellen Raphinha und dem langsameren Kimmich. In der Folge fiel das 1:0 für Barcelona.

Weitere Varianten Barcelonas, das mannorientierte Pressing auszuspielen, habe ich im Folgenden grafisch dargestellt:

Variante 1:

In der 22. Minute spielt Barcelona mit ähnlichen Prinzipien das mannorientierte Pressing aus: Steil-Klatsch mit überlaufendem Sechser. Yamal zieht dabei Außenverteidiger Davies in die Mitte, um die Außenbahn freizuziehen.

Variante 2:

In der 28. Minute zieht Lewandowski Upamecano aus der Kette. Balde und Raphinha spielen im Steil-Klatsch die erste Pressinglinie aus. In der Folge kann Balde mit seiner hohen Geschwindigkeit auf die jetzt lückenhafte letzte Kette drauf laufen.

Bayerns Lösungen gg. Barcelonas Mittelfeldpressing

In Folge des 1:0 übernahm Bayern die Spielkontrolle, auch durch ein sehr effektives Münchner mannorientiertes Angriffspressing. Barcelona agierte gegen den Ball hauptsächlich im Mittelfeldpressing und versuchte, sich nicht in die eigene Hälfte drücken zu lassen, indem die letzte Kette Barcelonas immer wieder sehr weit hoch schob. Damit bezweckten sie, dass der zu bespielende Raum zwischen den Ketten sehr eng wurde. Gleichzeitig entstand allerdings auch ein riesiger Raum im Rücken der Abwehr. Um diesen zu verteidigen, setzte die Mannschaft von Flick auf ein besonders risikoreiches Mittel. Mit Hilfe von aggressiven Abseitsfallen versuchte man die Münchner nicht in diese Räume gelangen zu lassen. Das führte zu teils völlig absurden Bildern, wie hier in der 16. Spielminute.

Die verteidigende 4er Kette sowie die beiden Sechser schieben extrem hoch bis ca. 2m vor den ballführenden Gegenspieler. Diese Szene fand tatsächlich genau so statt…

Im Mittelfeldpressing verteidigte man mit einer 4-2 Kette im Raum. Während die Viererkette immer wieder raumorientiert hoch schob, blieben auch die beiden Sechser Barcelonas raumorientiert unmittelbar vor der letzten Linie Barcelonas, teils auch mit hinein fallend, wodurch sich phasenweise eine Fünfer- respektive Sechserkette bildete. In Richtung Ball diagonal vorpressend wollte man gegen den Ball in ballnähe Überzahl schaffen. Barcelona ließ sich also nicht von Kane und Müller aus der letzten Linie ziehen, sondern wollte selbst aktiv bleiben und das Spielgeschehen auch ohne Ball bestimmen. Problematisch allerdings war, dass Barcelona mit der ersten Pressinglinie kaum Druck auf den Ballführenden der Münchner ausübte.

Die Bayern fanden bereits früh das Mittel gegen Barcelonas tieferes Mittelfeldpressing und deren Abseitsfalle. Mit mehreren zeitlich hintereinander aneinander gereihten Laufwegen in die Tiefe wollte man im Besonderen auch nach Herausrücken Barcelonas die entstehende Tiefe attackieren. Um weniger häufig im Abseits zu stehen, folgten viele diagonale Spielverlagerungen auf die komplett breit positionierten Flügelspieler. Zudem positionierten sich die Außenverteidiger der Münchner unmittelbar dahinter im Halbraum, sodass nach Seitenverlagerung eine 2gg1 Überzahlsituation gegen den nachrückenden Außenverteidiger Barcelonas entstand oder man direkt den kreuzenden Weg in die Tiefe suchte.

Bayern schafft ballfern Überzahl in Vorbereitung auf den Diagonalball.

Die auf Mittelfeldhöhe positionierten Außenverteidiger im Halbraum dienten zudem immer wieder als Anspielstation im Spielaufbau, um die erste Pressinglinie Barcelonas im etwas höheren Mittelfeldpressing zu überspielen. Mit Kane, Kimmich bzw. Palinha, Guerreiro und Davies überluden die Bayern den Halbraum und konnten immer wieder den freien Mann finden.

Insbesondere Raphinha wurde immer wieder in die Zwickmühle zwischen Upamecano attackieren und Deckungsschatten auf Guerreiro erzeugen gebracht. Somit schaffte es Barcelona im etwas höheren Mittelfeldpressing kaum Ballgewinne zu verzeichnen und musste immer wieder mit der herausschiebenden letzten Kette versuchen, die Tiefenläufe der Münchner zu unterbinden. Es folgte das zu diesem Zeitpunkt verdiente 1:1.

Bayern findet immer wieder den freien Mann, hier Guerreiro, im Zwischenkettenraum, da sie diesen überladen. Pedri und Casado verteidigen raumorientiert vor der auch raumorientierten 4er Kette.

Barcelonas Angriffspressing

In Folge des 1:1 übernahm Barcelona wieder mehr Spielkontrolle. Auch weil die Bayern nicht mehr ganz so aggressiv im mannorientierten Angriffspressing vorschoben, sondern deutlich abwartender agierten, traute sich Barcelona wieder flach von hinten aufzubauen. Besonders mit der Hilfe von den technisch extrem starken Pedri und Yamal konnte man sich vermehrt aus Drucksituationen befreien und Ballbesitzphasen sammeln. Vor allem aber mit Hilfe einer taktischen Umstellung erlangte Barcelona wieder mehr Spielkontrolle.

Dadurch, dass Pedri im linken Halbraum auf Guerreiro bzw. Casado im rechten Halbraum auf Kane ballnah mannorientiert schoben, während der ballferne Spieler weiterhin vor der Kette raumorientiert absicherte, konnte man, mit einem hybriden Pressing aus Mann- und Raumorientierung, immer wieder ins Angriffspressing vorschieben und Druck auf den Ballführenden ausüben. Aus der Mannorientierung leitete Barcelona die Bayern auf eine Seite, wo sie stark ballorientiert verschoben, um den Druck auf den ballführenden Spieler auf ein Maximum zu erhöhen.

Somit musste man sich nicht auf die auf Dauer sehr riskante Abseitsfalle verlassen. Das Spiel verlagerte sich wieder deutlich häufiger in die Münchner Hälfte.

Während Casado ballfern weiterhin den Raum verteidigt, verschiebt Pedri ballnah mannorientiert.

Besonders bemerkbar machte sich in dieser Phase das Fehlen Musialas. Musiala, welcher ähnlich wie Pedri und Yamal immer wieder im Spielaufbau unter Angriffspressing tief anspielbar wird und sich aus einer 1gg1 bzw. auch 1gg2/3 Situation lösen kann, nimmt durch seine Anwesenheit Druck von seinen Mitspielern, da Barcelona nicht so aggressiv pressen hätte können. Es wäre durchaus möglich, dass das Spiel mit einem fitten Musiala einen völlig anderen Ausgang hätte haben können.

Einer Ballbesitzphase Barcelonas folgte dann das 2:1. Allerdings gingen dieser mehrere individuelle Fehler der Bayern Spieler voraus. So schob Kane aus dem Bayern mid-block zu zögerlich auf den Ballführenden, um Druck auszuüben, Palinha verpasste es Kanes Gegenspieler, Raphinha, zu übernehmen, die Schnittstellen in den Zwischenkettenraum wurden überhaupt nicht zugelaufen und Kim ließ sich von einer gegenläufigen Bewegung überlisten, verschätzte sich in der Folge bei einem langen Ball und Neuer beim Herauskommen ebenso. Ein völlig vermeidbares Tor.

Weder Kane, noch Palinha, Müller oder Kimmich erkennen die potentiell gefährliche Überzahlsituation im linken Halbraum.

Barcelonas Konterfußball gg. Münchner Restverteidigung

Bayern attackierte nun gezwungenermaßen wieder deutlich höher, allerdings nutzte Flicks Barcelona die Tempovorteile Raphinhas bestens aus. Dieser positionierte sich nach Möglichkeit ballfern gegen den etwas langsameren Guerreiro bzw. Kimmich, um bei Balleroberung im Rücken der Abwehr anspielbar für einen tiefen Diagonalball zu werden. So fielen sowohl das 3:1, als auch das 4:1 in Folge einer Balleroberung Barcelonas und einem Diagonalball auf den tief laufenden Raphinha, welcher sich im Laufduell problemlos durchsetzen konnte gegen die hoch positionierte letzte Kette der Bayern.

Das Fazit

Ein unfassbar unterhaltsames Spiel mit etlichen Chancen auf beiden Seiten findet am Ende einen deutlichen Sieger. Dieses Spiel war aufgrund der besonders hohen Risikobereitschaft beider Teams Werbung für den Fußball. Ich persönlich würde mich darüber freuen, weniger Kritik an mutig spielenden Mannschaften und mehr Kritik an trostlosem Angsthasenfußball zu üben. Als Fußballbegeisterter bin ich großer Fan hoher Restverteidigungslinien und risikohaftem Verteidigen. Ich hoffe sehr, dass sich weitere Mannschaften ein Beispiel an dieser Art des Fußballs nehmen werden.

Autor: MH ist Fußball-Aficionado von Herzen. Seine Wohnung gleicht einer Fußball-Bibliothek in deren Regalen Bücher über die großen Taktiker von Rinus Michels bis Pep Guardiola stehen. Das Buch von Spielverlagerung.de fehlt hier natürlich nicht. Für MH ist Fußball nicht nur ein Spiel. Es ist ein Lebensgefühl. Auf X ist er unter Mh_sv5 zu finden.

Taktik-Ignorant 26. Oktober 2024 um 22:57

Und ein kleiner Zusatz, mit Blick auf den gerade zu Ende gegangenen Clásico: noch ein Spiel mit 2 Phasen, in Halbzeit 1 hätte Real locker 1-2 Tore schießen müssen, aber auch hier konnte Flick in der Halbzeit das Spiel zu Barças Gunsten wenden, mit der Hereinnahme von DeJong. In der Folge muss sich Lewa fragen, warum er nur 2 und nicht 4 Tore gemacht hat. Und Raphinha wieder etwas irdischer, mit einigen falschen Entscheidungen, aber einem Treffer in der Schlussphase, als die Räume für Barças Konter unendlich wurden. Bin wirklich mal gespannt, wie lange der Flick-Zauber noch anhält.

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Taktik-Ignorant 25. Oktober 2024 um 21:14

Ich finde, der Artikel stellt sehr schön den Kipp-Punkt des Spiels heraus, nämlich den Ausgleichstreffer der Bayern, der zu dem Zeitpunkt wirklich hochverdient war. Bis dahin wunderte ich mich über das extrem risikoreiche Harakiri-Verteidigen von Barcelona (was man ja eigentlich eher von den Bayern gewohnt war); die Bayern hätten in der Phase (obwohl Musiala nicht auf dem Platz stand) gut und gerne 3 Tore erzielen können. Leider kamen die Anspiele in die Tiefe spät (obwohl, wie ebenfalls im Artikel hervorgehoben, die Mittelfeldspieler der Bayern in jener Phase, anders als später, genug Platz und Zeit hatten), ungenau, oder wurden schlecht verarbeitet. Technische Mängel, die bei Barcelona so nicht anzutreffen waren. Hinzu kam, dass Kane und Müller als vorderste Spiele in der Zentrale nicht die Geschwindigkeit mitbringen, um durch die gegnerische Kette nach vorne gesteckte Bälle zu erlaufen und gewinnbringend, d.h. Richtung Tor, zu verarbeiten.

Entscheidend war die im Artikel genannte taktische Umstellung Flicks nach dem Gegentor (ein gutes Beispiel für gelungenes In-game-coaching). Mich wunderte es, dass die nicht früher (beispielsweise nach dem ersten Gegentor, das wegen Mini-Abseits (wurde eigentlich auch die Ballhöhe berücksichtigt?) nicht gegeben wurde) erfolgte, denn es spielten eigentlich nur die Bayern. Bis zum Ausgleich. Dann kam die Umstellung, und gleichzeitig verbesserte sich auch das Zweikampfverhalten der Barcelona-Spieler (mit dem und gegen den Ball) deutlich; Yamal z.B. gelang es mehrfach, trotz guter und enger Pressing-Staffelung der Bayern sich zu befreien und den Ball weiterzuleiten, wodurch seine Mitspieler dann viel Raum hatten.

Ich frage mich, ob die Bayern in der Phase auch vorsätzlich passiver wurden, wie das der Autor des Artikels vermutet und es auch logisch ist, weil sich ein dermaßen intensives Pressing nicht über 90 Minuten aufrechterhalten lässt; außerdem ist es nicht ohne Risiko. Trotzdem hätte Kompany hier gegensteuern müssen, denn Barcelona spielte nach dem 1:1 wieder so überlegen wie in seinen Ligaspielen, und weitere Tore sind dann bei der Qualität des Barça-Kaders nur eine Frage der Zeit. Das 1:2 bahnte sich an, auch wenn es wegen des offensichtlichen Fouls an Kim (er hat sich nicht verschätzt, sondern wurde von hinten weggestoßen) nicht hätte gegeben werden dürfen. Da es den Bayern aber nicht mehr gelang, Barcelonas Aufbauspiel zu unterbinden, wäre ein Gegentreffer ohnehin gekommen, nur halt etwas später. Auch beim dritten Gegentor der Bayern war etwas Pech dabei: Upamecano war eigentlich rechtzeitig zurück bei Guerreiro, nur geriet sein letzter Schritt sogar etwas zu weit, so dass Rapinha’s Schuss durch Upas Beine auf das Tor gehen konnte.

Ein Wort noch zu Neuer: nach dem Gegentor bei Aston Villa positioniert er sich naturgemäß nicht mehr ganz so weit vor dem Tor; es ist Kompanys Sache, darauf zu achten, dass die Räume zwischen Abwehr und Torwart nicht zu groß werden, sonst werden Situationen wie im CL-Spiel noch häufiger den Bayern das Ergebnis verderben.

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FM 25. Oktober 2024 um 00:22

In der ersten Halbzeit hatte ich kurz den Eindruck, wenn Bayern in den richtigen Momenten die Tiefenläufe bedient, müssten sie sich Chancen für 3 Tore rausspielen. Die Läufe waren da und dee Ballführwndw hatte oft auch einen freien Fuß. Hatten die einen schlechten Tag und normalerweise müsste das klappen und das Risiko aufgehen oder ist es, wenn sogar die Bayern die Pässe nicht spielen, doch so schwer sich Chancen herauszuspielen und das Risiko es doch nicht wert? Die Chancen lagen einfach auf dem Tisch. Waren relativ einfache Bälle hinter die Kette bei denen ne gute Chance oder wenn schlecht gespielt zumindest weiterer Ballbesitz bei rausspringen hätte müssen. Jemand Gedanken dazu?

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