Türchen 24: Kaká
Vor dem langjährigen Dauerduell zwischen Cristiano Ronaldo und Lionel Messi ging der Weltfußballertitel 2007 an Kaká. Es war sein großes Jahr bei Milan – als offensiver Schlüsselspieler und Torjäger auf dem Weg zum Champions-League-Titel.
Andrea Pirlo, Gennaro Gattuso, Massimo Ambrosini, Clarence Seedorf vor der Viererkette – das hört sich nach Stabilität und Ballbesitz an, aber nicht unbedingt nach Dynamik. Man hat keine ausgewiesenen Dribbler, keine ausgewiesenen Tiefenläufer und keine sogenannten Tempospieler. Wenn man dann noch einen nominellen Mittelstürmer einplanen muss oder will, bleibt nur noch eine Position in der Aufstellung übrig. Es fehlt beispielsweise noch jede Spur von gelernten offensiven Flügelspielern. Angenommen, jener letzte Platz geht an einen Zehner: Kann man so überhaupt einen Blumentopf gewinnen, geschweige denn die Champions League?
Dafür muss viel zusammenpassen, aber dem AC Milan ist das 2007 unter Carlo Ancelotti gelungen. Vor den drei Sechsern agierten im offensiven Mittelfeld hinter einer einzigen Spitze der mitunter als laufschwach geltende einstige Sechser/Achter Seedorf und Kaká, Letzterer etwas höher als hängende Spitze. Ob 4-3-1-2 , ob 4-3-2-1, wie es damals oft zum Schlagwort wurde, oder ob 4-3-1-1-1, gemäß der tendenziellen Rollenverteilung: Im Offensivspiel hatte das Team geringe Präsenz und nominell keine Breite. Es boten sich aus dem Zentrum auch nicht viele Spieler als die idealen Kandidaten zur dynamischen Besetzung jener Breite an. Das konnten vor allem die Außenverteidiger machen, und ansonsten Kaká.
Die personelle Besetzung brachte Milan vor allem ausgeprägte Ballsicherheit und Präsenz in der Absicherung. Auf dieser Grundlage war das Team nicht leicht zu schlagen. Daher reichten ihm nach vorne im Zweifelsfall einzelne Momente. Milan kam oft über Konter und Unterzahlangriffe zum Zuge. Dass diese auch bei geringem Personaleinsatz eine vergleichsweise hohe Durchschlagskraft erzeugten, wie sie sie rund um den Champions-League-Sieg 2007 erzeugten, wurde wesentlich durch Kaká befördert. Er trug das aus sich heraus grundsätzlich stabile System über kritische Momente und er trug dessen Angriffe oft über die entscheidenden letzten Meter hinweg.
Dynamik und Athletik
Wie und warum der brasilianische Offensivmann seinerzeit diese „systemtragende“ Funktion erfüllen konnte bzw. was ihm diese „systemtragende“ Rolle erlaubte, ist im Prinzip eine ziemlich unspektakuläre Thematik: Individuelle Dynamikvorteile. Auf seinem Karrierehöhepunkt verkörperte Kaká die pure Dynamik. Er konnte sich in diversen Formen von Laufduellen und Dribblings außergewöhnlich gut durchsetzen. Einerseits war er athletisch stark und diese Athletik passte obendrein sehr gut für weiträumiges Balltreiben. Andererseits beschleunigte er auf kürzeren Strecken enorm schnell im Dribbling, selbst direkt nach der ersten Ballmitnahme.
Vereinfacht gesagt: Kaká konnte einfach viel häufiger durchrennen, als es im Spitzenfußball normal ist. Von der Tendenz her funktionierte das in mehreren seiner Karrierephasen überdurchschnittlich gut, aber es blieb innerhalb eines gewissen Rahmens. Nur in der speziellen zeitlichen Konstellation um 2007, auf seinem Zenit, ging es dann über diesen Rahmen hinaus.
Im Einzelnen steckten viele kleine Details hinter jener enormen individuellen Durchsetzungsstärke: Beispielsweise war es schwierig, Kaká schon zu Beginn von Dribblings oder Läufen abzubremsen, da er nach einem abgebrochenen Antritt extrem schnell eine neue Tempoveränderung anschließen konnte und dafür große Variationsmöglichkeiten hatte. Das ermöglichte ihm effektive Verzögerungsaktionen, die gerade bei Unterzahl sehr hilfreich sind.
Kaká als „Systemträger“ bei Milan
So bescherte Kaká seinem Team große individuelle Durchschlagskraft. Selbst in strukturell schlechten Szenen und/oder selbst wenn nur wenige Leute angriffen, waren seine Aktionen geeignet, Gefahr zu erzeugen. Das bedeutete in jener damaligen Konstellation gerade nicht, dass der Individualist die Arbeit des Systems ersetzte. Vielmehr sprang er genau dort ein, wo das System nicht mehr weitertrug. Kaká lieferte Milan durch individuelle Klasse gewissermaßen Offensivaktionen „on top“, eine Art Überschuss.
Umgekehrt gab es gleichzeitig die Konstellation, dass der Superstar vom System profitierte, um es wiederum wirksamer tragen zu können: Dank der vielen Zentrumsspieler, die Ancelotti in den Sechser- und Achterräumen formiert hatte, war Kaká nicht durchgängig darauf angewiesen, sich durch die Mitte zurückfallen zu lassen. Wollte er sich Bälle abholen, fand er auf den Flügeln ausreichend Freiräume, die dynamisch besetzt werden konnten – und die der Gegner daher nur dynamisch verteidigen konnte. Für Freilaufbewegungen in Umschaltsituationen stellte sich die Lage ähnlich dar.
Immer wenn Kaká sich nach außen zog, um eingebunden zu werden, war er für die Gegner noch schwieriger am Aufdrehen zu hindern als durch das Zentrum, wo die potentiell frontaleren Winkel zur Situation hin ihm am ehesten Probleme machen würden. Sobald er das Leder in seine Bewegungsrichtung gebracht hatte, bedeutete das einen wichtigen Schritt: Anschließend war der Kaká in seiner Top-Verfassung nur schwierig zu bremsen. Im weiteren Verlauf resultierten neben vielen Einzelaktionen natürlich noch andere Fortsetzungen: Das anfängliche Dribbling überbrückte erst Raum und darauf folgte der schnelle Tiefenpass oder die Einleitung in (Unterzahl-)Kombinationen vorne.
Kakás Spiel: Ausweichende und nachstoßende Bewegungen
Ausweichende Läufe waren allgemein ein zentrales Kennzeichen seines Spiels. Zwei typische Einbindungsformen Kakás sahen so aus: Zum einen gab es das Ausweichen, bei dem er den Ball erhalten würde. Er lief sich seitlich frei und anschließend suchte er entweder aggressiv das Laufduell oder er machte das Leder fest, um dann aus den Flügelzonen von außen wieder nach innen anzudribbeln – also erst das Tempo heraus- und neu aufnehmend. Zum anderen konnten seine ausweichenden Läufe raumöffnende Effekte für die Mitspieler generieren, sofern Kaká selbst nicht das Leder erhielt. Das war eher selten ein intentionales Verhalten und mehr Produkt der größeren Wechselwirkungen.
Oft genug konnten die beiden Wirkungen zusammenfallen: Gerade bei Kontern passierte das wegen der besonderen Umschaltcharakteristik der Situation am schnellsten. Die Freilaufbewegung nach außen hatte den doppelten Effekt, entweder für Dribblingmomente zu sorgen oder Gegenspieler wegzuziehen. So war Kaká einerseits für Glanzlichter bekannt, die er als raumüberbrückender Umschaltspieler (selbst) setzte. Aber andererseits konnte er in Kontern auch als Zuarbeiter auftreten. In der WM-Qualifikation für das Turnier 2006 gab es einige Partien, in denen er für Brasilien auf der Zehn in einer Rautenformation hauptsächlich als ausweichender Raumöffner für Ronaldo diente. Dieser wurde so zur Hauptfigur der schnellen Gegenstöße. Insofern war Kaká nicht nur einfach ein Individualist.
Bei Kontern ist es potentiell etwas leichter zu verkraften, wenn man bei der Ballmitnahme nach einem Anspiel erst einmal noch weiter nach außen geht. Solange der Gegner nicht massive Präsenz in der Absicherung hat, kann er diese Läufe nicht so geschlossen zuschieben. Daher muss sich der Ballführende nicht schon im ersten Moment in diejenige günstige Position gebracht haben, aus der er später wieder gut und sauber nach innen kommen kann. Bei Kontern konnte Kaká es also besonders gut überdecken, dass er manche seiner Bewegungen unsauber wählte. Insgesamt kennzeichnete sein Freilaufverhalten – mit der ausweichenden Orientierung darin – die Tendenz zu isolierenden Läufen.
Eine seiner größten Stärken half ihm aber, sich aus ungünstigen Lagen, in die er sich manövriert hatte, schnell wieder einbinden zu können. Ob nach zurückfallenden oder nach ausweichenden Läufen, ob diese effektiv gewesen waren oder nicht: Er rückte rasch wieder nach vorne vor. Bei nachstoßenden Bewegungen in die Spitze, in oder an den Strafraum heran, konnte Kaká seine enorme Dynamik einbringen und entwickelte somit viel Zug. Daneben kam ihm ein ganz passables Timing bei solchen Aktionen zugute. Diese nachrückenden Läufe waren insgesamt ein weiteres typisches Kennzeichen seines Stils.
Stärken und Schwächen
Ähnlich wie die Entscheidungsfindung im Bewegungsspiel – mit der Tendenz zu selbstisolierenden Läufen – gestaltete sich auch diejenige am Ball speziell und wechselhaft. Vor allem war sie in beiden Fällen nicht besonders strategisch. In dem Jahr, in welchem Kaká Weltfußballer werden sollte, überstrahlten die Glanzmomente reichlich verschwenderische Aktionen. Relativ gesehen hatte er in jener starken Saison einen recht hohen „Ausschuss“ an überambitionierten oder auch technisch misslungenen Szenen. Aber dafür waren die Glanzmomente einfach überdurchschnittlich stark und wirksam.
Ein Extrembeispiel bildete das Hinspiel im Champions-League-Halbfinale gegen Manchester United 2007 in Old Trafford: Insgesamt war Kaká bei zu vielen Angriffen auf sich allein gestellt. Welch hohe Anzahl er davon mit völlig überfrühten Torschüssen verschenkte, statt auf weiteres Nachrücken von Mitspielern zu warten, wirkt doch etwas überraschend. Zugleich schnürte er einen Doppelpack in jener Partie – darunter eines seiner legendärsten Tore für Milan: In aussichtsloser Lage gegen drei Gegenspieler flog ein undankbarer langer Ball in seine Nähe – und einige Sekunden später lief er frei auf den gegnerischen Keeper zu. Die beiden letzten Verteidiger hatten sich am Ende gegenseitig umgelaufen, nachdem sie von ihm überlupft worden waren.
Insgesamt fanden sich neben solch enormer Qualität einige wesentliche Schwächen bei Kaká. Technisch-körperlich brachte er ein sehr gutes Komplettpaket mit: Beschleunigung, Dynamik, Athletik, Größe, Torabschluss (auch mit dem schwachen Fuß), Finten, raumgreifende und treibende Dribblings. Aber er befand sich nicht überall in diesen Bereichen auf Topniveau. Zwar war Kaká ein guter, wenn auch nicht herausragender Techniker, aber trotzdem letztlich nicht der besonders pressingresistente Akteur, weil dafür die Orientierung in Engstellen zu wechselhaft blieb. Als Passgeber hatte er ein sehr flexibles Set an Aktionen und auch in der Reichweite. Aber es kam häufig zu Unsauberkeiten in der Passgewichtung.
Demgegenüber stehen aber nochmal zwei besondere Stärken. Die erste war seine Einschätzungsfähigkeit des Potentials bzw. der Potentiale, die eine offensive Spielsituation hergab. Kaká hatte eine gute Intention für die Handlungsmöglichkeiten, die eine vorhandene Dynamik – gerade für die Mannschaft und nicht nur individuell – bot. Dadurch konnte er sich harmonisch an das Verhalten der Mitspieler anpassen, selbst wenn er selbst sich gerade gar nicht ganz sauber bewegt oder positioniert hatte.
Dies war der größte teamspezifische Vorteil und Wert des vermeintlichen Individualisten Kaká. Aus jener ersten Stärke heraus erklärte sich direkt die zweite: Er fand folglich gute Momente, um Angriffe zu unterbrechen oder zumindest zu verzögern. Das kam besonders gut zum Tragen, da seine körperliche Konstitution dazu passte. Kakás koordinativen Stärken betrafen gerade diejenigen Aktionen, die solche Situationen erforderten: Absetzbewegungen, Ballführung gegensätzlich zur Bewegungsrichtung – das war typisch für ihn und darin glänzte er.
Resümee: Wie gut war Kaká?
Weil die Verteilung und das Zusammenwirken seiner Stärken und Schwächen gegeneinander also sehr speziell sind, lässt sich in der gerne gestellten Frage, „wie gut“ Kaká eigentlich war, nicht besonders leicht klassifizieren und abwägen. Am ehesten kann man festhalten, dass seine Stärken unterdurchschnittlich durchgängig und gleichförmig wirkten, er daher schnell mal „blass“ schien (daher auch der rasche Umschwung vom Weltfußballer 2007 zum kleinen „Sorgenkind“ bei Real Madrid ab 2009), und dass diese Stärken in den Momenten, in denen sie einsetzten, ihm sogleich enormen Impact verliehen. Das Element des „wie gut“ muss man also zwischen dem Dauerhaften und dem – regelmäßig wiederkehrenden – Punktuellen sehr unterschiedlich bewerten. Diese Spaltung war größer als bei vielen anderen Spielern des höchsten Niveaus.
5 Kommentare Alle anzeigen
Berti Boy 27. Juli 2022 um 23:00
Hallo, tatsächlich bin ich, einige Monate nach Erscheinen, über die Passage gestolpert, Seedorf sei kein „dynamischer“ Spieler. Das kann ich so nicht unterschreiben, gerade noch mit Anfang Mitte 30 – früher noch mehr – hat gerade er meiner Meinung nach für eine ganze Menge Dynamik gesorgt. Viele Anschlussbewegungen an Pässe, Dribblings aus der Tiefe und aus engen Situationen (oft hiernach der Sicherheitsball, aber aus den Engen muss man erstmal rauskommen), eine außer von Roberto Carlos vllt. Beinah unerreichte Schussgewalt und technisch immer wieder sowohl von der Übersicht als auch von der Klasse her ganz tolle Aktionen. Selbst im
Kopfball war er nicht unbedingt schwach und hat im Nachrücken so Tore erzielen können. Die Tore gegen ManU 2007 und Bayern – ich meine im
selben Jahr – sind aus meiner Sicht gerade ein Musterbeispiel für Dynamik. Er geht mit in die Toefe (Strafraumgrenze), setzt sich robust, aber auch clever durch und dann kommt seine Schussgewalt zum Tragen. Sicher lassen sich da noch mehr Beispiele finden. Trotzdem ein toller Artikel für einen Spieler einer Zeit, der für mich so mit die letzte Ära vor dem „modernen Fußball“ geprägt hat und ich habe die Mannschaft des Ac Mailand seit 2000 geliebt. Mit drei Finals und zwei Titeln und damals nie gesehenes
Fußball gegen Barcelona 2006 im
CL- Halbfinale kann man das Team mit Sicherheit auch zum über Jahre besten Teams
Europas zählen.
tobit 31. Juli 2022 um 09:16
Seedorf kann Dynamik erzeugen, ja. Aber ein wirklich dynamischer Typ a la Kaká oder Dembélé war er nicht. Man muss hier zwischen individueller Dynamik und dynamischem Spiel unterscheiden.
Gleichzeitig war der Satz glaube ich in keinster Weise ein „Angriff“ auf Seedorf und seine Mittelfeldkollegen, sondern eher ein Einstieg um ausführen zu können wie viele Aspekte des Offensivspiels Kaká entscheidend geprägt hat.
Berti Boy 9. August 2022 um 00:50
Erstmal freue ich mich, dass auch Kommentare von älteren Artikeln noch beantwortet werden. Wie ich schrieb, ein ganz toller Artikel! Ich habe das auch nicht als Angriff verstanden, aber als großer Fan der Mannschaft damals (heute weniger, eher Gelegenheitszuschauer), war es mir doch wichtig, das nochmal herauszustellen. Seedorf ist beim besten Willen kein Tempodribbler (und ich halte ihn auch nicht für einen guten Trainer), aber seine Aktionen sollen auch nicht unerwähnt bleiben 🙂 zumal er ja als Person einen ganz sauberen Charakter zu haben scheint was Wohltätigkeit und soziales Engagement betrifft und er auch bei Real und Inter sowie in der Nationalmannschaft (trotz hier auch erwähnenswerter Aktionen) eher die zweite Geige spielte.
Jonny1848 25. Dezember 2021 um 12:35
Falls hier Links erlaubt sind: https://youtu.be/fw3LhHjdRUc (Ricardo Kaká The Maestro Of San Siro Tribute HD)
Besonders feierte ich immer diese fantastischen Sprints, ganz besonders natürlich den im Text erwähnten Kopfball zwischen der Zange der sich umrennenden United Spieler, eines der besten Tore der Geschichte… und, dass er einfach in seiner Prime-Zeit jede Grätsche ignorierte, und ganz anders als die heutigen Spieler nicht überall einfädelte, sonden weiter rannte, bis es nicht mehr anders ging. Er nahm keine Fouls an, sondern wurde nur dadurch gebremst, wenn er wirklich nicht drüber springen konnte. Und wenn er fiel, blieb er nicht liegen, sondern versuchte, weiterzurennen. Diese Einstellung fehlt mir heute bei den meisten Spielern…
Jonny1848 25. Dezember 2021 um 12:27
Allerherzlichsten Dank, auf Kaká warte ich schon, seit ich hier am Lesen bin… also wahrscheinlich sicherlich seit kurz nach 2011. Es ist ganz fantastisch, vielen Dank für die Arbeit.