Die Phrasendrescher, Folge 5: Mentalität
Die Mentalität ist ein heißes Eisen im Fußball. Es wird Zeit, den Begriff aus sprachlicher Sicht zu untersuchen. Eine neue Ausgabe unseres Phrasendrescher-Podcasts!
Was sind moderne Fußballphrasen? Wie sind sie entstanden? Und wie erkennt man sie? Im neuen Podcast „Die Phrasendrescher“ debatieren Sportjournalist Tobias Escher (Spielverlagerung-Autor TE), Trainer Martin Rafelt (MR) und Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker die Tücken der Fußballsprache. In jeder Ausgabe analysieren sie eine neue Fußballphrase, aus fußballanalytischer, sprachlicher wie journalistischer Sicht. Dabei soll es nicht in erster Linie um klassische Phrasen gehen, sondern um Begriffe aus der modernen Fußballanalytik, die mehr und mehr zu Phrasen verkommen.
Viele Trainer beschwören die Mentalität, während Marco Reus einfach von dieser „Mentalitätsscheiße“ in Ruhe gelassen werden will. Zeit für die Phrasendrescher-Crew, sich mit dem großen Thema Mentalität zu beschäftigen! Woher stammt der Begriff? Wie kam er in die Welt des Fußballs? Und was hat Boris Becker eigentlich damit zu tun? All das erfahrt ihr in der fünften Folge des Phrasendrescher-Podcasts!
Der Podcast ist zunächst auf zehn Ausgaben angelegt. Jeden Dienstag soll eine neue Ausgabe erscheinen; aber nagelt uns nicht darauf fest. „Die Phrasendrescher“ ist ein Freizeitprojekt, das wir unentgeltlich neben unserer eigentlichen Arbeit durchführen. Trotzdem wollen wir versuchen, den wöchentlichen Rhythmus einzuhalten. Auf Ideen und Feedback eurerseits freuen wir uns sehr!
9 Kommentare Alle anzeigen
savona 21. April 2021 um 19:29
Aus den frühen 90ern gibt es ein schönes Spielerzitat: „Ich bin mentalmäßig übergalaktisch drauf.“ (Wegmann)
Anzumerken wäre zu dieser schönen Folge noch die der deutschen Nationalmannschaft jahrzehntelang attestierte Eigenschaft der „Turniermannschaft“, die den sogenannten Mentalitätsmonstern recht nahe kommt. Dazu zwei Beobachtungen: Mentalitätsmonster – und trotzdem verloren? Ja, wenn man den Begriff akzeptiert, gab es das: besonders ausgeprägt bei der WM 1970 mit den legendären Verlängerungen gegen England und Italien. Nach der Halbfinalniederlage wurden schon damals taktische Mängel in der spektakulären Verlängerung benannt, zugleich aber die überragende Mentalität herausgestellt, die den Last-Minute-Ausgleich erst ermöglichte.
In den letzten 20 Jahren hat sich allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Qualität „Turniermannschaft“ sich überholt hat. Was nützen ein später Siegtreffer gegen die Türkei anno 2008 oder überzeugende Auftritte gegen England und Argentinien bei der WM 2010, wenn man dann jeweils gegen taktisch hoch überlegene Spanier chancenlos ist? Früher hatte man sich deren „südländischer Mentalität“ mehr als gewachsen gefühlt. Nun musste man erkennen, dass man unter anderem im taktischen Bereich erheblichen Nachholbedarf hatte. Mentalität? Nicht wirklich entscheidend. Außer für diejenigen, die sich vor allem für das Mitsingen der Nationalhymne interessieren. Und für „Typen, die Zeichen setzen“. Also reiner Boulevard.
BM 22. April 2021 um 20:36
Wegmann war ein weithin unterschätzter Philosoph. Vielleicht nur zu vergleichen mit dem unvergessenen Alfred P. Doolittle.
Rinus Michels` Personal Fitness Coach 6. Mai 2021 um 01:04
„Mentalität“ und Taktik müssen ja nicht im Widerspruch zueinander stehen. Hast du eine „gute Mentalität“, sprechen wir von der Fähigkeit unter Druck Leistungen abzuliefern, Spiele nicht verloren zu geben, nach Rückständen nicht die Nerven zu verlieren, kommst du über Spiele drüber, über die andere Teams nicht drüber kommen würden. Ist die taktische Ausrichtung allerdings mangelhaft kommst du wohl gar nicht in die Situation deine „Mentalität“ zu zeigen. Hätte Piotr Trochowski dennoch die „Mentalität“ gehabt die einzige Torchance in 90 Minuten zu nutzen, hätte auch die taktische Überlegenheit der Spanier zu einer völlig unverdienten Niederlage führen können und irgendwie hat das Kopftor von Puyol schon auch etwas mit „Mentalität“ zu tun.
Jedem Land wird nun einmal eine eigene „Mentalität“ angedichtet. Dies beruht auf Klischees, auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, aus sich wiederholenden Mustern. Gänzlich zur Seite schieben würde ich den Begriff dennoch nicht.
Dass Österreich in den letzten 12 Turnierspielen 10 Mal das erste Tor bekommen hat, lässt sich einerseits auf eine defensiv ausgerichtete Taktik zurückführen, aber andererseits auch auf eine „Mentalität“ schwer in ein Großereignis hinein zu kommen und erst unter Druck nach vorne zu gehen, zu riskieren, zu liefern.
MR 13. Mai 2021 um 13:44
„Dass Österreich in den letzten 12 Turnierspielen 10 Mal das erste Tor bekommen hat, lässt sich einerseits auf eine defensiv ausgerichtete Taktik zurückführen, aber andererseits auch auf eine „Mentalität““
Oder schlichtweg fehlende Qualität + Zufallsstreuung
Rinus Michels` Personal Fitness Coach 15. Mai 2021 um 00:08
Fehlende Qualität kann es 2016 nicht gewesen sein, 2008 selbstverständlich schon, aber dennoch der Herangehensweise von Coach Hickersberger geschuldet, 1998 war es der reaktiven Herangehensweise von Coach Prohaska geschuldet und 1990 der „Ich geh mal zur Sicherheit in den Luftschutzbunker“-Taktik geschuldet gewesen sein. Zufall sehe ich da keinen, sondern ein besorgniserregendes, sich wiederholendes Muster, dass in meinen Augen eine Mischung aus reaktiver Taktik und dem, was ich persönlich als „Mentalität“ verstehe.
Rinus Michels` Personal Fitness Coach 15. Mai 2021 um 02:04
Der Deutschlehrer korrigiert: „gewesen sein“ gehört einmal weg, „ist“ kommt am Ende und wir ersetzen „dass“ durch das—weiter im Sinn: nur in 5 dieser 12 Spiele war Ö klar definierter Außenseiter, auch 2016 wurde von Coach Koller bis auf das Spiel gegen Ungarn von Beginn an die Vorsicht betont. Für mich ist es weder Zufall, noch nur die fehlende Qualität alleine.
Patric 21. April 2021 um 11:51
Hallo liebe Taktik- und Wortexperten,
ich genieße Euren neuen Podcast sehr. Wenn man auf bestimmte Phrasen achtet, merkt man erst, wie einfallslos Kommentatoren und Experten sie benutzen. Euer Podcast ist also ein echter Augenöffner.
Eine Beobachtung nach der „Kompaktstehenfolge“: Bleiben bei gegnerischem Ballbesitz alle Feldspieler noch (kompakt) in der gegnerischen Hälfte, um den Ball schnell zurückzugewinnen wird nicht vom „Kompaktstehen“ gesprochen, sondern erst, wenn alle Spieler in der eigenen Hälfte sind, mit den Verteidigern am eigenen Strafraum.
Schön sind aber diese Wortneuschöpfungen wie „kompakte Mannschaftsleistung“ und in der aktuellen Folge „Mentalitätsmonster“.
Die Mentalitätsfolge fand ich persönlich allerdings ein wenig anstrengend zu verfolgen. Ich glaube, dass es an Eurer Einstellung dem Wort bzw. der Wortnutzung gegenüber liegt. Tobias Eschers („leere Hülse“) und Martin Rafelts immer wieder ins Taktische bzw. konkret Psychologische abschweifende Beiträge gingen soweit auseinander, dass keine wirkliche Diskussion zu erkennen war. Aber auch das ist Podcast und macht natürlich den Charme des Formats aus. Und es regt zu weiteren Gedanken zum Thema an. Die Entwertung des Wortes Mentalität erfolgt meiner Meinung nach wie so oft durch die Beliebigkeit der Nutzung: „heute hat die Mentalität nicht gestimmt“.
Der Gedanke der gemeinsamen Geisteshaltung erscheint mir vor allem eine Projektionsfläche die auf Vorurteilen beruht (s. norddeutsche Mentalität). Während mit „dortmunder Mentalität“ unter Klopp vermutlich ein unablässiges „Ballhabenwollen“ assoziiert wird, erinnere ich mich an viele Matches gegen spielerisch stärkere Mannschaften, in denen vor allem super verschoben wurde und eher so eine Art „Arbeitermentalität“ gelebt wurde. Dennoch konnte man natürlich im Nachhinein immer mit Stolz sagen, dass es die Mentalität des BVB sei, wenn Kuba wieder im Gegenpressing einen Ball erobert hat. Ebenso fühlt man sich vielleicht bestärkt darin, dass es eine südländische Mentalität im Fußball gibt, die vor allem zum Tragen kommt, „wenn man sie nicht spielen lässt“. Im Nachhinein fühlt man sich also für seine Vorurteile bestätigt, wenn der gegnerische Spieler lamentiert oder „unsportlich“ wird. Diese Vorurteile scheinen im sportlichen Wettkampf einen gewissen Reiz auszumachen und zum Teil die Bindung der Fans an „ihren“ Verein zu fördern. Im besten Fall assoziiert man die der eigenen Region zugesprochene Mentalität mit der des Vereins (z.B. Arbeitermentalität im Ruhrgebiet).
Vielleicht sollte man also einfach bestimmten Gruppen eine Mentalität zusprechen, damit man sich im Nachhinein darüber freuen kann, wenn durch Aktionen nicht nur taktischer Natur dieses Vorurteil bestätigt wird. Für die Fans ist Mentalität damit vielleicht gar keine leere Hülse. By the way: Die Bremer sind also in dieser Saison wahre Mentalitätsmonster (Achtung: Vorurteil!).
Lieben Gruß und macht weiter so!
studdi 21. April 2021 um 11:31
Ich fand es sehr interessant das das Wort öfters von Trainern und Spielern benutzt wird als von den Journalisten. Wäre mal wirklich schön zu wissen auf was Sie es dann als beziehen.
Könnte ja dann entweder wie von euch beschrieben als schnelle erklärung vor denMedien dienen, damit man nicht ins Detail gehen muss und eventuell irgendetwas direkt Kritissiert.
Oder wenn Sie wirklich etwas damit aussagen wollen kann ich mir auch vorstellen das Sie die gesamte Einstellung unter der Woche damit meinen sprich Trainingsleistung Spielvorbereitung und Fokusierung auf den Gegner.
Rinus Michels` Personal Fitness Coach 16. Mai 2021 um 22:16
Ich stelle es mir schlichtweg einfacher vor als Trainer oder Spieler davon zu sprechen, dass die eigene „Mentalität“ gut oder schlecht ist/war als für einen Journalisten, der einem Team aus der Distanz eine schlechte „Mentalität“ vorwirft, denn dann wird der Trainer oder Sportdirektor des betroffenen Teams einmal schnell nachfragen, was denn den Journalist dazu bringt dem Team eine fehlende „Mentalität“ vorzuwerfen-das hat nämlich etwas von einer Allgemeinwatsche. Auch einem einzelnen Spieler wirfst du aus der Distanz heraus nicht so schnell vor die falsche „Mentalität“ an den Tag gelegt zu haben, oder grundsätzlich die falsche „Mentalität“ zu besitzen.
Ein Coach und ich hoffe das ist ein Trainer traut sich wohl eher den Begriff „Mentalität“ zu benutzen, wenn er die Herangehensweise des eigenen Teams oder eines einzelnen Spielers bespricht, weil er nun einmal über seine eigenen „Mitarbeiter“ spricht. Das ist meine Interpretation. „Wir haben heute die falsche Mentalität an den Tag gelegt.“-wir waren heute im Kopf, in der Psyche, in der Ausübung nicht bereit unser dieser speziellen Aufgabe zu stellen-selbstverständlich lässt sich das Wort „Mentalität“ durch unzählige andere Worte ersetzen, aber es gibt nun einmal Standardwörter im Fußball, die viele Leute gebrauchen, an denen sich viele Leute orientieren und die kurz und knapp eine Beziehung zu den anderen erzeugen sollen, damit diese sich sofort angesprochen fühlen. Für mich dient der Begriff der Vereinfachung.