Als kurz die Zeit still stand
Spätestens im Achtelfinale der Champions League 2005 entstand die große Rivalität zwischen Chelsea und dem FC Barcelona. Überschattet wurde das Rückspiel noch von einem verrückten Brasilianer.
Nachdem der FC Barcelona in der Gruppenphase zuvor lediglich auf Platz zwei hinter AC Milan landete, war klar dass das Team von Frank Rijkaard auf einen Hochkaräter in der ersten KO-Runde treffen würde. Mit dem Chelsea FC war ausgerechnet jener Klub, der seit wenigen Jahren unter der Ägide des russischen Oligarchen Roman Abramovič eine Startruppe aufbaute und mit José Mourinho auch einen Startrainer an der Seitenlinie hatte, der in der Vorsaison noch die Königsklasse mit dem FC Porto gewann, zugelost worden. Mourinho, der zwischen 1996 und 2000 Co-Trainer unter Bobby Robson und Louis van Gaal bei den Katalanen war, hatte ein ambivalentes Verhältnis zu Barcelona. Einerseits war es eine Art Traumverein für ihn, andererseits heizte er damals nicht zum letzten Mal die Stimmung gegen Barça an.
Das Hinspiel des Achtelfinals, das Barcelona mit 2:1 im eigenen Stadion für sich entscheiden konnte, war nicht ganz unschuldig. Chelsea mauerte eigentlich die meiste Zeit über, während die Hausherren insgesamt 34 Schüsse abgaben, aber zur Halbzeit aufgrund eines Eigentores hinten lagen. Eine rote Karte von Schiedsrichter Anders Frisk gegen Didier Drogba sollte das Spiel entscheidend beeinflussen, sehr zum Unmut Mourinhos. Die Einwechslung des argentinischen Angreifers Maxi López brachte die endgültige Wende. Der großgewachsene Blonde traf zum Ausgleich und bereitete mit einem weiteren Schuss den Siegtreffer von Samuel Eto’o vor.
So fuhr Barça folglich mit einer 2:1-Führung im Rücken an die Stamford Bridge. Die Blues hatten allerdings ein Auswärtstor zu Buche stehen. Barcelonas Trainer Frank Rijkaard änderte im Vergleich zum Hinspiel auf drei Positionen seine Startaufstellung. In der Innenverteidigung ersetzte der überzeugte Katalane Oleguer den Mexikaner Rafael Márquez. Auf der Sechserposition bekam Gerard López anstelle des italienischen Routiniers Demetrio Albertini seine Chance. In der Angriffsreihe erhielt derweil der junge Andres Iniesta den Vorzug gegenüber Ludovic Giuly. Der kleine Franzose war im Vorjahr noch ein Hauptverantwortlicher für den Finaleinzug des AS Monaco. Iniesta hingegen machte in dieser Saison vollends auf sich aufmerksam. Gerade im Dezember 2004 bekam er in der Liga regelmäßig Startelfeinsätze und war ansonsten meist eine der ersten Wechseloptionen für Rijkaard.
Bei den Blues veränderte Mourinho seine Startformation zugunsten einer offensiveren Einstellung. Statt dem 4-2-3-1 des Hinspiels agierte Chelsea nämlich nun meist in einer Mischung aus 4-4-1-1 und 4-2-2-2. Sechser Tiago musste Platz machen für den serbischen Angreifer Mateja Kežman, der an der Seite von Eiður Guðjohnsen, dem Ersatzmann für den gesperrten Drogba, seine Kreise zog. Dafür rückte Frank Lampard ein Stück weiter nach hinten. Über die Außenbahnen kamen Damien Duff und Joe Cole. Letzterer vertrat den verletzten Arjen Robben. Viele Beobachter befürchteten einen leistungstechnischen Abfall nach der Verletzung des Niederländers. Diese Kritik nahm sich Cole zu Herzen. Er traf nicht nur am Wochenende vor diesem Achtelfinalrückspiel beim Sieg in Norwich mit einem traumhaften Tor, er spielte auch gegen Barcelona brillant auf.
Früher Treffer
Chelsea begann die Partie mehr oder weniger mit einem Feuerwerk. Mourinhos Team versuchte vor allem, den Spielaufbau der Gäste zu bearbeiten und nicht zu viele Pässe zu Ronaldinho und Co. in die höheren Zonen kommen zu lassen. Die Londoner pressten anfangs im 4-4-2, wobei die beiden Angreifer vorn sehr früh auf Carles Puyol und Oleguer zuliefen, während Gerard nur sehr selten zwischen die beiden Innenverteidiger in der Anfangsphase abkippte. Im zweiten Drittel war derweil Ricardo Carvalho extrem auffällig. Denn der rechte Innenverteidiger rückte mehrfach aus der Kette heraus, um Ronaldinhos Abkippbewegungen im Halbraum zu verfolgen und so bei Ballannahmen des Brasilianers sofort in dessen Rücken präsent zu sein.
Barcelona griff zunächst sehr linkslastig an. Sowohl Xavi und Ronaldinho hielten sich meist im linken Halbraum auf und Deco rückte ebenso mehrfach auf diese Seite. Normalerweise wurde zu jener Zeit diese Überladung dazu genutzt, um nach einer kurzen Kombination ballfern den Flügelstürmer Guly anzuspielen, der dann mit Tempo und Freiraum auf die Abwehr zu gehen konnte. Jedoch zog es Iniesta wohl auch aufgrund der intuitiven Balancebewegungen infolge von Decos Verschieben etwas nach innen. Einige nervöse Ballannahme zu Beginn ließen den 21-Jährigen zunächst wirkungslos erscheinen.
In der achten Minute traf unterdessen Chelsea zur Führung. Xavi rutschte halblinks in einem offensiven Umschaltmoment aus. Lampard erkannte sofort die Situation und spielte den übernommenen Ball steil auf Kežman. Der Serbe pendelte offensiv meist leicht hinter Guðjohnsen und wich vielfach auf die Flügel aus. In diesem Fall sprintete er die rechte Außenbahn entlang. Seine Flanke erreichte den isländischen Sturmkollegen, der nach einem weiteren Haken das Spielgerät an Victor Valdés über die Linie drückte.
In der Folge hatte Barça gewiss mehr vom Ball – die Ballbesitzquoten schwankten zwischen 63 und 67 Prozent –, aber Chelsea wirkte zunehmend gefährlich. Insbesondere auf der rechten beziehungsweise halbrechten Seite konnten Cole sowie Lampard mehrfach Ballgewinne erzwingen und schnell hinter Gerard spielen, der bei den katalanischen Angriffen häufig sehr frühzeitig aufrückte. Da außerdem Kežman rechts auftauchte, erlebte der defensiv limitierte Linksverteidiger Giovanni van Bronckhorst eine Albtraumhalbzeit. Nachdem er mit einer gelben Karte verwarnt worden war, ersetzte ihn Rijkaard zur Halbzeit mit Sylvinho.
Die frühe Führung für Chelsea brachte ebenso mit sich, dass die Blues von da an eher im 4-5-1 verteidigten. Guðjohnsen rückte zentral an die Seite von Lampard, während Kežman vorn der Soloangreifer blieb. Seine Geschwindigkeit war im Umschaltmoment von Vorteil. Da zudem Claude Makélélé immer wieder als Absicherung in den Zwischenlinienraum vor der Abwehr zurückfiel, wurde es de facto ein 4-1-4-1-Pressing auf Seiten von Chelsea. Die Herausrückbewegungen von Duff und Cole brachten die aufrückenden Außenverteidiger von Barça in deren Deckungsschatten. Alles schien zunächst auf eine Verteidigung des Vorsprungs, der das Weiterkommen bedeutet hätte, hinzudeuten.
Chelsea spürte das Momentum
Doch ein Doppelschlag brachte Chelsea in die Luxusposition. In der 17. Minute lief Cole gegen van Bronckhorst auf der Außenbahn an. Der Engländer zog nach innen und probierte einen Schuss von außerhalb des Strafraums. Der Ball wurde abgefälscht, sodass Valdés nur mit größter Mühe überhaupt den Schuss parieren konnte. Lampard schob aber den Abpraller ein.
Gerade einmal zwei Minuten später erhöhte Chelsea auf 3:0. Eto’o verlor im eigenen Zehnerraum dabei das Spielgerät bei einer versuchten Drehung. Die lose Kugel wurde vom herausrückenden Carvalho sofort per Steilpass in Richtung Kežman geschickt. Der Serbe ließ den Ball wunderbar nach hinten prallen. Joe Cole nutzte in eingerückter Position sofort die Situation und spielte einen direkten Pass in die Schnittstelle halblinks. Duff kam von außen und schloss direkt ab. Vier direkte Kontakte genügten Chelsea um rund 70 Meter Feld zu überbrücken. Nicht nur die Stamford Bridge stand Kopf.
Nach der dominanten Vorstellung Barcelonas im Camp Nou war auf einmal der englische Tabellenführer insgesamt klar mit 4:2 in Front. Rijkaards Mannschaft beging den Fehler, sich auf die Intensität von Chelsea einzulassen. Dadurch wurden sie sehr unsauber in der Positionierung und ließen gewaltige Lücken. Hinzu kam, dass Barça sowieso sehr riskant in dieser Zeit spielte. Die sehr frühen Aufrückbewegungen, wodurch oftmals nur die beiden Innenverteidiger ganz hinten blieben und auf sich allein gestellt waren, schienen manchmal wie Russisch Roulette. Immerhin hatten die Katalanen vor dieser Partie in sieben Champions-League-Spielen sechsmal wenigstens ein Tor kassiert.
Traumtor à la Ronaldinho
Schlussendlich war es eine eher unscheinbare Situation, die Barcelona wieder zurück ins Spiel brachte. Die anstürmenden Katalanen erhielten in der 27. Minute einen Elfmeter. Nach einer Flanke von Juliano Belletti ging Paulo Ferreira gegen Eto’o ins Kopfballduell und berührte dabei den Ball mit der Hand. Ronaldinho nutzte die Gelegenheit und traf zum 1:3.
Anschließend wurde Chelsea noch passiver und Barcelona lief noch risikoreicher an. Gerard beispielsweise rückte von nun an sehr oft in den Zehnerraum auf. Der 1,86 Meter große Mittelfeldspieler war immerhin auch der einzige Barça-Akteur der vergleichsweise körperlich imposant wirkte. Jedoch zeigte Gerard immer wieder Ungenauigkeiten im Passspiel, sodass manche Angriffe bei ihm ihr Ende fanden. Die Blues versuchten ihre Gesamtführung zumindest in die Halbzeitpause zu retten. Doch daraus wurde nichts.
38. Minute: Eine Barcelona-Flanke von rechts wird von der Chelsea-Abwehr nur kurz abgewehrt. Iniesta legt direkt vorm Strafraum auf Ronaldinho ab. Der Brasilianer steht vorm ruhenden Ball, beobachtet von Carvalho, Gallas und Co. Zwei, drei kurze Hüftschwünge und auf einmal landet die Kugel im Netz. Ansatzlos hatte Ronaldinho das Spielgerät mit der Fußspitze in die linke Torecke befördert. Es schien, als stand die Zeit für einen kurzen Moment still. Chelseas Verteidiger inklusive Petr Čech waren wie hypnotisiert von der Magie des Künstlers und damals weltbesten Fußballers.
Bis zur Halbzeitpause gab es noch Chancen auf beiden Seiten, aber jeweils ohne Erfolg. Puyol zeigte im Aufbau seine Spielintelligenz. Da er zusammen mit Oleguer vermehrt isoliert wurde, drohten sie Opfer von mannorientierten Attacken zu werden. Deshalb löste der Kapitän mehrfach die Abwehrlinie auf und bewegte sich vor Oleguer, um einige Passwinkel und gegebenenfalls Dreiecke zu erzeugen. Zur Halbzeit stand ein Verhältnis von 6:5 Schüssen auf die Tore zu Buche. Chelsea führte auch auf der Anzeigetafel, war aber im Moment ausgeschieden.
Dramatik nach dem Seitenwechsel
Nach der Halbzeitpause gingen die Blues wieder in einer 4-4-2-Pressingformation gegen Barcelona vor. Außerdem hatte Mourinho beide Außenverteidiger angewiesen, stärker in der Offensive Präsenz zu zeigen, was vor allem an Gallas‘ Läufen auf der linken Außenbahn deutlich wurde. Der bei der Elfmetersituation mit einer gelben Karte verwarnte Ferreira wurde nach kurzer Zeit durch Glen Johnson ersetzt.
Bei Chelsea schalteten sich zudem die beiden Innenverteidiger immer häufiger in die Angriffe ein. Läufe von John Terry zum Beispiel wurden jeweils von Makélélé abgesichert. Doch der Franzose war zudem ein wichtiger Faktor im Gegenpressing. Nach Ballverlusten konnte er oft umgehend die offensiven Umschaltbewegungen Barças stoppen.
Auf Seiten der Katalanen gab es einen Seitentausch zwischen Xavi und Deco. Letzterer hielt sich näher bei Ronaldinho auf, während Xavi zentral oftmals eher an der Seite von Gerard zu finden war. Rijkaard wollte damit auch die Räume um den nominellen Sechser besser verteidigen und Chelsea nicht ständig zu Steilpässen kommen lassen. Zudem orientierten sich Deco und Ronaldinho häufiger am linken, offensiven Halbraum, weil dieser bei Chelsea etwas geöffnet blieb.
In der Viertelstunde nach der Pause kamen beide Teams zu Großchancen nach Eckstößen, welche jedoch jeweils von Čech beziehungsweise Valdés pariert wurden. Barcelona übernahm unterdessen wieder die Kontrolle über die Partie. Die Katalanen entnervten Chelsea mit längeren Ballstafetten, wofür sie jedoch auch immer mehr Raum fanden. Eto’o konnte häufiger isolierte Dribblings gegen einzelne Chelsea-Verteidiger starten, während die Blues auf der anderen Seite recht harmlos wirkten. In tieferen Pressingphasen zog sich Guðjohnsen stets ins Mittelfeld zurück. Die Folge war ein weitestgehend auf sich gestellter Kežman, der bei Kontern die einzige Anspielstation blieb und damit vergleichsweise leicht zu verteidigen war.
In der 74. Minute hätte Barcelona bereits die Partie entscheiden können. Nach einem Iniesta-Dribbling nach innen landete der Schuss des Youngsters am Pfosten. Den Nachschuss jagte Eto’o vorm halbleeren Tor auf die Tribüne. Nur zwei Zeigerumdrehungen später war es dann Chelsea, das die eigene Gefährlichkeit bei Standardsituationen nutzte. Ein Eckball landete bei Terry, der sich in der zweiten Reihe auf Höhe des Elfmeterpunkts zum Ball bewegte. Gegenspieler Gerard rückte zu spät heraus. Der lange Kopfball des Chelsea-Kapitäns landete im Netz, wobei Valdés auf der Linie leicht von Carvalho festgehalten wurde.
In der Schlussphase stellte Rijkaard auf eine Dreierkette um, indem er Guly für Belletti einwechselte und Sylvinho fortan als offensiver Halbverteidiger agierte. Konträre Wechsel beider Trainer – Robert Huth für Duff sowie Maxi López für Iniesta – setzten die Grundvoraussetzung für eine Schlussphase, in der Barça zunehmend zum langen Ball griff. Das war ein Territorium, auf dem sie sich nicht wohl fühlten und folglich auch erfolglos blieben. Mourinho hatte gesiegt. Chelsea war in der nächsten Runde und sollte erst in einem dramatischen Halbfinale gegen Liverpool ausscheiden, nachdem man Bayern München mit insgesamt 6:5 ausgeschaltet hatte.
Die ausverkaufte Stamford Bridge sah ein aufregendes Spiel mit einem Traumtor Ronaldinhos und schlussendlich dem Weiterkommen der Heimmannschaft. Mourinhos Team verstand es in diesem Duell, die physische Überlegenheit so gut es ging auszuspielen, während sich Barcelona auf den Schlagabtausch mehr oder weniger einließ, was sicherlich durch das damalige Fehlen von Rafa Márquez und Edmílson die Siegchancen nicht unbedingt steigerte. Rijkaard vertraute seinen offensiven Individualisten, war jedoch weit davon entfernt, die Passzirkulationen so bewusst und effektiv einzusetzen, wie es später Pep Guardiola tat.
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