Türchen 17: Oliver Kirch
Mit 30 Jahren vom absurden Billigtransfer aus dem Abstiegskampf zum Leistungsträger in der Champions League: Oliver Kirch ist ein Musterbeispiel für einen unterschätzten Fußballer. Zum Glück darf er seine übersehenen Fähigkeiten auf die alten Tage noch einmal auf der großen Bühne unter Beweis stellen.
Wenn man sich so viel mit Fußball beschäftigt wie wir bei Spielverlagerung, findet man mit der Zeit viele Spieler, die man mag. Gerade bei solchen, bei denen man es anhand ihres Status‘ nicht erwartet, freut man sich schon mal über das „Fundstück“. In manchen Fällen geht die eigene Einschätzung und die der Öffentlichkeit aber so weit auseinander, dass man dem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr so recht vertrauen kann. Umso schöner, wenn sich diese Spieler dann gegen die öffentliche Erwartung durchsetzen.
Suddenly Oli
So geschehen im Falle von Oliver Kirch, der im Sommer 2012 zur allgemeinen Verwunderung vom abgestiegenen 1. FC Kaiserslautern zum frischgebackenen Doublesieger Borussia Dortmund wechselte. Da Kirch sich damals mit 29 schon im fortgeschrittenen Fußballalter befand und bei seinen Stationen in Mönchengladbach, Bielefeld und Kaiserslautern nicht sonderlich aufgefallen war, erschien der Transfer willkürlich. Niedriges Gehalt und Ablösefreiheit machten aus dem gebürtigen Soester jedoch eine wenig riskante Anlage. Jürgen Klopp begründete den Transfer darüber hinaus mit dem hohen Tempo von Kirch, der ähnlich wie Piszczek auf dieser Basis zum Rechtsverteidiger umgeschult werden sollte. Außerdem war Kirch seit jeher großer Fan des BVB.
Ich kannte Kirch zu diesem Zeitpunkt kaum und staunte in den ersten Testspielen daher ungläubig über die kreativen Fähigkeiten des gelernten Sechsers. Kirch trieb das Spiel von rechts mit sehr vielseitigen Aktionen an. Er rückte spielmachend in die Halbräume, dribbelte diagonal, spielte druckvolle Pässe in den Zwischenlinienraum, zeigte starke, weiträumige Flanken, eine ungewöhnlich saubere Ballverarbeitung und nebenbei auch noch eine wirklich beeindruckende Dynamik. Es war beinahe ein Kulturschock im Vergleich zu Piszczek, der in der Vorsaison mit neu gewonnener Durchschlagskraft eine der wichtigsten Waffen der Dortmunder Offensive geworden war, aber deutlich linear (und taktisch limitierter) agierte.
Wegen einer Verletzung Piszczeks kam Kirch auch direkt zur Saisoneröffnung zum Einsatz in der Viererkette, doch offenbarte ein paar taktische Probleme in der Defensivarbeit auf der ungewohnten Position. Anschließend wurde es erst einmal still um ihn und der Überraschungstransfer schien sich so weit unten in der Hierarchie der Mannschaft einzuordnen, wie das die meisten erwartet hatten. Nach einer ersten Saison mit wenig Einsatzzeit entschloss sich Dortmunds Trainerteam dann, ihn doch auf seiner alten Position im defensiven Mittelfeld in den Kader zu integrieren. Das quittierte er bei einem Pokaleinsatz im Winter gegen Saarbrücken mit einer beeindruckend dominanten und antreibenden Partie als Spielmacher, die erste (*hust* bzw. „zweite“) Fürsprecher auf den Schirm rief.
Es brauchte aber noch ein paar Monate und eine 3:0-Niederlage in Madrid bis er auch auf höherem Niveau und vor größerem Publikum seine Chance erhielt. Im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League blieben Kehl und Sahin auf der Bank. Stattdessen lief Kirch neben/hinter Jojic als Sechser vor der Abwehr auf, um Benzema, Ronaldo und Co. zu bespielen und zu bekämpfen. Und ganz Deutschland so: Wo haben die den Verrückten jetzt wieder her gezaubert? (Ganz Deutschland? Nein: Ein kleines taktisches Dorf hört nicht auf, dem Mainstream Widerstand zu leisten. Kleiner Spaß, aber wir sind ja im Adventskalender der SV-Lieblinge.)
Anschließend meisterte er auch andere Rollen mit Bravour und erlangte mehr Bedeutung im Team und Ansehen bei den Dortmunder Fans, sogar ein bisschen Kultstatus wegen seines unerwarteten, kometenhaften Aufstiegs. Beim Pokalfinale saß ich in einer Dortmunder Kneipe und bei Kirchs Einwechslung beginnt plötzlich der ganze Nebentisch euphorisch „OLI! OLI! OLI!“ zu skandieren, was anschließend bei jeder gelungenen Aktion wiederholt wurde. Beste. Sache. Überhaupt.
Pressingsprinter Kirch
Bei seinem öffentlichkeitswirksamen „Durchbruch“ gegen Real beeindruckte Kirch hauptsächlich mit seinen Abräumerfähigkeiten. Dabei besticht er besonders durch seine Dynamik, mit der er sehr weiträumig auf die Räume um sich herum Zugriff aufbauen kann. Kirchs Antritt ist stark, seine Endgeschwindigkeit noch stärker. So kommt er sehr gut in alle Arten von Zweikämpfen und kann sich in diesen auch gut behaupten. Dabei ist er ruhig und intelligent, doch trotzdem bissig in der Ausführung der Defensivaktionen und ohnehin sehr laufstark. Das macht ihn zu einer hervorragenden Besetzung für großräumige Rollen wie als alleiniger Sechser (z.B. gegen Real) oder als weit herausrückender Achter (wie zum Beispiel gegen Essen in der Saisonvorbereitung). Auch auf der Halbposition einer Raute oder im 3-3-4 kämen diese Abräumerfähigkeiten gut zur Geltung.
Seine hohe Reichweite führt aber auch dazu, dass Kirch zuweilen etwas schlampig mit Abständen und Räumen umgeht. Er verhält sich gruppentaktisch zwar gut und intelligent, doch nicht ganz so aufmerksam und sauber wie andere Pressingspezialisten der Borussia. Zudem ist die Balance in seinen Entscheidungen bei einer hohen Grundaggressivität nicht immer ausgewogen. Das waren wohl wichtige Punkte dafür, dass Klopp ihn lange Zeit auch als Mittelfeldspieler kaum mehr berücksichtigte. Diese kleineren Defizite kann Kirch aber mit seiner Dynamik gut kompensieren und zudem hat er sich in den letzten zwei Jahren weiterentwickelt, sodass er seinen Rhythmus an seine Rolle anpassen kann und konstanter spielt.
Pressingresistenz und modernes Spielmachertum
Inkonstanz prägte auch ein wenig seine offensiven Fähigkeiten, bei denen man Kirch anmerkt (bzw. anmerkte), dass er grundsätzlich sehr begabt ist, aber nicht so gut ausgebildet wie die jüngere Generation. Seine Sichtfelddrehungen auf der Sechs sind manchmal ein bisschen unvorsichtig und fast unkontrolliert schwungvoll. Vereinzelt streute er auch unkonzentrierte Fehlpässe oder Ballverluste ein.
Das ist aber Kritik auf richtig hohem Niveau. Sein technisches Spiel vor der Abwehr hat nicht dauerhaft die Perfektion eines Gündogan, doch geht schon häufig in diese Richtung. Er gestaltet die Ballverteilung sogar noch druckvoller und weiträumiger als sein Mannschaftskollege. Dabei ist er verbindender, unterstützender und geschickter im Umgang mit der Struktur als zum Beispiel Sahin.
Generell ist er gruppentaktisch veranlagt. Seine Freilaufbewegungen sind meist klug und seine Entscheidungen sind von einer strategischen Entschlossenheit geprägt, die in dieser Mischung ungewöhnlich ist. Er fokussiert sich entschlossen auf Freiräume im Zentrum und den Halbräumen und sucht diese mit straffen Pässen oder Kombinationsansätzen; sehr konstruktiv, sehr diagonal, sehr dynamisch.
Seine Pressingresistenz hat hohes Bundesliga-Niveau und im Grunde sogar Potential zu mehr. Mit seiner Dynamik kann er kleinere Unsauberkeiten normalerweise problemlos korrigieren und bei passender Einbindung wäre es durchaus möglich, dass er sich mit durchschlagenderen Dribblings auch in höhere Bereiche einschaltet. Dann könnte er seine Dynamik auch vermehrt noch für Bewegungen in den Strafraum einbringen, die auch eine Qualität von ihm sind. Ich würde ihn ja auch gerne mal als tief einrückenden Linksaußen sehen.
Superspätstarter
Was angesichts dieser tollen Fähigkeiten offen bleibt, ist die Frage, wie es Oliver Kirch gelang, bis kurz vor Karriereende ein Schattendasein in den Niederungen der Bundesliga zu fristen. Mit seinen breit gefächerten Fähigkeiten scheint er ein Spieler zu sein, der eigentlich in jeder Umgebung gut zurechtkommen müsste.
Vielleicht ist es ein bisschen wie bei Danny Latza, dass er ein zu kompletter Spieler ist, um richtig eingeordnet zu werden. So sahen ihn vielleicht einige als unkonventionellen und teils übermütigen Außenverteidiger, während andere einen athletischen Abräumer und wieder andere einen Spielmacher in ihm sahen. Wie wertvoll es ist, diese Fähigkeiten so miteinander zu vereinen, mag vielen nicht klar sein, da im Fußball häufig extrem in vorgefertigten Mustern gedacht wird bzw. wurde. Schaut man in der Fußballgeschichte zehn Jahre zurück und sieht sich die damaligen Positionsprofile an, fehlt Kirch vielleicht etwas Simplizität und Robustheit für die standardmäßigen Rollen. Die reduzierte Nutzung des Zehnerraums und die eher passiven Defensivsysteme ließen seine wichtigsten Stärken sicher zu einem gewissen Maß ersticken.
Für den BVB kann er hingegen enorm wichtig sein. Die aktuelle Krise ist auch eine Geschichte davon, dass sich Kirch vor dem ersten Spieltag verletzte. Mit ihm hat Dortmund keinen dynamischen Mitläufer verpflichtet, sondern einen Antreiber, der mit seiner Mischung aus Tempo, Abräumerqualitäten und Spielmacherfertigkeit problemlos unterschiedlichste Rollen im ganzen Mittelfeld spielen kann.
Um noch das Adventskalender-Bildchen aufzuklären: Kirch ist wohl der einzige Spieler, der spielverlagerungsintern zwei Spitznamen hat. Die Entstehungsgeschichte davon hat was mit den Nutella-Vorräten von Kollege RM zu tun und wäre überhaupt nicht witzig (oder annähernd nachvollziehbar), wenn ich sie vollständig ausführen würde. Jedenfalls rufen wir ihn seit geraumer Zeit „Oli Toast“ bzw. einfach nur „Toooost“. Wieso das irgendwie passend ist, wussten wir bisher nicht so genau, aber User LdB hat in den Kommentaren eine sehr gute Erklärung aus dem Ärmel geschüttelt, auf die wir uns einigen können.
22 Kommentare Alle anzeigen
em es 8. Juli 2015 um 23:42
Hoffentlich bekommt er dieses jahr nochmal gelegenheiten seine fähigkeiten zu zeigen .
Weiß jmd warum er gegen kawasaki nicht gespieltbhat ?
deadflowers 21. Dezember 2014 um 18:51
System und Personal wie hier auf der Grafik müssten es doch sein, was in der Rückrunde die Wende schafft. Das 4-1-4-1/4-4-2-Mischsystem hat ja gerade im Ballbesitzspiel besser funktioniert. Auch die Spieler, die sich in dem System so wohl gefühlt haben, sind fast alle noch da. Immobile oder Aubameyang müssten die Lewandowski-Rolle übernehmen, Aubameyang hat das in dem System beim 3:0 in München schon gemacht. Gündogan statt Jojic auf der Acht. Wäre doch ne Mannschaft, mit der man im Keller nichts verloren hat. Oder warum sollte die so viel schlechter sein als der BVB der letzten Rückrunde?
deadflowers 21. Dezember 2014 um 19:00
Meine die obere Grafik zum Real-Spiel.
em es 24. Januar 2015 um 22:28
Für kevin g noch kampl spielen lassen wäre perfekt
Kirch und gündogan hab ich noch garnicht aufder sechs zusammen gesehen
Die bisherigen spiele deuten das auch nicht
Kirch scheint swlbst nach den vverlezzungen von bender und kehl nur vierter mann auf der sechs zu sein
deadflowers 25. Januar 2015 um 09:18
in den Vorbereitungsspielen hat er kaum ne Rolle gespielt, selsbt nach der Gündogan-Verletzung gestern kam dann Ginter. Dabei gab’s Kirch/Sahin letzte Rückrunde ein paar Mal und hat auch ganz gut funktioniert, wobei das ja eher ein 4-1-4-1 war und keine Doppel-Sechs. Bin gespannt, ob er zu seinen Einsätzten kommt. Fände alles andere sehr schade.
JJF 18. Dezember 2014 um 23:41
Der FCK war im 2010-2011 nicht so schlecht besetzt. Aber ich erinnere mich, wie schlecht Kirch ausgesehen hatte (RV oder Mittelfeld). Ich war immer sauer auf ihn.
In der nächsten Saison war die Truppe katastrophal, aber Kirch ist auch mit untergegangen.
Grabbe 18. Dezember 2014 um 13:26
Soll das eigentlich ein SV-interner Diss sein, dass hier ausgerechnet Illaramendi in der Graphik den Ball verliert?
blub 18. Dezember 2014 um 13:31
Ne, lies den zugehörigen Artikel, der btw großartig ist.
Originalzitat aus dem Artikel, genau zu dieser Graphik:
Der spielstarke Innenverteidiger sagt: „Lass mal die Lücken im Zentrum bespielen.“ Und das 4-3-2-1 sagt: „Das sind gar keine Lücken, lieber Verteidiger. Das sind Pressingfallen. Ach übrigens: Tor!“ (Illarramendis Fehlpass vor dem 2:0)
Grabbe 18. Dezember 2014 um 15:21
Wobei mir dann direkt auffällt, dass der potentielle Link zu ‚Viertelfinal-Rückspiel‘ nicht auf die Spielanalyse, sondern auf den Kirch-Artikel zurückverweist. (Könnte aber auch humorvolle Absicht sein…)
MR 18. Dezember 2014 um 20:28
Nee, nee. Siehe Kommentare unter dem Artikel, da hab ich Illarra auch „verteidigt“. Kann da ja wenig machen.
lueddn 18. Dezember 2014 um 08:13
Oli Kirch hatte mich schon in dem bislang nicht erwähnten letzten Gruppenspiel der CL 2012/13 gegen Man City in deinen Bann gezogen. Dortmund spielte wohl eher mit einer B-Elf und machte ein technisch überragendes Spiel gegen den damaligen englischen Meister!
MrR 17. Dezember 2014 um 21:23
da er erst spät auf hohem niveau spiel, wurde er in seiner jugend nicht so verschlissen wie die heutigen jungen spieler…daher hoffe ich dass er noch 2-3 gute jahre hat
ReepRatio 17. Dezember 2014 um 19:06
Bitte den letzten Halbsatz (ab „da im Fußball …“) des Autors als „sticky note“ über _jeden_ Eurer Artikel stellen:
„Wie wertvoll es ist, diese Fähigkeiten so miteinander zu vereinen, mag vielen nicht klar sein, da im Fußball häufig extrem in vorgefertigten Mustern gedacht wird bzw. wurde.“
Dies trifft vor allem auf „Experten“ und solche, die sich dafür halten (Journalisten, viele Fans), zu und kann nicht oft genug gesagt werden.
DSDD 17. Dezember 2014 um 18:18
Man muss jedoch ehrlich zugeben, dass Kirch als RV zum unterklassigen Niveau angehört. Ich war im Stadion beim Eröffnungsspiel BVB-Werder, dort habe ich ihn zum ersten Mal spielen sehen und er war katastrophal.
nutella 17. Dezember 2014 um 17:48
Also mich würde es freuen wenn ihr die Nutella-Geschichte näher ausführen würdet. 🙂
PW 18. Dezember 2014 um 01:24
Ebenso, egal wie komisch das jetzt klingen mag 🙂
blub 18. Dezember 2014 um 02:32
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen um einen Podcast zu fordern!
PW 18. Dezember 2014 um 17:10
Einen Podcast über Toaster und Nutella!
blub 18. Dezember 2014 um 17:36
Bei dem alle außer TR Nutella-Toast essen.
Weil TR versteht man eh nicht. Weder akustisch noch inhaltlich 😉
TR 18. Dezember 2014 um 19:35
Was soll das denn heißen bitte?
fabi 17. Dezember 2014 um 17:47
Freut mich so sehr, dass Kirch einen Artikel bekommt! Halte wirklich unglaublich viel von ihm, Ende der letzten Saison und in der Vorbereitung war er fast unser bester Spieler. Unglaublich schade, dass er schon 32 ist…Hoffe dass er bald in die Startelf rückt, Oli würde unserem Spiel derzeit einfach nur enorm gut tun.
Jiddah 17. Dezember 2014 um 17:37
#FeartheKirch