TEs Bundesliga-Check: Das Ding mit der Überzahl

Julian Nagelsmann stellt mal wieder unter Beweis, warum er als Taktikfuchs gilt – und Tayfun Korkut wirft die Frage auf, in welche Richtung es in Leverkusen gehen soll. Die Bundesliga-Kolumne.

Spielverlagerung-Autor TE sucht sich nach jedem Bundesliga-Spieltag zwei bis drei Aspekte heraus, die er kurz und knackig analysiert. TEs Bundesliga-Check ist der Analysehappen für Zwischendurch – eine Spielwiese für taktische Beobachtungen, die in den “langen” Spielanalysen keinen Platz finden.

Hoffenheim gegen Hertha in Überzahl

Eigentlich ist es ja ganz einfach: Wenn der Gegner eine rote Karte sieht, hat man einen Vorteil. So weit, so richtig. Aber wir auf Spielverlagerung sind schließlich bekannt dafür, den Fußball unnötig zu verkomplizieren. Deshalb geht es heute um die These, dass es aus taktischer Sicht eben nicht so einfach ist, in Überzahl zu spielen.

Das erste Problem ist ein strategisches: Durch eine rote Karte verschiebt sich automatisch das Gleichgewicht eines Spiels. So bedeutet eine rote Karte für einen Abwehrspieler in der Regel nicht, dass der Gegner einen Abwehrspieler weniger auf dem Platz hat. Ein Stürmer oder Mittelfeldspieler rückt zurück bzw. ein neuer Abwehrspieler wird für einen Offensivmann ausgewechselt. Aus einem 4-4-2 oder einem 4-2-3-1 wird ein 4-4-1, aus einem 5-3-2 ein 5-3-1, aus einem 5-4-1 ein 5-3-1 oder gar ein 5-4-0. Die Mannschaft in Unterzahl zieht sich weiter zurück. Folglich wird die Mannschaft in Überzahl wird das Spiel gestalten müssen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht möchte.

Nun ergibt sich aus dem strategischen ein taktisches Problem: Da sich in der gegnerischen Defensive von der Raumaufteilung zunächst einmal wenig ändert, wird nicht automatisch ein Stürmer frei. Gerade im gegnerischen Drittel hat eine rote Karte nur selten einen großen Effekt – der Gegner baut seine Vierer- oder Fünferkette weiter genauso auf wie mit elf Mann. Der Vorteil ergibt sich eher weiter vorne, wo jetzt ein Stürmer oder Mittelfeldspieler im Pressing fehlt. Was sich in den meisten Fällen verschlechtert, ist der Zugriff auf die Abwehr- und defensiven Mittelfeldspieler. Diese Überzahl ist aber recht schwer auszunutzen in der Praxis, gerade wenn ein Team über kein gutes Aufbauspiel verfügt.

Wie man diese Lücken ausnutzen kann, bewies – und damit wären wir beim Bundesliga-Teil der Bundesliga-Kolumne angelangt – die TSG Hoffenheim. Sie gewann am Wochenende mit 3:1 gegen Hertha BSC. Beim Spielstand von 1:1 sah Herthas Linksverteidiger Mittelstädt die gelb-rote Karte. Hertha-Trainer Pal Dardai wechselte mit Ibisevic einen Stürmer aus und stellte vom 4-2-3-1 auf ein 4-4-1 um. Gleichzeitig ließ Hertha das zuvor praktizierte hohe Pressing bleiben und zog sich an den eigenen Strafraum zurück. Dort änderte sich zunächst nichts an der Systematik: Zwei Viererketten sicherten den Raum vor dem eigenen Strafraum.

Wo sich etwas änderte, war weiter vorne: Esswein sicherte als einziger Stürmer den Rückraum ab. Die Räume neben Esswein blieben dadurch frei. Auf Hoffenheimer Seite wurden also keine Stürmer frei – sondern die beiden Halbverteidiger der Dreierkette. Ihnen stand kein Herthaner mehr gegenüber. Süle und Hübner schoben vor und wurden zum Fixpunkt des Hoffenheimer Spiels im Rückraum. Gut ist dieser Mechanismus anhand der Szene zu erkennen, die zum 2:1 führte:

Hoffenheim Aufrücken gegen Hertha

Die Szene vor dem 2:1: Süle und Hübner rücken von ihren angestammten Positionen nach vorne. Sie bewegen sich in die Lücken neben dem Herthaner Stürmer. Süle markierte in dieser Szene wenige Sekunden später das 2:1 per Fernschuss.

Im Endeffekt ergibt sich aus taktischer Sicht nach einer roten Karte das gleiche Problem wie sonst auch: Man muss die freien Räume der gegnerischen Formation erkennen, anvisieren und mit den passenden Spielern besetzen. Dass Nagelsmann dies beherrscht, ist kein Geheimnis. Er bewies es erneut gegen Hertha.

Leverkusen – das große Fragezeichen

Ich hatte mir für diese Kolumne vorgenommen, etwas zu Bayer Leverkusen zu schreiben. Tayfun Korkut ist nun seit einigen Spielen Trainer in Leverkusen, und ich dachte: Da lässt sich sicher ein Thema finden. Also habe ich mir das Leverkusener Spiel gegen Wolfsburg angeschaut. So verrückt der Spielverlauf mit dem schlussendlichen Ergebnis von 3:3 war: Aus taktischer Sicht gibt es nicht viel zu vermelden.

Anders formuliert: Korkuts Taktik ist nicht so fürchertlich interessant, als dass man mit einer taktischen Analyse Bayers Preise abräumen könnte. Die Grundsystematik von Vorgänger Roger Schmidt, das 4-4-2, bleibt auch unter Korkut erhalten. Auf das Pressing in der gegnerischen Hälfte verzichtet man, was sich vor allem in der tieferen Position der Außenstürmer zeigt. Sie halten sich zurück und verfolgen die Läufe der Außenverteidiger, anstatt aktiv ins Pressing überzugehen. Leverkusen konzentriert sich stärker auf das Verschieben, anstatt den Zugriff zu suchen. Die Stürmer sollen die diagonalen Passwege blockieren, der Gegner möglichst keinen Raumgewinn durch das Zentrum verbuchen können. Gegen Hoffenheim funktionierte dies in der ersten Halbzeit gut, als man das gewohnt-diagonale Spiel der Hoffenheimer lahmlegte.

Dieser passivere Ansatz setzt sich auch bei eigenem Ballbesitz fort. Der Ball wird im Spielaufbau wesentlich häufiger quer oder auch mal nach hinten gespielt. Überhaupt ist die gesamte Spielanlage konservativer: Die Außenverteidiger stehen etwas tiefer, die Sechser lassen sich abwechselnd fallen, die Flügel werden bei Angriffen doppelt besetzt. Gegen Wolfsburg suchten sie auch häufig den langen Ball auf Stefan Kießling.

So ähnlich die Systematik gegenüber Roger Schmidts Vollgasfußball ist – in strategischer Hinsicht könnte der Unterschied kaum größer sein. Leverkusen spielt wesentlich langsamer, kontrollierter, weniger aggressiv. Wenn es gut geht, wie in der ersten Halbzeit gegen Hoffenheim, kann man den Gegner schachmatt stellen und ihm ein langsames Spiel aufzwingen. Wenn es schiefgeht, wie in der zweiten Halbzeit gegen Wolfsburg, schläfert sich Bayer selbst ein. Es war interessant zu beobachten, wie Wolfsburg nach dem 0:2 immer mehr Spieler nach vorne warf, immer wilder agierte – und Leverkusen darauf so gar nicht reagierte. Am Ende hatten sie eher Glück, dass Wolfsburg nach dem Gomez-Hattrick selbst überdrehte und nicht sofort in eine kompakte Grundordnung zurückkehrte. So konnten sie noch einen Punkt retten.

Als ganz subjektive Note muss ich leider gestehen, dass ich Leverkusen-Spiele momentan eher auslasse. Wenn Wolfsburg da gestern nicht plötzlich aufgedreht hätte, das Spiel wäre jetzt schon wieder vergessen. Bleibt die Frage, ob Korkut diesen Weg fortsetzt oder noch einen Pfeil im Köcher hat, um die Leverkusener Verantwortlichen von sich zu überzeugen.

Englische Woche

Zum Abschluss noch eine amtliche Durchsage in eigener Sache: Ich bin am Donnerstag in Nürnberg anzutreffen. Am Abend diskutiere ich u.a. mit U17-Nationaltrainer Christian Wück über die Taktik beim 1. FC Nürnberg. (Ja, auch der Club spielt mit einer Taktik. Ob diese so gut ist, werden wir bei einer Podiumsdiskussion klären.) Leider sitze ich dadurch am Donnerstag und am Freitag im Zug von Hamburg nach Nürnberg und zurück. Die Bundesliga-Kolumne muss daher leider ausfallen. Ihr dürft jetzt traurig sein.

Ausführliche Analysen des 26. Spieltags

Hamburger SV – 1. FC Köln 2:1
RB Leipzig – SV Darmstadt 4:0

tobit 6. April 2017 um 14:06

Mir sind beim Spiel der Gladbacher gegen die Hertha ein paar Dinge aufgefallen, zu denen ich gerne eure Meinung hören würde:
1. Die permanente Dreiecksrotation zwischen Stindl (LS), Hazard (RS) und Herrmann (RA): Die drei spielten sehr fluide zwischen den Stürmerpositionen und RA. Stindl fiel insbesondere bei längeren Ballbesitzphasen häufig rechts neben die Doppelsechs zurück und bildete mit Dahoud und Benes ein Dreiermittelfeld. Hazard fiel deutlich seltener zurück, sondern wich sehr aktiv auf die Flügel aus. Herrmann und Linksaussen Hofmann besetzten dafür häufig die Spitze. Während Hofmann dabei eher als vorstoßender LA auf den linken Flügel und Halbraum beschränkt blieb, übernahm Herrmann häufig auch für längere Phasen eine zentrale Position, wodurch dann Stindl häufiger als RA verteidigte oder auch in einigen Situationen von rechts zu Halbfeldflanken kam.
Gab es diese Stilmittel schon öfter zu sehen? Sah sehr interessant aus und kam Stindls Weiträumigkeit und Präsenzsuche sowie Herrmanns Tordrang bzw. Raumöffnerqualitäten ziemlich entgegen, die dadurch große Freiheiten bekamen, während Hazard zeitweise Probleme hatte, sich konstant am Spiel zu beteiligen. Später im Spiel (besonders nach Traores Einwechslung) zog dann auch Hofmann immer öfter durch den Zehnerraum nach rechts rüber (und Hazard wich stärker ballfern nach links aus), was ihm einige Präsenz in der Nähe von Stindl verschaffte.
2. Wendts Positionierung in manchen Situationen: Die linke Gladbacher Abwehrseite wirkte besonders bei Kontern, aber auch aus dem Spiel heraus, sehr offen. Da musste dann einige Male Vestergaard dann gegen Haraguchi oder Esswein in höchstem Tempo verteidigen, weil Wendt irgendwie komisch hoch stand oder mit ein, zwei Pässen überspielt wurde. Auch im Spielaufbau stand Wendt manchmal etwas weit vorne (oder die IV zu eng?), so dass dann der Ball gezwungenermaßen nach rechts oder auf Benes und Dahoud mit Gegner im Rücken ging (die dann nur prallen lassen konnten). Elvedis Positionierung im Spielaufbau passte da meist besser, da er im früheren Aufbau tiefer blieb um dann später weit nach vorne zu stoßen. Dass es hier besser passte, kann aber auch an der etwas stärker fokussierten rechten Seite, den individuell besseren Aufbauspielern um ihn herum oder dem defensiv weniger aktiven/effektiven Kalou gegenüber Esswein auf der anderen Seite gelegen haben, da die tatsächliche Höhe im Feld der AV (nach dem ganz frühen Aufbau) relativ ähnlich war.
3. Die Pressingbewegungen der Doppelsechs bzw. des ganzen Mittelfelds: Im Normalfall rückte einer der Sechser, meist Dahoud, bei Abstößen (oder anderen statischen Situationen) auf einen der gegnerischen Sechser heraus und stellte diesen kurz mannorientiert zu. Sobald dann auf die AV gespielt wurde, zog sich Dahoud dann wieder zurück, was manchmal ein kleines Loch hinter den relativ hoch anlaufenden Stürmern hinterließ, aus dem die Berliner aber kaum Kapital schlagen konnten (auch weil die neuformierte Doppelsechs Darida/Skjelbred noch nicht perfekt im Takt miteinander spielte). In der ersten Halbzeit war Benes in einigen Situationen mit hohem Dahoud ziemlich verloren im eigenen Sechserraum, stand da teilweise selbst auch relativ hoch oder etwas zu weit links, was potentiell den Zwischenlinienraum (für Kalou und/oder Stocker) öffnete. Nach der Pause wirkte dann die Mittelfeldreihe insgesamt kompakter, da Benes tiefer und zentraler (und dort vor allem meist richtig gut) stand und die Flügelstürmer etwas enger spielten. gerade Hofmann rückte ein paar Mal weiter ein, was dann aber die Absicherung des Flügels von Wendt verlangte, der hier unsicher wirkte.

Antworten

tobit 5. April 2017 um 13:22

Schade, dass es zum aktuellen Spieltag keinen Check gibt.

Und schade, dass die Anpassung der Hoffenheimer nach der tollen Einleitung so kurz (für mich deutlich zu kurz) abgehandelt wird. Es gab doch sicher mehr Szenen als nur das 2:1, auf die man da hätte eingehen können. Oder auch, warum Hertha dann Esswein als Stürmer vorne lässt statt Kalou, den ich eher erwartet hätte. Dieser Teil wirkt irgendwie unvollendet (Man ist von euch einfach zu hohes Niveau gewohnt).

Der Abschnitt zu Leverkusen ist auch eher allgemein gehalten, aber zeigt finde ich gut die Veränderungen der letzten Wochen auf.
Auch die generelle Problem der Korkut-Teams tauchen gut beschrieben wieder auf. Den Ball, aber nicht pressen wollen. Flexibel (und) offensiv spielen wollen, aber sich nicht an den Spielverlauf anpassen zu können (oder wollen?).

Antworten

Phil 4. April 2017 um 17:37

Dann schreib doch im Zug! Wenn es dir das nicht Wert ist, hast du die Bundesliga-Kolumne nie geliebt…

Antworten

Rjonathan 4. April 2017 um 13:10

Ich auch.

Antworten

Camp Mou 3. April 2017 um 20:15

Ich bin jetzt traurig.

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