Türchen 2: Mesut Özil

1:0

Stell dir vor, du bist Bundestrainer und dann coachst du in einem WM-Finale und dann fällt einer deiner beiden Achter kurzfristig vor dem Spiel aus und dann bringst du einen Spieler mit quasi gar keiner Länderspiel-Erfahrung – und dann muss der aber auch nach 30 Minuten raus und du hast auf der Bank noch folgende Spieler: Großkreutz, Ginter, Schürrle, Podolski, Draxler, Durm, Mertesacker, Götze, Weidenfeller, also quasi vier Flügelspieler, vier Verteidiger und einen Zehner (Götze spielte zu dem Zeitpunkt noch nicht als Achter).

Da machste nix. Da machste: Mesut Özil auf die Acht. Ohne Training. Ohne Erfahrung. Ohne Planung. In einem Mittelfeld, das Lionel Messi verteidigen muss. Ab dafür.

Herr Schiedsrichter, ist das hier die Achterposition?

Nach Christoph Kramers Gehirnerschütterung gab es für den überraschend in die Startelf des WM-Finals 2014 gerutschten Mittelfeldspieler keinen wirklichen Ersatz. Das deutsche 4-3-3, das der Mannschaft die Stabilität für den Titel gab, hatte eine zentrale Leerstelle und völlig improvisiert musste sie Mesut Özil stopfen, der vermeintliche „Schönspieler“ mit den hängenden Schultern, der nicht verteidigt und „in großen Spielen abtaucht“.

Die Aufstellungen nach der Auswechslung Kramers in der 31. Minute.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil es im allgemeinen Jubel um den Titel und der Chaotik des Spiels völlig unterging. Auch deshalb, weil Fußballdeutschland nach der Debatte um Philipp Lahms Position (Sechser oder Außenverteidiger?) in der selbstgemachten Illusion gefangen war, die Nationalelf habe gar nicht mehr 4-3-3 gespielt; Löw habe mit der Rückversetzung Lahms im Viertelfinale gegen Frankreich auf das „bewährte“ 4-2-3-1 umgestellt, so wie es die Öffentlichkeit verlangte. Dem war aber nicht so.

Özil als Achter

Rein taktisch war Özils Rolle dann gar nicht so spektakulär. Das außergewöhnliche daran war wohl vor allem, wie wenig es auffiel, wie „gewöhnlich“ er die Position spontan zu spielen vermochte. Selbstverständlich spielte er die Position nicht wahnsinnig robust, aber das ist gegen Messi ohnehin quasi unmöglich (und auch gegen den direkten Gegenspieler Mascherano reichlich schwierig).

In Verbindung mit der generellen Mittelfeldkontrolle, die die deutschen Weltmeister so auszeichnete, gelang es ihm vor allem, nicht auf seiner Position zu fehlen. Das ist nämlich oftmals das Hauptrisiko, wenn man Offensivspieler nach hinten zieht: Dass sie manchmal zu sehr nach vorne spekulieren, zu hohe Positionen einnehmen oder schlichtweg nicht bzw. zu langsam zurückkommen im Umschalten. Özil spielte das aber auf Anhieb sehr balanciert.

Und das gelang ihm, obwohl er durchaus umtriebig spielte. Er bewegte sich mehr oder minder überall hin: Er schwamm in seiner üblichen Manier zentral und halbrechts zwischen den Linien, manchmal rochierte er nach halblinks oder sogar auf den linken Flügel, um vor Kroos zu überladen, phasenweise sorgte er rechts für Breite hinter Müller und regelmäßig fiel er auch nach hinten zurück und half der Ballsicherung in sehr tiefen Positionen.

Das alles passierte aber sehr harmonisch im Kontext der deutschen Ballzirkulation: Schweinsteiger, Lahm und Co. konnten sich problemlos so positionieren, dass sich auf Özils Position keine großen Löcher öffneten. Gerade das Wechselspiel mit Lahm funktionierte sehr gut: Durch Özils Vorschieben wurde dem Kapitän immer wieder Raum geöffnet und er konnte aus einer Halbraumposition den Ballbesitz und das Umschaltspiel kontrollieren.

Özils Defensivspiel

Auch im Spiel gegen den Ball machte Özil spontan eine ziemlich gute Figur. Etwa war er noch im ersten Durchgang direkt an einer sehr guten Balleroberung Kloses beteiligt, die die vielleicht beste deutsche Konterszene einleitete.

Dabei kam ihm entgegen, dass das deutsche 4-3-3-Pressing so massiv auf die Kontrolle von Passlinien und das Vorschieben der Mittelfeldspieler fokussiert war und nicht so sehr auf die Balleroberung am Gegenspieler oder gar dem Verfolgen von gegnerischen Bewegungen. So konnte Özil in dieser Rolle sein großes Geschick im Umgang mit Passwegen einbringen und beteiligte sich an diesem Pressing mit gutem Timing und guten Entscheidungen.

Zudem war er in „den wichtigen Momenten“ da, wenn sich das Mittelfeld destabilisierte und für Messi und Co. Räume aufgingen. Herausragend wichtig beispielsweise hier in der 66. Minute, in denen Messi andernfalls auf ein 2-gegen-2 zumarschiert wäre, was bei Messi natürlich extrem gefährlich sein kann. Locker denkbar, dass Argentinien jetzt Weltmeister wäre, wenn Özil hier nicht hinter Schweinsteiger und Kroos absichert und für die Mannschaft Zeit gewinnt:

Nach einem deutschen Einwurf bekommt Messi den Ball hinter der deutschen Mittelfeldlinie. Özil kommt im Sprint von der Seite zurück, Messi dreht ab statt tiefspielen zu können. Müller und Klose kommen ebenfalls zurück gesprintet und bereinigen die Situation anschließend.

Spannend waren auch Szenen, in denen Kroos und Özil den Passweg auf Messi gemeinsam versperrten.

Im wichtigsten Moment gegen das Klischee

Wäre es nicht Mesut Özil, man würde an dieser Stelle wohl von der absoluten Professionalität sprechen. Von einem Spieler, der in der wichtigsten Situation, die es im Fußball überhaupt gibt, etwas tut, was er noch nie getan hat und damit Erfolg hat. Man stelle sich vor, Schweinsteiger wäre in die Verteidigung gerückt oder Müller auf die Sechs, sie wären die Helden gewesen. Özils spontane und erfolgreiche Rollenveränderung im Finale der Weltmeisterschaft hingegen, sie wurde nicht einmal wirklich erwähnt, sie fiel den meisten Betrachtern kaum auf. Es ist ein Sinnbild für Özils Karriere, das Spiel seines größten Erfolges. Er hat es allen gezeigt, aber keiner hat hingesehen.

Dass dieser größte Erfolg mit einer Veränderung seine Rolle einherging, mit etwas, was er normalerweise nicht tut und getan hat, das kann man wiederum so oder so bewerten und interpretieren – von wegen „er kann das eben doch“ oder lieber „soll er es doch immer machen“. Was jedenfalls klar ist: Diese Leistung Özils war eine gegen jedes Klischee, ob man nun ein Befürworter oder Kritiker seines Stils ist.

Es ist ein nennenswertes Kapitel der Fußballgeschichte. Eine solche Umstellung und Personalwahl, ohne Vorbereitung, in so einem Spiel, gegen den vielleicht besten Offensivspieler aller Zeiten, wo andere Trainer sich tagelang den Kopf zerbrechen, ob der Flügelstürmer nun im nächsten Kreisliga-Spiel mal als Außenverteidiger aushelfen kann, oder ob das nicht zu riskant sei; das ist eigentlich eine Sensation.

Es hat fast etwas surreales: Wenn man es so vorhergesagt hätte, man hätte wahrscheinlich nicht gesagt „find ich gut“ oder „find ich schlecht“, sondern eher: „So ein Quatsch. Das wird nie passieren.“ Und das unentdeckt im Schatten des allergrößten Rampenlichts. Herr Schiedsrichter? Ist das hier wirklich das WM-Finale?

Heinrich Heine 26. April 2023 um 13:46

ich mag özi

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Daniel 2. Dezember 2019 um 14:44

Özil ist generell ein relativ wandelbarer, flexibler Spieler. Man könnte eigentlich die gesamte WM 14 als Beispiel nehmen, schließlich war er ansonsten linker Flügelspieler…auch das eine ziemlich ungewöhnliche Rolle für ihn. Auch gegen den Ball ist Özil zumeist engagiert, wenn auch nicht sonderlich gut. Schönes Beispiel dafür ist eigentlich auch die vergangene WM, bei der er in einer chaotischen deutschen Mannschaft einer der besseren war, aber dennoch sich die Enttäuschung der Nation auf ihm entlud. Anstatt zu fragen, warum beim 1:0 für Mexiko der Zehner am eigenen Fünfmeterraum den gegnerischen Flügelstürmer verteidigen muss, wurde Özil regelrecht angefeindet dafür, dass er diesen entscheidenden Zweikampf verlor.

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WVQ 2. Dezember 2019 um 17:49

Flexibel… ja, das darf man ihm sicher zugestehen, wenn er während einer WM gleich drei verschiedene Positionen (im ersten Gruppenspiel war er noch auf dem rechten Flügel, Götze links) sauber und auf gleichbleibendem Niveau spielt. Wandelbar… das würde für mich allerdings erfordern, daß er auf diesen verschiedenen Positionen seine Spielweise erheblich angepaßt hätte, was ich auf den Flügeln damals nicht so wahrgenommen habe – schien mir eher, als hätte er dann eher einen zum Flügel verschobenen Zehner (mit auch einer Tendenz zurück Richtung Zehnerraum) gespielt. Was nicht schlecht war, da man damals so mit Kroos und Khedira im Zentrum eine sehr schöne Präsenz von Kombinationsexperten hatte. (Auch Götze und Müller waren und sind ja nun keine klassischen Flügelspieler, die im 1-gegen-1 jeden reihenweise Außenverteidiger stehen lassen, sondern ebenso vor allem in engen Situationen über Ball- und Kombinationssicherheit, intelligente Laufwege und ebensolches Paßspiel hervorstechen.)

An die absurde Situation aus dem Mexiko-Spiel erinnere ich mich noch sehr lebhaft, als von acht Offensivspielern einzig (und ich mag durchaus sagen ausgerechnet) Özil verstand, daß man gerade ins offene Messer rannte, und folglich öfter zurückfiel und notdürftig Defensivaufgaben übernahm, für die sich sonst keiner mehr interessierte. Man kann schlecht sagen, daß er darin erfolgreich war oder daß er die entsprechenden fußballerischen Talente überhaupt gehabt hätte, aber es sprach sehr für seine Spielintelligenz und, wie Du selbst andeutest, für eine gewisse Demut dem größeren Ganzen gegenüber, daß er eben das Beste tat, was er unter den gegebenen Umständen für die Mannschaft tun konnte. Eine solche Einstellung und Umsicht hätte da in der Tat auch einigen anderen äußerst gut zu Gesicht gestanden.

In diesem Sinne finde ich die Beobachtung des Artikels sehr interessant. Özil plötzliche Achter-Rolle wird sicher auch deswegen kaum jemandem aufgefallen sein, weil er auch die Acht nicht sonderlich anders spielte als die Zehn oder den Flügel. Einen plötzlich wild tackelnden, alles ablaufenden Özil gab es da ja auch nicht zu sehen. Ich interpretiere den Artikel so, daß er unter diesen Umständen vielmehr sofort verstand, was er dort leisten konnte und was nicht, und dieses dann auch mehr oder weniger fehlerlos umsetzte. Was durchaus für sich schon das außerordentliche Lob von MR rechtfertigt – die meisten Spieler wären damit bereits in einem Bundesliga-Spiel überfordert, geschweige denn in einem WM-Finale. Muß mir vor diesem Hintergrund das Spiel unbedingt noch einmal anschauen. (Auch wenn ich es ganz allgemein nicht unbedingt als eine Glanzstunde des deutschen – oder auch argentinischen – Fußballs in Erinnerung habe.)

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Koom 2. Dezember 2019 um 21:41

Özil ist kein guter Verteidiger, aber ein engagierter. Wenn im üblichen taktischen Korsett alle normal arbeiten, kann er das Zünglein an der Waage sein. Bei der WM2018 hatten aber außer Hummels und Boateng – und eben Özil – keiner Bock, die taktische Drecksarbeit nach hinten zu machen.

Es ist wirklich eine Schande, wie sehr er da dann geopfert wurde.

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aaa 2. Dezember 2019 um 14:28

schlimm fande ich vor allem, wie özil’s defensivarbeit auf dem flügel verkannt wurde

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blub 2. Dezember 2019 um 21:06

und wie viel Defensivarbeit er dem ganzen Team erspart indem er nicht ebenso den Bal verliert.

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Franz Kafka 26. April 2023 um 13:48

Ball*

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studdi 2. Dezember 2019 um 11:38

Bin mir nicht sicher, da ich es damals nicht ganz so gut verfolgen konnte… Hat Özil in seiner anfangs Zeit nicht öfters auch mal als 8er gespielt bei Schalke? Oder zumindest bei Bremen in der Raute mit Diego auf der 10? Und wie hat er da bezogen auf die Defensive gespielt? Falls sich jemand daran erinnert

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tobit 2. Dezember 2019 um 13:24

Die Raute bei Werder war ja nicht gerade für defensive Qualität bekannt. Das war oft mehr ein 4-1-3-2, auch weil zu Özils Werder-Zeit Pressing I’m gegnerischen Sechserraum noch eine Nischenerscheinung im deutschen Fussball war. Da passt er dann als halbrechter „Zehner“ ganz gut rein.
Der klassische Zehner verschwand dann ja auch nach und nach während Özils Rolle als im Halbraum schwimmender Kreativspieler quasi exakt so erhalten blieb, aber jetzt den Namen „klassischer Zehner“ bekam. Sprache ist gerade im Fussball permanent in Veränderung, was diese Definitionen sehr schwierig macht.

Worum es in diesem Artikel hauptsächlich ging, war (für mich) die taktische Abweichung vom Narrativ des Schönwetter-Offensiv-Traumtänzers und der allzu klaren Positions- und Rollenfestlegung von Einzelspielern. Besonders die Entscheidung Özil ins Zentrum zu ziehen, wenn man auch den (vermeintlich) defensiv stärkeren Müller neben/um Klose hätte spielen lassen können. Das wäre dem damals noch in sehr vielen Köpfen als ideal verankerten 4-4-2 mit den Kreativspielern risikolos außen deutlich näher gekommen, wäre aber gegen die zentrumsfokussierte Raute der Argentinier wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt gewesen.

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Helmut Böhl 26. April 2023 um 13:49

Die Raute bei Werder war ja nicht gerade für defensive Qualität bekannt. Das war oft mehr ein 4-1-3-2, auch weil zu Özils Werder-Zeit Pressing I’m gegnerischen Sechserraum noch eine Nischenerscheinung im deutschen Fussball war. Da passt er dann als halbrechter „Zehner“ ganz gut rein.
Der klassische Zehner verschwand dann ja auch nach und nach während Özils Rolle als im Halbraum schwimmender Kreativspieler quasi exakt so erhalten blieb, aber jetzt den Namen „klassischer Zehner“ bekam. Sprache ist gerade im Fussball permanent in Veränderung, was diese Definitionen sehr schwierig macht.

Worum es in diesem Artikel hauptsächlich ging, war (für mich) die taktische Abweichung vom Narrativ des Schönwetter-Offensiv-Traumtänzers und der allzu klaren Positions- und Rollenfestlegung von Einzelspielern. Besonders die Entscheidung Özil ins Zentrum zu ziehen, wenn man auch den (vermeintlich) defensiv stärkeren Müller neben/um Klose hätte spielen lassen können. Das wäre dem damals noch in sehr vielen Köpfen als ideal verankerten 4-4-2 mit den Kreativspielern risikolos außen deutlich näher gekommen, wäre aber gegen die zentrumsfokussierte Raute der Argentinier wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt gewesen.

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Koom 2. Dezember 2019 um 10:49

Danke dafür. Für mich auch wieder so ein Beweis, dass Özil trotz allen Erfolgen und nachgewiesener Qualität immer ein negativer Ruf anhing und unterschätzt wurde. Özil war extrem diszipliniert und fleissig, ein Teamspieler. Ganz anders, als man es einer feingliedrigen 10 wie ihm normalerweise nachsagt, aber „dank“ seiner schlurfigen Körpersprache, seiner „Andersartigkeit“, wird ihm das immer nachhängen.

Hätten so hochgelobte Teutonen wie Kroos und Müller nur die Hälfte von den Teamfähigkeiten (als Spieler!) von Özil, hätte es das WM2018-Debakel nie gegeben.

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