Türchen 14: Milan – Juventus 2003

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Als eines von nur vier Landesmeister-Finals in der Geschichte, und als einziges nach der Champions-League-Reform von 1993, endete das rein italienische Duell von 2003 ohne Tore. Genauso lief die Partie auch. Defensivstärke und Defensivorientierung bestimmten das Bild.

Defensives Personal und verhaltenes Aufrücken

Grundformationen

Dieser Akzent begann bereits bei der Personalwahl. Beide Mannschaften liefen in der Viererkette mit zwei Außenverteidiger auf, die beide häufig als Innenverteidiger eingesetzt wurden. Bei Carlo Ancelottis Milan brachte das Vierermittelfeld hohe Ballsicherheit und auch einige robuste Züge mit. Noch ausgeprägter war die Defensivstärke in der Mittelfeldreihe des nominellen 4-4-1-1 von Marcello Lippis Juve: Auf der einen Außenbahn beackerte mit Zambrotta ein Außenverteidiger die Seite und gegenüber der arbeitsame Camoranesi.

Weiter ging die Defensivorientierung im Aufrückverhalten der beiden Teams, die über lange Phasen der Partie nicht allzu viele Spieler nach vorne brachten. Weil Juve ohnehin früh mit weiten Long-Line-Pässen der Außenverteidiger eröffnete, konnten die hinteren Spieler häufig gar nicht schnell genug nachrücken. So blieb meistens nur die Option, mit dem Mittelfeld stabilitätsorientiert auf zweite Bälle zu spielen. Gefährliche gegnerische Konter musste Juve somit kaum fürchten.

Milan blieb ebenfalls stabil und diszipliniert – auch dann, wenn die Duelle um Abpraller im Zuge der Ausweichbewegungen von Juves Zielspieler Trezeguet weiter außen stattfanden. Statt einer Raute, als die die Aufstellung der Mannen von Ancelotti zumeist geführt wird, ließ sich Milan gegen den Ball oft in eine zweite Viererkette fallen, mit Rui Costa und Seedorf als engen Flügeln. Weil es dem artistischen Trezeguet vergleichsweise gut gelang, die gegnerische Kette nach hinten zu drücken, hatte del Piero zumindest punktuell kleinere Freiheiten zwischen den Linien.

Auf der Gegenseite rückte Milan gerade zu Spielbeginn ebenfalls nur zögerlich nach vorne. Fand sich ausnahmsweise einmal einer der Außenverteidiger im vordersten Drittel am Flügel im Ballbesitz, hatte er oft nur die beiden umtriebigen Stürmer Shevchenko und Inzaghi als Anspielstationen, während seine vier Mittelfeldkollegen sich nicht selten sämtlich hinter dem Ball anboten.

Ansätze durch das Mittelfeld von aktiver Rückwärtsarbeit aufgefangen

Über dieses Quartett im Zentrum entwickelte Milan aber letztlich mehr und ambitioniertere Ansätze aus dem defensiven Mittelfeld heraus. Wenn del Piero den ballnächsten Sechser zuzustellen versuchte, wich dieser mit einer kurzen Bewegung nach außen weg und ein Kollege kam daneben als zweiter Spieler dazu. So konnte Milan gegen die insgesamt passiven Turiner kurz vor dem Mittelfeld gut aufdrehen. Ihre Doppelspitze mit vorwiegend horizontalen Bewegungen entlang der Kette schaffte es noch etwas häufiger als Juves 1-1-Rollenverteilung vorne, sämtliche vier Verteidiger zu binden.

Bis weit in die Schlussphase fand Milan immer mal Räume vor dem passiven gegnerischen Mittelfeld: del Piero will Seedorf schließen und muss dafür Gattuso öffnen, den Maldini diagonal bedient. Inzaghi bindet erst die Kette und startet dann nach vorne.

Insgesamt hatte Milan so eine ordentliche Ausgangsbasis, um durch die Mitte zwischen die Linien zu kommen. An der Fortsetzung im Zehnerraum scheiterten die Ansätze aber schließlich zumeist. Orientierung und Aufdrehen waren zu dieser Zeit noch recht unsauber. Letztlich wurden die Momente von einer disziplinierten und sehr aktiven Rückzugsbewegung der Juve-Mittelfeldreihe aufgefangen. Die beiden Flügel zogen sich mit ihrer Laufstärke gemeinsam mit den Sechsern zusammen und stellten dynamisch klare Überzahlen her. Diese Komponente der Defensivarbeit gehörte mit ihrer hohen Umsetzungsqualität zu den sehenswertesten Facetten der Partie.

Kleine Anpassungen bei Juve

Insofern konnte die von Juve-Trainer Lippi vorgenommene Halbzeit-Umstellung primär offensiv motiviert sein, da sie zur weiteren Stabilisierung nicht benötigt wurde. Camoranesi musste den Platz verlassen, Zambrotta wechselte nach rechts und Conte kam als zusätzlicher Zentrumsspieler aufs Feld. Wenn nun vermehrt Davids den linken Flügel füllte, änderte sich nicht so viel zur Situation in Halbzeit eins – nur, dass die defensiven Bewegungen zwischen Halbraum und Flügel eher von innen nach außen gingen als umgekehrt. Übernahm situativ del Piero einmal die linke Seite, verlor Juve mit dem flacheren Dreiermittelfeld noch etwas an Zugriff auf den gegnerischen Sechserraum.

Eine etwaige Offensivsteigerung ging von dem zusätzlichen Mittelfeldspieler ebenso wenig aus, solange das Aufrückverhalten defensiv blieb. Als sich der balllnahe Außenverteidiger und vor allem Conte (in seinem Fall gerade für die Strafraumbesetzung) situativ in höhere Zonen begaben, kamen schließlich Probleme im Ausspielen zum Tragen, die für den damaligen Fußball nicht untypisch waren. Freilaufbewegungen (wie hier von del Piero) erfolgten sehr spontan und kaum auf die größere umgebende Struktur abgestimmt, Passentscheidungen (wie hier von Montero) hauptsächlich auf die kurzfristig erstbeste Anspielstation orientiert und wenig an möglichen Folgeoptionen.

Eine etwas offensivere Situation von Montero, der von Ferrara aus einer Umschaltaktion mit einem guten diagonalen Zuspiel gefunden worden war: Das Ausspielen ist aber noch nicht optimal. Zum einen orientiert sich del Piero vor dem Entgegenkommen nicht und läuft eher den Raum zu. Zum anderen hätte Montero noch weiter andribbeln können, sucht aber dann sehr früh die Freilaufbewegung des Mitspielers, der gegen Gattusos Nachschieben in eine Unterzahl gerät und eher glücklich einen Freistoß zugesprochen erhält.

Späte diagonale Ansätze aus Milans äußeren Halbräumen

Dementsprechend kam Juve auch nach der Pause nicht über einen einzigen Schuss auf das Tor – genauso wie schon in Durchgang eins – hinaus. Milan sammelte über die 120 Minuten letztlich zumindest sechs Versuche, die auf den Kasten gingen, und konnte sich im Laufe der zweiten Halbzeit leicht steigern, begleitet von etwas offensiverem Aufrückverhalten speziell der Außenverteidiger. Flügelangriffe waren gegen Juve ein vielversprechendes und zugleich simples Mittel, weil die Viererkette oft zu früh und zu eng in den Sechzehner zurückwich statt Außen mehr Druck zu machen, in der Strafraumverteidigung selbst wiederum zu flach zum eigenen Tor fiel statt sich zu den beweglichen Stürmern zu orientieren. Auf der Gegenseite deuteten sich in der Boxverteidigung ähnliche Probleme mit Trezeguet an.

Vor allem machte sich gegen Juves situativ offenen linken Flügel die auch mit dem Ball verstärkt 4-2-2-2-artige Rollenverteilung bezahlt. Pirlo und Gattuso bewegten sich vor der Abwehr, während Rui Costa und Seedorf bzw. später Serginho aus den äußeren Halbräumen heraus agierten. Halbrechts kippte Rui Costa in den Raum neben der gegnerischen Defensivformation und hinter seinen Rechtsverteidiger heraus und trieb von dort das Spiel diagonal auf den Block zu.

Fortsetzung der obigen Szene nach Ball von Maldini auf Gattuso. Dieser hatte anschließend auf Roque Júnior fortgesetzt, der wiederum durch Monteros Herausschieben Druck erhielt. Daraufhin kommt die Position Rui Costas außerhalb des Blocks als Rückpassoption zum Tragen: Von dort sucht der Portugiese die diagonale Fortsetzung nach innen zwischen die Linien. Shevchenko zieht den Raum frei, Inzaghi stellt den Körper rein und hält den Ball an der letzten Linie für die (nicht ganz schnell genug) nachstartenden Mittelfeldkollegen.

In der Spitze band sich gerade Inzaghi als Wandspieler für Ablagen ein. Durch die diagonale Anlage war die Fortsetzung in den Zwischenlinienraum für Milan etwas einfacher und für Juve etwas anspruchsvoller zuzuschieben als zuvor. Diese leichte Steigerung ging aber nicht weit genug, um die Partie in regulärer Spielzeit oder Verlängerung entscheiden zu können. So fiel die Entscheidung zugunsten Milans schließlich im Elfmeterschießen.

Fazit

Das torlose Remis im rein italienischen Finale 2003 steht in gewisser Weise symptomatisch für das Ungleichgewicht der Entwicklung, das weite Strecken der 2000er-Jahre im europäischen Spitzenfußball prägte – und oft auch einschränkte. Das Defensivspiel machte bereits mehr und schneller die nächsten Schritte als das Angriffsspiel, welches dementsprechend nicht dagegen ankam. Erst im Laufe der 2010er-Jahre konnten die Offensiven diesen Unterschied wieder vermehrt aufholen und gewannen neue Werkzeuge, um kompaktes, diszipliniertes Verteidigen in Gefahr zu bringen – mit Ballzirkulation als erster Ergänzung zu langen Bällen, Dribblings und Flanken. In diesem Finale 2003 fehlte es davor aber erst einmal an einem ausreichenden Auf- und Nachrücken als Basis.

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